Von Olof Brunninge.
„Schwedisches Militär soll Bandengewalt bekämpfen”, titelte kürzlich die Tagesschau, nachdem Ministerpräsident Kristersson in einer Rede an die Nation ein hartes Durchgreifen gegen kriminelle Banden angekündigt hatte. Rollen jetzt Schützenpanzer durch Stockholms Problemvororte? Ist man in Schweden noch seines Lebens sicher? Und wie konnte es so weit kommen?
Seit Jahren wird Schweden von eskalierender Bandengewalt heimgesucht. Die Gangs rekrutieren ihre Mitglieder in den migrantisch geprägten Milieus der Vorstädte. Für Zusammenhalt sorgen oft Verwandschaftsbeziehungen. Zum Teil handelt es sich um Zweige derselben Clans aus dem Nahen Osten, die auch in deutschen Großstädten das organisierte Verbrechen in der Hand halten. Bei Clan-Krawallen 2021 in Göteborg und Lund baten die Gangs bei der deutschen Verwandtschaft um Verstärkung. Dank einer Warnung des BKA konnte die schwedische Polizei die anreisenden Clanmitglieder schon bei der Einreise stoppen. Was die Situation in Schweden besonders macht, ist auch nicht die organisierte Kriminalität an sich. Es ist die Gewaltbereitschaft der Gangster, die immer wieder gezielt Mitglieder rivalisierender Gangs ermorden oder durch Bombenanschläge einzuschüchtern versuchen. Dabei kommen auch häufig militärische Waffen wie Sturmgewehre und Handgranaten zum Einsatz, die oft aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen.
In den Jahren 2007 bis 2012 kamen jährlich etwa 20 Personen in Schweden durch Schusswaffengewalt ums Leben. 2021 waren es schon 46. Im Jahr 2022 gab es einen Sprung auf 62. Dieses Jahr gibt es bis zum 28. September bisher 44 Todesopfer. Die Mordwelle im September mit bisher 12 Toten veranlasste dann den liberalen Ministerpräsidenten Kristersson zu seiner Rede an die Nation, in der er auch einen Militäreinsatz ins Spiel brachte. Nun geht es zunächst nicht darum, dass Soldaten mit der Waffe in der Hand auf Verbrecherjagd gehen sollen. Vielmehr soll das Militär die Polizei bei der Untersuchung von Sprengstoffen und mit Analysekompetenz unterstützen. Auch wenn die Hubschrauberkapazität der Polizei nicht ausreicht, soll das Militär aushelfen.
Mittelfristig plant Kristersson auch Gesetzesänderungen. Dann könnten Soldaten womöglich Überwachungsaufgaben der Polizei übernehmen, damit die sich um die Gangs kümmern kann. Vor allem hat der Militäreinsatz symbolische Bedeutung. Die Regierung signalisiert, dass sie keine Mittel scheut, um der Bandengewalt Herr zu werden. Grundsätzlich sind nämlich Militäreinsätze im Inneren in Schweden ein genauso heißes Eisen wie in Deutschland. 1931 wurden in der Gemeinde Ådalen fünf streikende Arbeiter von Soldaten erschossen, die unter dem Befehl eines Polizisten standen. Die Schüsse von Ådalen haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Schweden eingeprägt. Wenn die Regierung also trotzdem die Militärkarte zieht, hat das Signalwirkung.
Zusammenhang von Migration und Kriminalität
Wichtiger als das Militär sind wahrscheinlich die anderen Maßnahmen, die die Regierung ergreifen will. Sicherungsverwahrung soll dafür sorgen, dass gefährliche Verbrecher nach Absitzen ihrer Strafe nicht freikommen. Lauschangriffe und Leibesvisitationen sollen erleichtert werden. Kristersson plant mehr Überwachungskameras, auch mit Gesichtserkennungstechnik, einzusetzen. Das sind natürlich alles Eingriffe in die persönliche Integrität, die auch vom Staat missbraucht werden können. Allerdings ist die allgemeine Sorge über die jüngste Mordwelle in Schweden so groß, dass die Regierung mit einer breiten Unterstützung für ihre Vorhaben rechnen kann. Abscheu erweckt nicht zuletzt, dass immer öfter Kinder und Jugendliche in die Gewalt verstrickt und selbst zu Opfern werden. Junge Menschen sind für die Kriminellen leicht zu beeinflussen. Aufgrund des bisher milden schwedischen Jugendstrafrechts werden sie gerne für Straftaten bis hin zum Mord eingesetzt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Bandenmitglieder nicht-strafmündige Kinder als Waffenkuriere einsetzten. Selbst ein Neunjähriger wurde schon von der Polizei in einem Taxi mit einer Glock-Pistole aufgegriffen.
