„Die deutschen Korrespondenten berichten nicht über den Brexit, sondern sie produzieren Merkel-Propaganda“, schreibt Daniel Johnson, der ehemalige Deutschlandkorrespondent des britischen Daily Telegraph. Tatsächlich wird uns die Brexit-Geschichte von Journalisten erzählt, die eine ausgeprägte Pro-EU-Haltung vertreten. Aus ihrer Verachtung für die 17,4 Millionen Briten, die für den EU-Austritt stimmten, machen sie keinen Hehl. Die größte Gruppe, die je für etwas in Großbritannien gestimmt hat, wird von ihnen als dumm oder irregeleitet beschimpft. Und das Schauspiel des „Brexit Chaos“, das uns aus dem britischen Unterhaus übermittelt wird, dient ihnen als Bestätigung. Ein Austritt aus der EU führt direkt in die Katastrophe, ist die Botschaft, die uns unablässig vermittelt wird.
In ihrem im März erschienenen Buch, Brexit – Demokratischer Aufbruch in Großbritannien widerspricht Sabine Beppler-Spahl, die Deutschlandkorrespondentin des britischen Online-Magazins spiked, dieser Huldigung der Politik der Alternativlosigkeit: Unabhängig davon, wie es mit dem Brexit weitergehe, stehe das Referendum für einen historischen Moment, denn zum ersten Mal in der Geschichte der EU beschloss die Mehrheit der Bürger, einen echten Politikwechsel einzuleiten. Schon in den Monaten vor dem Referendum sei in Großbritannien die Spannung und die Dynamik eines Wahlkampfes zu spüren gewesen, bei dem es wirklich um etwas ging. Mit Einfühlungsvermögen und historischem Verständnis erkläre die Autorin, was sich auf der Insel abgespielt habe und wie man das in einem europaweiten Zusammenhang verstehen müsse, schreibt Gisela Stuart, die ehemalige Labour-Abgeordnete und Vorsitzende der „Vote Leave“ Kampagne, in ihrem Geleitwort.
Jedes der fünfzehn Kapitel beginnt mit einem einschlägigen Anti-Brexit Argument als Zitat, das der deutschen Presse entnommen wurde und auf seine Stichhaltigkeit überprüft wird. Dazu gehört die Behauptung, in Europa lebe ein gefährlicher Nationalismus wieder auf, der Brexit sei ein Angriff der Alten auf die Jungen – oder der Ausdruck einer speziell englischen Nostalgie. Vor allem widerlegt die Autorin den Mythos der dummen Wähler, die gar nicht wussten, was sie taten, oder sich von Populisten verleiten ließen.
Erklärt wird auch, woher die Angst vor einem sogenannten „harten Brexit“ kommt, und weshalb sich britische Politiker so schwer mit dem Austritt tun. Nicht nur der schnelle Rücktritt des früheren Premiers David Cameron, der das Referendum ermöglicht hatte, sondern auch der verzweifelte Versuch Theresa Mays, es allen Seiten recht zu machen, zeigen, wie wichtig die EU für eine bestimmte Politikerschicht geworden ist. Die Politik, so scheint es, kommt ohne den Schutz der EU, die sie vor dem Druck der Wähler abschirmt, kaum zurecht.
Keine temporäre Launenhaftigkeit der Wähler
Wer über den Brexit schreibt, muss den Blick auch nach Brüssel richten. Die EU ist nach Meinung Beppler-Spahls – entgegen ihrer eigenen Rhetorik – nicht offener und demokratischer, sondern immer rigider geworden. Bei der Lektüre wird deutlich, dass Großbritannien viel weniger eine Ausnahme ist, als oft behauptet wird. Haben nicht auch die Norweger, Schweden, Dänen, Iren, Schweizer und Franzosen bei Volksbefragungen über die europäische Verfassung, den Euro oder den Beitritt zur EU mit „Nein“ gestimmt? Welches Land ist die größere Ausnahme, Großbritannien oder Deutschland, das seinen Bürgern nie ein Referendum ermöglicht hat? Bei der Lektüre wird klar, dass es um viel mehr geht als nur einen Konflikt zwischen Großbritannien und Brüssel. Der Brexit hat aus gutem Grund die EU in ihren Grundfesten erschüttert.
In ihrem Vorwort schreibt Beppler-Spahl, dass sie sich auf Argumente stütze, die sie bei Debatten in Großbritannien mitbekommen habe. Aber auch die Schriften und Reden von frühen Kritikern wie dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, dem SPD-Politiker und Gegenspieler Adenauers Kurt Schumacher (dessen scharfe Kritik am frühen europäischen Einigungsprozess fast vollkommen in Vergessenheit geraten ist), dem Historiker Alan Milward oder dem Labour-Politiker Tony Benn fließen in das Buch mit ein. Die historischen Bezüge zeigen, dass der Konflikt mit der EU keinesfalls neu oder auf eine temporäre Launenhaftigkeit der Wähler zurückzuführen ist.
Der Brexit ist zu einem Ausdruck der tiefen Spaltung unserer Gesellschaften geworden. Die Spannungen sind durch ihn lediglich deutlicher zutage getreten, aber nicht verursacht worden. Als die Briten 1975 zum ersten Mal über ihre Mitgliedschaft in der EG abstimmen durften, sagte der damalige Politiker (und spätere EU-Kommissionspräsident) Roy Jenkins, dass die Menschen auf die gehört hätten, denen sie gewohnt seien zu folgen. Dass dies heute nicht mehr der Fall ist, sieht Beppler-Spahl positiv. Die Kritik an dem Referendum sei nichts anderes als eine Kritik an den Wählern.
Der Brexit ist für die Autorin zu einem Symbol für den Kampf um die Demokratie geworden, in einer Zeit, in der die Politik die Wähler immer weniger zu repräsentieren scheint. Der Brexit soll, allem Anschein nach, ausgesessen werden. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Briten glaubt, ihre Regierung zögere den Brexit absichtlich heraus. Doch die Hoffnung vieler EU-Unterstützer, dass die Konflikte mit der Zeit verschwinden, ist illusorisch. Der Brexit wird uns noch lange begleiten und Beppler-Spahls Buch bleibt aktuell.
Sabine Beppler-Spahl: Brexit – Demokratischer Aufbruch in Großbritannien, Parodos Verlag, Berlin 2019, 154 Seiten, 14,90 Euro.