Thomas Rietzschel / 27.11.2017 / 10:47 / Foto: Thomas Riehle / 13 / Seite ausdrucken

Schwere Dampfer sinken langsam, auch Angela Merkel

Es geht ja auch so: von hinten durch die kalte Küche. Die SPD muss keineswegs umfallen, um weiter an der Macht zu bleiben. Auf die Groko, die Große Koalition, von der die Genossen nie, nie wieder etwas wissen wollten, können sie getrost pfeifen. Während die einst so fröhlich vor sich hin sondierenden Jamaikaner nun in der Patsche ihres Hochmuts sitzen, haben die Sozialdemokraten plötzlich wieder festen Boden unter den Füßen.

Gelassen dürfen sie zuschauen, wie Angela Merkel vom Strudel ihrer eigenen Politik nach unten gezogen wird. So wie der Kanzlerin das Wasser bis zum Hals steht, kann sie nur noch um Gnade bei denen bitten, die sie bisher an der Leine führte.

Will sie ihren Posten wenigstens dem Anschein nach weiterhin ausfüllen, wird sie fortan selbst bei Fuß gehen müssen. Wie die „mächtigste Frau der Welt“ diese Niederlage verkraftet, bleibt abzuwarten. Ausweichen kann sie der Demütigung mitnichten. Zwar hat ihre Partei im Verbund mit der CSU trotz aller Verluste die Wahl noch einmal gewonnen.

Die Letzten werden die Ersten sein

Doch was nützen 246 von den 709 Sitzen des Bundestag, solange diejenigen, die noch schlechter abschnitten, dem angeschlagenen Sieger nicht beispringen wollen. Wahrhaft eine Ironie der Geschichte; ein politisches Exempel auf das Bibelwort, demzufolge die Letzten die Ersten sein werden. Vorausgesetzt, sie sind klug genug, ihre Chance zu erkennen und die Gunst der Stunde zu nutzten. Viel bedarf es dazu nicht.

Statt abermals in eine Groko einzutreten, müssten sich die Sozialdemokraten lediglich bereit erklären, eine Merkel-geführte Minderheitsregierung zu tolerieren. Damit hätten sie die Kanzlerin am Haken. Unverhofft kämen sie in die Lage, ihr die Agenda zu diktieren. Hinterlistig wäre der gordische Knoten der Parteien-Verstrickung durchschlagen. Die einen dürften sich einbilden, weiterhin zu regieren, während sich die anderen sehr viel realistischer in der Gewissheit wiegen könnten, dass ohne sie gar nichts geht.

Um nicht durchzufallen, müsste sich die Regierung bei allen Vorhaben, die der Zustimmung des Parlaments bedürfen, unterwürfig präsentieren, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem tolerierenden Mitspieler. Gleich, ob es um die Einbringung des Haushals oder die Vorlage neuer Gesetze geht.

Ersatz für den Koalitionsvertrag

Auch müssten ihre Parteisoldaten manchem zustimmen, wovon sie sonst Abstand genommen hätten, in der Sozial- und der Flüchtlings- sowie in der Finanzpolitik. Das mündlich verabredete Toleranzedikt würde den bindenden Koalitionsvertrag ersetzen, der politische Kuhhandel vom Kabinettstisch in die Hinterzimmer des Bundestages verlegt.

Theoretisch könnten natürlich auch die übrigen Oppositionsparteien der Regierung von Fall zu Fall beispringen, um die SPD mit der einen oder anderen Ablehnung alt aussehen zu lassen. Praktisch indes wird das kaum möglich sein. Erstens sind sich zwei der parlamentarisch vertretenen Parteien, FDP (80 Stimmen) und Grüne (67 Stimmen), spinnefeind. Zweitens mögen sich die Linken (69 Stimmen) nicht in ein Boot mit den Liberalen setzen. Und drittens schließlich wollen alle zusammen nichts mit der AfD (92 Stimmen) zu tun haben.

Unterm Strich ein zersplitterter Haufen, dem die SPD mit 153 Stimmen gegenüber steht. Wer was damit ausrichten kann, lässt sich leicht errechnen. Auf der Hand liegt, dass CDU/CSU ohne die Zustimmung der SPD verloren wäre, indes es sich die SPD leisten kann, eine christlich-sozialdemokratische Regierung mit Angela Merkel als Frühstücksdirektorin zu tolerieren: Macht von hinten durch die kalte Küche auszuüben.

Was das nach sich zieht, werden wir noch teuer genug zu spüren bekommen. Schwere Dampfer sinken langsam. Angela Merkel macht da keine Ausnahme.