Ein heißes Eisen in der schwedischen Kriminalitätsdebatte ist nach wie vor die Migrationsfrage. Journalisten, die die Zusammensetzung von Banden untersucht haben, kamen auf Werte von 93 Prozent beziehungsweise 94 Prozent mit Migrationshintergrund (mindestens ein im Ausland geborener Elternteil). Das sind Fallstudien einzelner Banden und keine repräsentativen Zahlen, aber die Zeitung Dagens Nyheter kam 2017 auf einen Anteil von 90 Prozent bei Tätern und Tatverdächtigen im Zusammenhang mit Schusswaffenmorden und Mordversuchen. In der Politik war es lange umstritten, Bandenkriminalität und Migration miteinander in Verbindung zu bringen.
Auch bürgerliche Politiker schreckten vor dem Thema zurück, Fredrik Reinfeldt, Parteifreund von Kristersson und 2006 bis 2014 Ministerpräsident für die liberalen Moderaten, erleichterte unter seiner Amtszeit die Einwanderung. Noch 2018, als Vorsitzender einer Sicherheitskommission der Versicherungswirtschaft, wich Reinfeldt Fragen nach der Migration aus. Für die Sicherheit der Menschen sei es egal, wer die Verbrechen ausführe. So liegt der Unwille der etablierten Parteien, den Zusammenhang von Migration und Kriminalität anzuerkennen, auch hinter dem Erfolg der Schwedendemokraten. Die Partei hat seit ihrem Einzug in den Reichstag 2010 ihren Stimmenanteil fast vervierfacht und punktet im Kern mit Migrationskritik und Law-and-Order-Fragen. Seit letztem Herbst tolerieren die Schwedendemokraten Kristerssons Dreiparteienkoalition aus zwei liberalen Parteien (Moderate und Liberale) und den Christdemokraten.
So wundert es nicht, dass Migration und Kriminalitätsbekämpfung auf der Agenda der Regierung ganz oben stehen. Schweden sei mit der Integration der Einwanderer nicht nachgekommen. Nun müsse erst einmal die Einwanderung gesenkt werden, sagt Migrationsministerin Maria Malmer-Stenergard. Im Dezember kündigte sie zusammen mit Henrik Vinge, dem migrationspolitischen Sprecher der Schwedendemokraten, einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik an. Es soll leichter werden, Aufenthaltsgenehmigungen bei Missbrauch zu widerrufen. Die Einwanderung von Angehörigen wird erschwert. Während des Asylverfahrens sollen Asylbewerber in speziellen Zentren untergebracht werden. Die Regierung hofft, dass eine Atempause bei der Einwanderung Zeit für die Integration der Migranten schafft, die schon im Land sind. Die unmittelbaren Auswirkungen der neuen Migrationspolitik auf den Bandenkrieg dürften gering sein. Die meisten Gangmitglieder haben die schwedische Staatsangehörigkeit. Viele sind im Land geboren.
Restriktivere Einwanderungspolitik
Wie beeinflusst die Bandenkriminalität nun den Alltag in Schweden? Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Für mich persönlich hat sich unmittelbar überhaupt nichts verändert, und ich bin sicher kein Einzelfall. Wer als Tourist nach Schweden kommt, wird vermutlich nichts von den Gangs mitbekommen und sich im Zentrum von Stockholm nicht mehr oder weniger sicher fühlen als in Hamburg oder München. Bisher war die Bandengewalt in erster Linie ein Problem von Vororten mit hohem Migrantenanteil. Auch haben die Killer es in der Regel auf Mitglieder rivalisierender Banden abgesehen. Wer also nicht selbst kriminell ist oder kriminelle Verwandte hat, ist nicht unmittelbar Zielscheibe.
