Die Regierungserklärung des Kanzlers zur eigenen Regierungskrise inklusive folgender Bundestagsdebatte geriet zum Schmierenstück. Ganz vorn mit dabei: Friedrich Merz mit einer tollen Demokratie-Idee.
Die meisten Medien kündigten für den Mittwochnachmittag im Bundestag großes Theater an. Der Bundeskanzler würde eine kämpferische Rede halten, hieß es. Entsprechend deutlich sollte Friedrich Merz die Rolle als Oppositionsführer besetzen. Laut Bild hätte man sich auf eine "historische Redeschlacht" freuen können.
Das deutsche Staatstheater versprach also eine neue Folge der Regierungskrisen- und Kanzlerdämmerungs-Seifenoper, mit der die Bürger seit letzter Woche unterhalten werden. Da das für uns Steuerzahler alles nicht billig ist, hat natürlich auch jede Folge dieser Aufführung eine angemessene Staatstheater-Kritik verdient. Es fällt zunehmend schwerer, die zu schreiben bzw. sich die entsprechenden Aufführungen zuvor in voller Länge überhaupt anzuschauen. Doch wenn eine "historische Redeschlacht" versprochen wird, könnte es wirklich sehenswert sein, hoffte mancher Zuschauer zum Beginn der Aufführung.
Anfangs war die Bundestags-Dramaturgie auch nicht geizig und überraschte mit einem längeren Vorspiel in Form einer Geschäftsordnungsdebatte. Die Tagesordnung für diese Sitzungswoche hatte nämlich so einige Wandlungen hinter sich. Ursprünglich war parlamentarischer Alltag geplant, also drei Tage voller Debatten über diverse Anträge und Gesetzesentwürfe. Nach dem Zerbrechen der Ampel-Koalition und der Ankündigung des Bundeskanzlers, gut neun Wochen später vielleicht mal die Vertrauensfrage zu stellen, leerte sich die Tagesordnung. Nicht nur die Regierung, auch die CDU/CSU-Fraktion wollte ihre Anträge in dieser Situation nicht verhandelt wissen. Nach Medienberichten sollen die Fraktionsführer bei den Christdemokraten befürchtet haben, dass ihre Anträge plötzlich tatsächlich mit einer Mehrheit aus CDU/CSU, AfD und FDP oder BSW durchgehen könnten. Immerhin ging es in einem Fall auch um Zuwanderungsbegrenzung. Das wäre dann wie 2020 im Thüringer Landtag, als es plötzlich einen von CDU, FDP und der doch eigentlich unberührbaren AfD gewählten FDP-Ministerpräsidenten gab.
Zwar ist die Frau nicht mehr im Amt, die seinerzeit als CDU-Bundeskanzlerin erfolgreich dekretierte, diese Wahl wieder rückgängig zu machen. Aber den Christdemokraten sitzen die Regeln der Großen Vorsitzenden Merkel offenbar noch so fest in den Knochen, dass sie panische Angst davor befällt, sie könnten mit Hilfe von AfD-Stimmen Erfolg haben. Lieber verzichten sie inzwischen ganz auf den Versuch.
"Das gilt auch für die Zukunft"
Die Geschäftsordnungsdebatte entspann sich nun über Zusatzpunkte auf der Tagesordnung. Nach Absprachen der Rest-Regierung mit den Gefolgsmännern des künftigen CDU-Kanzlers (dass er es wird, dessen sind sich außer Olaf Scholz und ein paar seiner treuesten Genossen eigentlich alle im Reichstag sicher) steht nicht nur der Neuwahltermin fest, sondern es gibt eine Vereinbarung, dass einige Gesetzesentwürfe bis zur Beschlussfassung abgearbeitet werden. In schwarz-rot-grüner Kooperation quasi. Vielleicht werden das auch die neuen Regierungsfarben.
Da wollte dann auch die zu dieser Kooperation nicht eingeladene Opposition aus AfD und den zwei SED-Erbengemeinschaften BSW und Linke gern noch vor der Neuwahl über ein paar Lieblingsthemen im Parlamentsplenum reden. Und diese Tagesordnungs-Erweiterung musste debattiert und abgestimmt werden.