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Klaus Wenzel / 27.11.2017

Ach, die SPD. Im Zweifel immer für “staatspolitische Verantwortung” zu haben. Leichtmatrose Schulz wird sich schon einrichten, irgendwie. Anfang letzter Woche noch strikter Gegner einer neuen Groko, Ende der Woche schon wieder das Fähnchen im Wind. Immerhin können sozialdemokratische “Herzensanliegen” nun wieder durchgesetzt werden, also das vermutete Wahlklientel weiter bedient werden zu Lasten nachfolgender Generationen. Eine Tolerierung könnte Merkel natürlich deutlicher am Haken zappeln lassen, aber dafür wäre sowohl Mut als auch Geschick von Seiten der SPD vonnöten und beides ist wohl nicht im Übermaß vorhanden. Zudem sind die Wahlaussichten mit Herrn Schulz eher trübe und der Mann ist aus Brüssel gekommen, um zu bleiben. Am meisten irritiert aber doch, dass Angela Merkels weiterer Anspruch auf die Kanzlerschaft in der deutschen Öffentlichkeit anscheinend widerspruchslos hingenommen wird. Das Wahlergebnis der CDU war ja nicht gerade berauschend und wirkliche Stabilität verkörpert Frau Merkel auch nur in Persona, nicht in der Sache. Zudem führten ihre Sondierungen zum bekannten Ergebnis und sie kann keine Regierung bilden. Ein Novum in unserem Land. Sie weiß wahrscheinlich heute noch nicht, welches Programm sie als Kanzlerin der nächsten Groko als “großen Wurf” präsentieren wird. Ist aber eigentlich auch egal. Mit KGE und “Cem” wäre es ein eher grünes Regierungsprogramm geworden, mit Herrn Schulz wird es halt ein anderes, Geld genug ist ja da.

Mari Weber / 27.11.2017

Eine andere stabile Alternative - Neuwahlen ohne Merkel und CDU kann mit einem beliebigen Partner stabil regieren. Die Mutti wird es aber zu verhindern wissen. Mari Weber

Anders Dairie / 27.11.2017

Volle Zustimmung, Herr Rietzschel !  Damit hielte Herr Schulz sogar seine Erzkonkurrenten, Olaf Scholz und Frau Nahles, auf Armlänge Abstand.  Und die Jusos wären ins Leere gelaufen.  Sie hatten nämlich, weil doch etwas dämlich, diese Fall-Lösung auf ihrem Kongress nicht auf dem Zettel.  Deren Protagonisten kennen dieses Modell offenbar nicht.  Wenn sogar zwischen der CDU und den Linken, wie einst in Sachsen-Anhalt, noch nahe am DDR-Unrecht,  das Duldungsmodell funktionierte, klappt dies auch im Bund.  Frau Merkel muss dann selbst die Kieselsteine der Widersprüche rund schleifen.  Während die SPD auf der Dachterrasse des Reichstages frühstückt.

B.Rilling / 27.11.2017

Es wäre ein Ende mit Schrecken. Ist aber allemal besser, als ein Schrecken ohne Ende, wie es Jamaika gewesen wäre.

Wilfried Paffedorf / 27.11.2017

Tja, eine Minderheitsregierung zu tolerieren bedeutet für die “Toleranten” eben auch, dass sie keine lukrativen Regierungsämter erringen, dass sie ihre Seilschaften nicht in die Ministerien einschleusen können, um sie für “treue Dienste” zu belohnen.

N. Müller / 27.11.2017

Der Text weißt doch mindestens einen Denkfehler auf. Auch wenn die anderen Parteien nichts mit der AfD zu tun haben willen, hat diese doch bereits gezeigt, dass sie inhaltlich abstimmt und dagegen können die schon länger Regierenden nichts machen. Die AfD könnte und würde die SPD das ein oder andere mal alt aussehen lassen,und das ist einer der Gründe warum es meines Erachtens nach doch zur GroKo kommen wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die SPD und CDU bei Neuwahlen garantiert weiter abstürzen, dann hätte es sich entgültig mit Merkel. Etwas, was auch nicht im Sinne der SPD wäre, schließlich ist diese ebenso erpicht Macrons “EU-Reform” umzusetzen.

Cornelia Gilsbach / 27.11.2017

Ich könnte mir denken, daß die SPD es genau darauf anlegt. So dämlich können die doch gar nicht sein, daß die Merkels Zwickmühle nicht zu ihren Gunsten ausnutzen. Vae Victis, Frau Merkel. Wehe den Besiegten. Eine Wahlniederlage, und jetzt der langsame, qualvolle Niedergang. Das passiert, wenn man den richtigen Zeitpunkt zum Abgang verpaßt. Das wird nicht schön mitanzusehen.

Helge-Rainer Decke / 27.11.2017

Es muss „.... kämen sie in die Lage…. und nicht „in der Lage“ heißen.☝️

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