Die Beschwichtiger in der Kriminalitätsdebatte machen sich das zunutze. So sagte der sozialdemokratische Justizminister Morgan Johansson 2018, das Risiko, als Unschuldiger Opfer der Bandenkriminalität zu werden, sei gering. Noch 2021 schrieb der Schriftsteller Jan Guillou in einer Zeitungskolumne, das Bandenproblem sei von rechten Politikern aufgebauscht und die Gefahr, sich beim Ausrutschen in der Badewanne den Hals zu brechen, sei größer, als unschuldig Opfer einer Schießerei zu werden.
In letzter Zeit kommt es aber immer wieder zu Fällen, wo Unbeteiligte Opfer eines Bandenmordes werden. Manche sind zufällig bei einer Schießerei im Wege, wie ein blinder, älterer Mann, der am 21. September in einer Kneipe in der Stadt Sandviken getötet wurde. Andere fallen einer Verwechslung zum Opfer, wie ein 25-Jähriger, aus Afrika stammender Pflegedienstmitarbeiter, der auf dem Weg zur Arbeit einen Kopfschuss erlitt. Auch gibt es inzwischen immer wieder Sprengstoffanschläge und Schießereien außerhalb der ausgesprochenen Problemviertel. Wie viele Schweden habe ich den Eindruck, dass die Einschläge des Bandenkrieges näher kommen. In dem McDonald’s-Restaurant, vor dem 2020 die 12-jährige Adriana erschossen wurde, als sie mit ihrem Hund Gassi ging, habe ich mit meiner Familie schon gegessen. Einen Steinwurf vom Bürofenster meines früheren Arbeitsplatzes in Borås entfernt wurde 2020 ein 25-jähriger Mann aus einem Hinterhalt heraus erschossen. In der Stadt, wo unser ältester Sohn auf die Oberstufe ging, wurde ein im Zentrum gelegener Friseursalon 2021 Schauplatz eines Mordversuchs. Ein 17-jähriger Killer versuchte, einen Kunden zu ermorden, schoss aber versehentlich dem Friseur ins Bein.
Die Regierung Kristersson wird liefern müssen, wenn sie 2026 wiedergewählt werden will. Schon die sozialdemokratische Vorgängerregierung hatte versucht, mit Strafrechtsverschärfungen und einer restriktiveren Migrationspolitik etwas gegen Bandengewalt und Integrationsprobleme in den Vororten zu tun. Selbst bei einem erneuten Regierungswechsel in drei Jahren wird die sehr liberale schwedische Migrationspolitik nicht zurückkehren. Derweil hoffen die Schweden, darunter auch viele gut integrierte Migranten aus aller Welt, dass das nächste Jahr eine Wende bei den Opferzahlen der Bandengewalt bringt.
Kann Deutschland etwas von der Situation in Schweden lernen? Die Diskussionen zur Clan-Kriminalität, die ich in deutschen Medien verfolge, erinnern mich sehr an die Debatte in Schweden vor einigen Jahren. Sie ist geprägt von einer teilweisen Leugnung der Probleme, insbesondere in Verbindung mit Migration und Integration. Wer das Wort Clan in den Mund nimmt, wird als Rassist beschimpft. Die Aufnahmebereitschaft für neue Migranten scheint bei vielen deutschen Politikern noch unbegrenzt zu sein, obwohl das Land es nicht schafft, die Einwanderer zu integrieren, die schon da sind. Schweden hat wertvolle Jahre mit ähnlichen Debatten verloren. Ich hoffe, dass Deutschland zu einer nachhaltigen Migrationspolitik findet, bevor Leidensdruck das Land zum Umdenken zwingt.
Olof Brunninge ist als Sohn eines schwedischen Vaters und einer deutschen Mutter in Ostwestfalen aufgewachsen. Seit 1994 lebt er in Schweden. Er arbeitet als Associate Professor in Betriebswirtschaftslehre an einer schwedischen Hochschule.