Die AfD hatte gemeinerweise u.a. beantragt, die Zuwanderungsbegrenzung zum Tagesordnungspunkt zu machen, also das Thema, das die CDU mit dem Zurückziehen ihres Antrags kurz zuvor abgeräumt hatte. Die von schwarz-rot-grün nicht abgesegneten Tagesordnungspunkte fanden keine Mehrheit, boten aber der CDU die Gelegenheit, einen ihr wichtigen – und im Laufe der nächsten Stunden mehrfach wiederkehrenden – Kerninhalt zum ersten Mal in diesem Staatstheater-Stück aufzuführen. CDU-Fraktionsvize Thorsten Frei rief in Richtung AfD-Fraktion:
"Ich sage das für unsere Fraktion ganz klar: Wir werden in dieser schwierigen Situation nicht auf wechselnde Mehrheiten setzen, wir werden nicht auf Zufallsmehrheiten setzen und um es Ihnen ganz klar zu sagen: Es gibt in diesem Haus auch keine Mehrheit mit der AfD! Das gilt heute und das gilt auch für die Zukunft!"
Nun weiß jeder, dass sich "Zukunft" in der Politik auch als eine äußerst eng begrenzte Zeitspanne erweisen kann. Aber auch, wer diese Aussage nicht allzu ernst nahm, musste den leicht kämpferischen Auftritt an dieser Stelle wahrnehmen. Wurden die zahlenden Zuschauer vielleicht wirklich auf eine "historische Redeschlacht" eingestimmt?
Wenn die Bundestagsdramaturgie an dieser Stelle eine etwas gespannte Erwartung beim Publikum aufbauen wollte, dann war das letztlich vergeblich. Der bald folgende Auftritt von Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz zerstörte jede diesbezügliche Illusion. Es war ein langweiliger Scholz-Auftritt. Er hatte nicht einmal besonders ambitioniert in seinen Textbausteinkasten gegriffen.
Kein Wumms oder Doppel-Wumms
Sicherlich war seine demonstrative Realitätsferne beeindruckend. Deutschland hat er mit seiner Regierung gut durch die aktuellen Krisen geführt, sagt er. Die Reallöhne steigen, die Inflation ist vorbei und er selbst sei froh, dass er in dieser Zeit Verantwortung für Deutschland getragen hat. Die Deindustrialisierung, die Energiepreise und die fehlende Energiesicherheit bzw. die selbstgemachte Energieabhängigkeit spielten erwartungsgemäß keine Rolle.
Konkret wurde er nicht, nur da, wo er sich Popularitätspunkte erhoffte, beispielsweise mit dem Versprechen, mit ihm würde es auch weiterhin keine deutschen Lieferungen von Marschflugkörpern in die Ukraine geben, wenn mit denen Ziele in Russland angegriffen werden könnten. Andererseits war er aber stolz darauf, dass Deutschland in Europa das meiste Geld für die Ukraine-Hilfe ausgibt.
Den Rest seiner Redezeit füllte er mit allgemeinem Eigenlob und Plattitüden. Im Ton vielleicht ein wenig trotzig, aber nicht kämpferisch. Eine Aneinanderreihung von Plattitüden. Selbst mit den wenigen unverwechselbaren Formulierungen geizte er. Kein "Wumms" oder "Doppelwumms" und nur ein spärliches "Unterhaken". Und Letzteres war auch kein Appell an seine Landeskinder, sondern so beschrieb er die Stimmung der EU-Staatenlenker beim letzten Gipfel in Budapest. Die würden sich auch gern unterhaken.
Und wenn er über sich und seine Rolle nachdachte, hörte sich das ungefähr so an:
"Ich habe auch für mich die Konsequenz gezogen: Öffentlicher Streit darf nie wieder die Erfolge der Regierung überlagern. Dafür werde ich sorgen, mit den Konsequenzen, die das dann haben kann."
Da möchte ihm doch jeder nur sagen: "Ja, Olaf, lange musst Du dafür nicht mehr sorgen." Außerdem geht es doch in der rot-grünen Restkoalition auch ganz harmonisch zu, oder?
Der Wartestand-Kanzler
Aber nicht nur dieser Hauptdarsteller enttäuschte. Auch Friedrich Merz, der weniger an rhetorischer Armut leidet als der Bundeskanzler, bot nicht mehr, als er sonst in Entgegnungen auf Regierungserklärungen des Kanzlers liefert.
Olaf Scholz wurde im Auftritt des CDU-Vorsitzenden selbstverständlich als Hauptsündenbock präsentiert. Das hat er sich wahrlich verdient. Auffällig war, dass die Verantwortung von Scholzens Koalitionspartnern für das deutsche Desaster kaum eine angemessene Würdigung fand.
Wartestand-Kanzler Merz möchte offenbar seine künftigen Koalitionspartner nicht allzu sehr vergrätzen. Zwar greift er auch die Ampel insgesamt als nicht regierungsfähig an, aber mit einigen der Nicht-Regierungsfähigen wird er dann im Frühjahr koalieren.
