Kolja Zydatiss / 28.04.2019 / 10:00 / Foto: Hohum / 22 / Seite ausdrucken

Der Brexit als Aufbruch

„Die deutschen Korrespondenten berichten nicht über den Brexit, sondern sie produzieren Merkel-Propaganda“, schreibt Daniel Johnson, der ehemalige Deutschlandkorrespondent des britischen Daily Telegraph. Tatsächlich wird uns die Brexit-Geschichte von Journalisten erzählt, die eine ausgeprägte Pro-EU-Haltung vertreten. Aus ihrer Verachtung für die 17,4 Millionen Briten, die für den EU-Austritt stimmten, machen sie keinen Hehl. Die größte Gruppe, die je für etwas in Großbritannien gestimmt hat, wird von ihnen als dumm oder irregeleitet beschimpft. Und das Schauspiel des „Brexit Chaos“, das uns aus dem britischen Unterhaus übermittelt wird, dient ihnen als Bestätigung. Ein Austritt aus der EU führt direkt in die Katastrophe, ist die Botschaft, die uns unablässig vermittelt wird.

In ihrem im März erschienenen Buch, Brexit – Demokratischer Aufbruch in Großbritannien widerspricht Sabine Beppler-Spahl, die Deutschlandkorrespondentin des britischen Online-Magazins spiked, dieser Huldigung der Politik der Alternativlosigkeit: Unabhängig davon, wie es mit dem Brexit weitergehe, stehe das Referendum für einen historischen Moment, denn zum ersten Mal in der Geschichte der EU beschloss die Mehrheit der Bürger, einen echten Politikwechsel einzuleiten. Schon in den Monaten vor dem Referendum sei in Großbritannien die Spannung und die Dynamik eines Wahlkampfes zu spüren gewesen, bei dem es wirklich um etwas ging. Mit Einfühlungsvermögen und historischem Verständnis erkläre die Autorin, was sich auf der Insel abgespielt habe und wie man das in einem europaweiten Zusammenhang verstehen müsse, schreibt Gisela Stuart, die ehemalige Labour-Abgeordnete und Vorsitzende der „Vote Leave“ Kampagne, in ihrem Geleitwort.

Jedes der fünfzehn Kapitel beginnt mit einem einschlägigen Anti-Brexit Argument als Zitat, das der deutschen Presse entnommen wurde und auf seine Stichhaltigkeit überprüft wird. Dazu gehört die Behauptung, in Europa lebe ein gefährlicher Nationalismus wieder auf, der Brexit sei ein Angriff der Alten auf die Jungen – oder der Ausdruck einer speziell englischen Nostalgie. Vor allem widerlegt die Autorin den Mythos der dummen Wähler, die gar nicht wussten, was sie taten, oder sich von Populisten verleiten ließen.

Erklärt wird auch, woher die Angst vor einem sogenannten „harten Brexit“ kommt, und weshalb sich britische Politiker so schwer mit dem Austritt tun. Nicht nur der schnelle Rücktritt des früheren Premiers David Cameron, der das Referendum ermöglicht hatte, sondern auch der verzweifelte Versuch Theresa Mays, es allen Seiten recht zu machen, zeigen, wie wichtig die EU für eine bestimmte Politikerschicht geworden ist. Die Politik, so scheint es, kommt ohne den Schutz der EU, die sie vor dem Druck der Wähler abschirmt, kaum zurecht.

Keine temporäre Launenhaftigkeit der Wähler

Wer über den Brexit schreibt, muss den Blick auch nach Brüssel richten. Die EU ist nach Meinung Beppler-Spahls – entgegen ihrer eigenen Rhetorik – nicht offener und demokratischer, sondern immer rigider geworden. Bei der Lektüre wird deutlich, dass Großbritannien viel weniger eine Ausnahme ist, als oft behauptet wird. Haben nicht auch die Norweger, Schweden, Dänen, Iren, Schweizer und Franzosen bei Volksbefragungen über die europäische Verfassung, den Euro oder den Beitritt zur EU mit „Nein“ gestimmt? Welches Land ist die größere Ausnahme, Großbritannien oder Deutschland, das seinen Bürgern nie ein Referendum ermöglicht hat? Bei der Lektüre wird klar, dass es um viel mehr geht als nur einen Konflikt zwischen Großbritannien und Brüssel. Der Brexit hat aus gutem Grund die EU in ihren Grundfesten erschüttert.

In ihrem Vorwort schreibt Beppler-Spahl, dass sie sich auf Argumente stütze, die sie bei Debatten in Großbritannien mitbekommen habe. Aber auch die Schriften und Reden von frühen Kritikern wie dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, dem SPD-Politiker und Gegenspieler Adenauers Kurt Schumacher (dessen scharfe Kritik am frühen europäischen Einigungsprozess fast vollkommen in Vergessenheit geraten ist), dem Historiker Alan Milward oder dem Labour-Politiker Tony Benn fließen in das Buch mit ein. Die historischen Bezüge zeigen, dass der Konflikt mit der EU keinesfalls neu oder auf eine temporäre Launenhaftigkeit der Wähler zurückzuführen ist.

