Das Prüfverfahren wegen extremistischer Tendenzen in der Thüringer AfD hat offenbar im Landesamt für Verfassungsschutz zu starken internen Konflikten geführt. Laut einem Bericht der „Thüringer Allgemeinen“ hat damalige Referatsleiter für Rechtsextremismus im Januar in einer internen E-Mail schwere Vorwürfe gegen den Thüringer Verfassungsschutz-Präsidenten Stephan Kramer erhoben. Diese E-Mail sei nun, im Kontext des Landtagswahlkampfs und der laufenden Verfassungsklage der Thüringer AfD gegen Kramer und den Thüringer Innenminister Georg Maier (SPD), an die Medien durchgestochen worden. Inzwischen soll der Bedienstete versetzt worden sein.
In der E-Mail, die in Ausschnitten auf dem Twitter-Account des AfD-Politikers Torben Braga einsehbar ist, geht es unter anderem um den bewussten Ausschluss des Referats Rechtsextremismus bei der Prüfung einzelner AfD-bezogener Sachverhalte. So sei bei der Prüfung einer Rede des AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke im Januar 2017 nicht das Referat Rechtsextremismus, sondern ausschließlich die Stabsstelle Controlling, beauftragt worden. In einer internen E-Mail vom 25. Juni 2018, mit der Kramer den Prüffall gegen die AfD eingeleitet habe, habe dieser sogar ausdrücklich eine Einbindung des Referats Rechtsextremismus untersagt.
Auch die öffentlichkeitswirksame Verkündung des „Prüffalls AfD“ im September 2018 soll entgegen der ausdrücklichen Empfehlung sowohl des Referats Rechtsextremismus als auch des Controllings erfolgt sein. Im Rahmen der betreffenden Pressekonferenz habe Kramer auf „falsche und ungenaue Informationen“ zurückgegriffen. So habe der Verfassungsschutz-Präsident in Bezug auf eine Veranstaltung von „Pro Chemnitz“ entgegen der Erkenntnisse des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) sowie des Sächsischen Verfassungsschutzes behauptet, es hätten 2500 Rechtsextremisten teilgenommen.
Außerdem habe Kramer eine fragwürdige Behauptung aus einer „linksextremistischen Zeitschrift“ wiedergegeben. Nach Angaben der „BILD“-Zeitung, die am 22. September 2018 über die Pressekonferenz berichtete, soll es sich dabei um die anarchistische Zeitschrift „Graswurzelrevolution“ gehandelt haben, die zeitweise selbst vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Kramer habe viereinhalb Minuten lang wörtlich aus einem Artikel des Soziologen Andreas Kemper in dieser Publikation zitiert, ohne jedoch den Autor oder die Quelle zu nennen. Nach Angaben der „Thüringer Allgemeinen“ hat ein Sprecher von Innenminister Maier auf Anfrage die Echtheit der E-Mail des ehemaligen Referatsleiters Rechtsextremismus bestätigt. Sie gebe „die persönliche Auffassung eines einzelnen Mitarbeiters“ wieder.
Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz war vor einem ersten Jahr die erste Verfassungsschutz-Behörde, die eine Prüfung gegen die AfD öffentlich ankündigte. Anfang 2019 erklärte auch das BfV die Bundespartei zum „Prüffall“. Seit einem Urteil des Verwaltungsgerichts Köln im Februar 2019, das die AfD erwirkte, darf das Bundesamt diese Bezeichnung jedoch nicht mehr öffentlich verwenden. Eine Partei kann zum Prüffall werden, wenn die Behörden erste Anzeichen für extremistische Bestrebungen erkennen. Im Gegensatz zu einem „Verdachtsfall“, bei dem auch der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel möglich ist, dürfen bei einem Prüffall nur öffentlich zugängliche Quellen ausgewertet werden.
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof in Weimar befasst sich zurzeit mit zwei Klagen der AfD gegen den Verfassungsschutz-Präsidenten Kramer und den Thüringer Innenminister Maier. Darin geht es um die oben erwähnte öffentliche Bezeichnung der Thüringer AfD als Prüffall, sowie um ein Interview, das Kramer im vergangenen Oktober dem „Spiegel“ gab. Die AfD betrachtet den Beitrag – der unmittelbar vor dem Thüringer AfD-Listenparteitag erschien – als Verstoß gegen die Neutralitätspflicht.
Nach Angaben der „Thüringer Allgemeinen“ haben Vertreter der Landesregierung erhebliche Zweifel geäußert, ob das Verfassungsgericht in dieser Sache überhaupt zuständig sei. Die AfD habe inzwischen parallel zum Verfahren vor dem Verfassungsgericht eine Klage gegen Kramer und Maier beim Verwaltungsgericht in Weimar eingereicht. Mit einem Urteil des Verfassungsgerichtshofs sei am 20. November zu rechnen, also einige Wochen nach der Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober.
Als Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes ist Stephan Kramer ein beruflicher Quereinsteiger. Bis 2014 arbeitete der studierte Sozialpädagoge als Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland und Leiter des Berliner Büros des European Jewish Congress. 2009 sorgte Kramer für Aufmerksamkeit, als er Aussagen des Autors und ehemaligen SPD-Politikers Thilo Sarrazin in die Nähe des Gedankenguts von Hermann Göring, Joseph Goebbels und Adolf Hitler rückte. Kramer ist Mitglied des Stiftungsrates der umstrittenen Amadeu-Antonio-Stiftung.