Auch er rief nicht nur einmal mit Verve zur AfD in den Plenarsaal, dass er nichts mit den Ausgestoßenen hinter der Brandmauer zu tun haben will, egal was die Wähler am 23. Februar wählen.
"Deutschland braucht eine grundlegend andere Politik, vor allem in der Migrationspolitik, in der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik und in der Wirtschaftspolitik. Und da sie ständig dazwischen schreien, will ich eines sagen: Weder vorher noch nachher, noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt gibt es eine Zusammenarbeit meiner Fraktion mit Ihren Leuten, egal mit wie vielen Leuten Sie hier im nächsten Deutschen Bundestag sitzen werden."
Dann soll die CDU, wie derzeit in Sachsen, lieber mit den SED-Erben kungeln? Soll das Publikum den CDU-Vorsitzenden so verstehen? Nein, an dieser Stelle will ich mich gar nicht beschweren. Es ist verdienstvoll, dass er den Wählern vor der Wahl ganz klar sagt, dass sein Politikwechsel-Horizont nur bis zur Brandmauer reicht, was bedeutet, dass er ohne Rote oder Grüne nicht regieren kann. Er verbietet sich auf diese Weise sogar, in Koalitionsverhandlungen mit Grünen oder SPD mit der Möglichkeit einer anderen Mehrheit zu drohen. Das bedeutet, dass er nur wenig Politikwechsel durchsetzen kann, denn von denen, deren politischen Kurs er angeblich verlassen will, hat er sich mutwillig abhängig gemacht.
Mehrheit ist nicht mehr Mehrheit?
Was hat das noch mit Demokratie zu tun, wenn ein CDU-Fraktionschef anderen Fraktionen vorschlägt, gemeinsam mit Hilfe der Geschäftsordnung zu verhindern, dass in den letzten Wochen dieser Legislaturperiode eventuell Anträge abgestimmt werden, für die es eine Mehrheit unter Einschluss der AfD geben könnte? Hieß es nicht früher einmal: Mehrheit ist Mehrheit?
"Wir sollten vereinbaren, mit Ihnen, den Sozialdemokraten, und Ihnen, den Grünen, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben, so dass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung, noch bei den Abstimmungen hier im Haus in der Sache auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da zustande kommt. Diese Verabredung möchte ich Ihnen ausdrücklich vorschlagen."
Wenn der Begriff nicht schon anderweitig besetzt wäre, könnte man fast von gelenkter Demokratie sprechen. Aber Merz sagt das ganz offen, und jeder CDU-Wähler weiß nun, dass er nicht auf einen allzu großen Kurswechsel warten sollte, wenn Friedrich Merz das Kanzleramt übernimmt.
Keine "historische Redeschlacht", immerhin Momente der Ehrlichkeit. Die machen die Wahlentscheidung für viele bürgerliche Wähler sicher nicht gerade leichter, aber es ist trotzdem immer besser, der Wahrheit vor der Stimmabgabe ins Auge zu sehen. In ihrer derzeitigen Verfasstheit hat sich die Merz-CDU offenbar nicht allzu weit von der Merkel-CDU entfernt.
Muss ich eigentlich noch auf die Darsteller in den Nebenrollen eingehen? Christian Lindner zeigte, dass es ihm nach drei Jahren in der Rolle als Mehrheitsbeschaffer und Steigbügelhalter noch nicht ganz gelingt, das Publikum davon zu überzeugen, dass ihn aufrechter Mannesmut vorm Kanzlerthron antrieb, als er sich den Scholzschen Finanzwünschen verweigerte.
Vergeigter Auftritt
Dass Annalena Baerbock für Robert Habeck einspringen musste, ließ schon erwarten, dass aus dieser Ecke kein Beitrag für eine "historische Redeschlacht" kommen wird. Ja, alles Weitere war erwartbar.
Bemerkenswert war allerdings, dass die AfD nur Alice Weidel reden ließ. Vielleicht sollte dieser zwar erwartbare, aber klare und prägnante Auftritt nicht durch eine verunglückte Rede eines Fraktionskollegen konterkariert werden.
Müssen wir jetzt noch über Markus Söder oder Stephan Weil reden, die als Ministerpräsidenten sprachen? Zu einer "historischen Redeschlacht" hatten die auch nichts beizutragen. Selbst einen als dramatisch gedachten Höhepunkt im langsamen Abschied vom Ampel-Kanzler hat das neue deutsche Staatstheater vergeigt. Auch das Ende dieser Regierung ist nicht schöner als ihre Regierungszeit.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.