Der Brexit ist zu einem Ausdruck der tiefen Spaltung unserer Gesellschaften geworden. Die Spannungen sind durch ihn lediglich deutlicher zutage getreten, aber nicht verursacht worden. Als die Briten 1975 zum ersten Mal über ihre Mitgliedschaft in der EG abstimmen durften, sagte der damalige Politiker (und spätere EU-Kommissionspräsident) Roy Jenkins, dass die Menschen auf die gehört hätten, denen sie gewohnt seien zu folgen. Dass dies heute nicht mehr der Fall ist, sieht Beppler-Spahl positiv. Die Kritik an dem Referendum sei nichts anderes als eine Kritik an den Wählern.

Der Brexit ist für die Autorin zu einem Symbol für den Kampf um die Demokratie geworden, in einer Zeit, in der die Politik die Wähler immer weniger zu repräsentieren scheint. Der Brexit soll, allem Anschein nach, ausgesessen werden. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Briten glaubt, ihre Regierung zögere den Brexit absichtlich heraus. Doch die Hoffnung vieler EU-Unterstützer, dass die Konflikte mit der Zeit verschwinden, ist illusorisch. Der Brexit wird uns noch lange begleiten und Beppler-Spahls Buch bleibt aktuell.

Sabine Beppler-Spahl: Brexit – Demokratischer Aufbruch in Großbritannien, Parodos Verlag, Berlin 2019, 154 Seiten, 14,90 Euro.

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Harald Drings / 28.04.2019

Nein, der Brexit ist KEIN Sieg für die direkte Demokratie, unter anderem weil er KEINE Entscheidung für einen Politikwechsel ist. Die Bürger der EU, besonders die Briten, hätten schon immer ihren Spaß den Verantwortlichen in Brüssel das Leben schwer zu machen, aber wirklich konstruktive Verbesserungsvorschläge gab es nicht. Großbritannien wollte sich schon immer die Rosinen rauspicken, also eher ein Strategiewechsel als andere Ziele. Demokratie wäre ein Parlament das tatsächlich Befugnisse hat UND einen Wirtschaftsblock repräsentiert, der als Global Player agieren kann. Mal Hand aufs Herz: Wenn ihr Trump oder Putin wärt, wen würdet ihr ernster nehmen: Eine geeinte EU oder Theresa May allein???

Dr. Gerhard Giesemann / 28.04.2019

Ulv, bin froh, dass ich doch nicht der Einzige bin, der so tickt. Das Ergebnis des Ref. war eine Überraschung, keiner hat mit “yes” gerechnet und jetzt haben wir alle den Salat seit Jahr und Tag. Die Jungen, die nicht zur Abstimmung gegangen sind, waren zu dröge, um zu begreifen, was da auf dem Spiel steht, haben lieber in ihre saublöden “handys” geglotzt.  Und die Alten, die den denkbar knappen Ausschlag zum Yes gegeben haben, waren die mit dem Phantomschmerz wegen des verlorenen British Empire. Das, was davon übrig ist als Commonwealth, alte Kontakte geht und ging ja nicht verloren, zu keinem Zeitpunkt. Die allgemeine Anti-Stimmung gegen EU irritiert mich so sehr wie dich - bei aller sehr berechtigten Kritik daran. Am 26. Mai ist eine Chance, der Islamisierung eine Absage zu erteilen - DAS Problem, das wir haben, der Rest ist peanuts.

Dr. Gerhard Giesemann / 28.04.2019

@Dr. Roland Mock: Aus Umfragen. Und von meinen vier englischen Vettern, die alle entsetzt waren und sind über das Referendum - natürlich sind die nicht repräsentativ, klar. Denke (und hoffe immer noch), , es wird ein zweites R. geben, dann mit “no”. Ökonomisch gibt es nichts Dümmeres als sich aus dem größten und innovativsten Binnenmarkt weltweit, direkt vor der eigene Haustür heraus zu katapultieren. In London weiß man das. Und bei allem Respekt: Soo schlimm ist EU nun auch wieder nicht. Es ist immer noch das Beste, was uns passieren konnte seit Ende des Dreißigjährigen 2.0 von 1914 bis 1945.

Dr. Roland Mock / 28.04.2019

@ Dr. Giesemann: Ihre Behauptung, es gebe „keine guten Gründe“ für den Brexit, halte ich für gewagt angesichts der Tatsache, daß über die Hälfte der britischen Wähler ja genau für diesen Brexit gestimmt hat. Ihre Behauptung, daß auch die Nichtwähler gegen den Brexit waren, halte ich für nicht weniger abenteuerlich. Woher wissen Sie das denn? Und warum haben die dann nicht gewählt? Ich bin der Auffassung des Autors, daß den Briten nichts besseres passieren konnte, als die durch Politiker wie Juncker, Merkel und Macron dominierte EU loszuwerden. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Und ich bin der Auffassung, daß sich die britische Wirtschaft auf lange Sicht besser entwickeln wird als die durch faule Kredite, EU-Kommissarinnen mit Kernkompetenz „Feminismus“ sowie dem Griff Frankreichs und der Südstaaten nach deutschen Bankeinlagen kontaminierte Eurozone.

Juergen Suess / 28.04.2019

Auch in mir ist längst die Überzeugung gereift, dass GB mittel- und langfristig eher vom EU-Austritt profitieren wird. Wenn man einmal die Vor- mit den Nachteilen vergleicht, wird das deutlich. Durch den Austritt können die Briten völlig unabhängig und frei u.a. über ihre Wirtschafts-, Finanz- und Handelspolitik entscheiden. So können sie beispielsweise sofort ein Freihandelsabkommen mit den USA, mithin der weltweit wichtigste Binnenmarkt, aushandeln, wozu die EU jahrelang im Rahmen der TTIP-Verhandlungen in keiner Weise im Stande war; Trump hat dazu bereits Zustimmung signalisiert. Andere dürften schnell folgen - eine stärkere Anbindung an frühere Commonwealth-Staaten wie z.B. Kanada, Südafrika, Australien, Neuseeland, Indien bietet sich hier förmlich an. Und vor allem kann GB frei darüber entscheiden, wen sie unter welchen Voraussetzungen ins Land lassen und wen nicht, wozu man in der EU u.a. aufgrund der “Freizügigkeitsregelung” und den damit einhergehenden offenen Grenzen nicht mehr in der Lage ist. Was ich in den Medien als Argument noch überhaupt nicht gehört habe, aber offensichtlich ist: Die Briten überweisen jährlich ca. 12 Mrd. Euro an Brüssel. Diese fallen ersatzlos weg und können anderweitig im Land investiert werden - damit kann man viel anfangen und das Jahr für Jahr. Wenn das aktuelle Austritts-Chaos, das lediglich auf die Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Form, Art und Weise des Austritts zurückzuführen ist, endet, sehe ich ehrlich gestanden keinen einzigen Grund, warum GB nicht aufblühen sollte. Die Briten sind ein altes Seefahrervolk, das sich von einer starken Böe nicht gleich umwerfen lässt. Nachteil des Austritts ist, dass die Briten nicht mehr direkt am EU-Binnenmarkt partizipieren können - das ist aber auch nicht nötig, da sich Zölle durch ein Freihandelsabkommen vermeiden lassen. Nein, die Briten werden keinen großen Schaden davon tragen. Ich fürchte, es wird eher zu einer weiteren Destabilisierung und enormen Schwächung der EU führen.

Wolfgang Richter / 28.04.2019

Wenn es noch aktuell ist, wie vor Wochen zu lesen war, die Wirtschaft in GB sei erheblich stärker gewachsen als im EU-Raum (wobei ich die Zahlen nicht mehr präsent habe) , so spricht das doch für jeden erkennbar gegen die Horrorszenarien, die bezüglich Austritt aus dem Eurokratenraum von den dortigen Strippenziehern behauptet werden.

U. Langer / 28.04.2019

Die Argumente der Brexitgegner hier bei der Achse sagen alles: - Es “gibt keine guten Gründe für den Brexit” - die Wähler waren also doch zu dumm? - “die Mehrheit der Briten weiß das ... sind bloß nicht abstimmen gegangen” Gab es gerade Fußball oder hat Herr Giesemann nur noch nicht begriffen, wie Demokratie funktioniert? - “Der Brexit ist ein Unglück für Europa” - oh da kann Jemand in die Zukunft sehen - Handlinien von Frau Merkel gelesen? Oder verwechselt man hier nur “Europa” mit “EU”? - “die Eu ... reformieren” - hätten die Ostdeutschen auch besser die Volkskammer reformieren sollen? - “Wir in Dänemark haben mit dem Brexit einen guten Freund und Verbündeten verloren” - Ist Norwegen ein Feind Dänemarks - da nicht in der EU? - “die entscheidenden Prozente ... (gehen) auf das Konto der Übermutter Merkel” - Die oft unsinnige und demokratiefeindliche Politik der Eu kann ja nicht der Grund gewesen sein - da es nicht der Grund gewesen sein darf? Aber es kommen bestimmt “noch schlauere” Argumente - da bin ich mir sicher!

Helmut Driesel / 28.04.2019

Sperren Sie zweihundert Juristen, Politiker und Sozialexperten bei guter Versorgung in einen großen Saal ein mit dem Auftrag, die Gesetzbücher aller Mitgliedsstaaten weitgehend zu vereinheitlichen. Sie werden nach wenigen Monaten das Resultat bekommen: Unmöglich!

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