Von Peter Hemmelrath.
Bei der Sondersitzung eines Landtagsausschusses zum Solingen-Anschlag mit Innenminister Herbert Reul (CDU) und Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne) lernten die Zuschauer vor allem die schwarzgrüne Sicht auf die islamistische Mordtat kennen.
„Diese Nacht werde ich garantiert nie vergessen", begann der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul am Donnerstagmittag in einer gemeinsamen Sondersitzung des Innen- sowie des Integrationsausschusses des Düsseldorfer Landtags seine Ausführungen. Die Opposition hatte die Sondersitzungen wegen des Anschlags am letzten Freitag in Solingen beantragt.
Bei dem Anschlag hatte der mutmaßliche Täter, der 26-jährige Syrer Issa al H., gezielt auf die Hälse mehrerer Menschen eingestochen, die das „Festival der Vielfalt" besucht hatten, mit dem das 650-Jahre-Jubiläum der Stadt gefeiert wurde. Drei Menschen, zwei Männer im Alter von 56 und 67 Jahren sowie eine 56-jährige Frau, starben. Acht weitere Menschen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Die Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) reklamierte die Tat schnell für sich.
Nicht jeder im Saal wusste, unter welchem Rechtfertigungsdruck Reul stand. Denn nur eine Stunde vor Beginn der Sondersitzung hatte die Tageszeitung „Die Welt" berichtet, dass sich Issa al H. entgegen früherer Darstellungen nicht freiwillig der Polizei gestellt habe. Auch soll es zuvor einen Hinweis eines ausländischen Geheimdienstes gegeben haben.
Dass sich der mutmaßliche Täter nicht selbst gestellt hatte, sondern im Rahmen der Fahndung wegen seines auffälligen Verhaltens von Polizisten bemerkt und sofort festgenommen wurde, räumte Reul auch schnell ein. Den Hinweis aus dem Ausland aber wollte er weder bestätigen noch dementieren. Mit solchen Darstellungen müsse „vorsichtig umgegangen werden", wiegelte der CDU-Politiker ab. Zum Stand der Ermittlungen könne er nur wenig sagen, da diese zwischenzeitlich von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe übernommen wurden.
CDU und Grüne warnen vor „Instrumentalisierung“
Auch warnte Reul davor, die Tat „zu instrumentalisieren“. Unterstützung bekam er von der Grünen-Politikerin Julia Höller, die sofort vor einem „blame game für vermeintliche politische Geländegewinne“ warnte. Der englische Begriff umschreibt den Versuch, sich gegenseitig die Schuld an einem Problem oder Versagen zuzuschieben.
Dann warnte Höller die anderen Ausschussmitglieder davor, „hier alles zu sagen, was man gerade denkt oder fühlt". Dies könne „den gesellschaftlichen Zusammenhalt aushöhlen". Höller ist im Innenausschuss seit Jahren dafür bekannt, bei jeder Debatte klare Forderungen zu stellen, welche Aspekte in welcher Sprache erörtert werden dürfen und welche nicht.
Herbert Reul selbst kam bereits nach drei Minuten zum Kern seiner Darstellungen: „Wir reden ja immer viel davon, dass der Staat angeblich nicht funktioniert", sagte er und machte eine Kunstpause. „Der Staat hat funktioniert." Sein Fazit machte er daran fest, dass der mutmaßliche Täter innerhalb von 24 Stunden verhaftet wurde und die Rettungsdienste in Solingen weitere Leben gerettet haben. „Die Leistung war granatenmäßig toll, großartig."
Der Einzige, der Herbert Reul offen widersprach, war der AfD-Politiker Markus Wagner: „Was wir hier gehört haben, ist eine Chronik des kompletten Staatsversagens auf allen Ebenen“. Dann sprach Wagner die am Mittwoch erfolgte Absage des jüdischen Grindelfestes in Hamburg an: „Eine Bankrotterklärung folgt der nächsten.“ Der Landesregierung warf er vor, „möglichst nicht abschieben zu wollen".
Auch müsse die Zuständigkeit für Abschiebungen, die in NRW beim Integrationsministerium liegt, wieder ins Innenressort zurück: „Asylfragen sind Sicherheitsfragen, das haben wir hier wieder gesehen“. Zum Ende seiner Ausführungen sprach Wagner Reul direkt an: „Und wenn Sie wieder sagen, das seien alles einfache Antworten: Sie haben gar keine Antwort.“
Menschen wollen nicht immer die gleichen Sätze hören
Insgesamt aber glich die rund dreistündige Ausschuss-Sitzung mehr einem Seminar über Probleme des sogenannten Dublin-Verfahrens als einer Erörterung eines islamistischen Terror-Anschlags. So erläuterte Integrations- und Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) in erschöpfender Manier, warum und wie leicht sich Issa al H. der Abschiebung nach Bulgarien entziehen konnte. Da sich der Syrer vor seiner Reise nach Deutschland dort registrieren ließ, wäre Bulgarien für sein Asylverfahren zuständig gewesen. Dabei beklagte Paul das allgemein „dysfunktionale System“ sowie die spezifischen Schwierigkeiten bei Abschiebungen nach Bulgarien.
CDU-Politiker wie Dietmar Panske griffen das auf und sorgten so ebenfalls dafür, dass über Islamismus – sonst ein regelmäßiges Thema im Innenausschuss – oder über grundsätzliche Fragen der Migrationspolitik nur wenig geredet wurde. Bei der CDU-Fraktion fiel lediglich der als konservativ geltende Gregor Golland aus dem Rahmen. Der Innenexperte sprach von seiner Hoffnung, der Anschlag in Solingen könne zu einer grundsätzlichen Wende in der Migrationspolitik führen, und forderte Handeln: „Die Menschen wollen nicht immer die gleichen Sätze hören, nach Mannheim, nach Solingen und nach anderen Taten.“ Vermutlich um nicht als Kritiker der eigenen Partei dazustehen, schob Golland jedoch schnell nach, dass er damit die Politik im Bund und nicht im Land meine.
Die Grünen, die am Donnerstag nur Frauen als Redner aufboten, nahmen die Vokabel „Islamismus“ zwar häufig in den Mund, vermieden aber jede inhaltliche Aussage dazu. Lediglich Julia Höller bezeichnete Islamismus als „Bedrohung für unsere Vielfalt und Freiheit“. Als die Grünen-Abgeordnete Gönül Eglence beklagte, dass die Berichterstattung über IS-Anschläge wie in Solingen auch eine „Retraumatisierung“ von vor der Terror-Organisation nach Deutschland geflohener Menschen bewirke, wies die AfD-Abgeordnete Enxhi Seli-Zacharias dies als „pietätlos“ zurück.
Reul weicht Antworten lange aus
In welchen Moscheen Issa al H. in Solingen gebetet hatte, wollte Herbert Reul lange nicht sagen. Zuerst war es der FDP-Politiker Marc Lürbke, der danach fragte und dies damit begründete, dass Solingen „ein waschechter Hotspot für radikalen Islamismus“ sei. Kurz darauf schloss sich Markus Wagner der Frage an. Auch Wagner begründete seine Frage damit, dass Solingen beim Thema Islamismus „ja kein unbeschriebenes Blatt“ sei. Offenbar bezogen sich beide auf die ehemalige Millatu-Ibrahim-Moschee sowie zwei weitere Solinger Salafisten, die sich vor rund einem Jahrzehnt dem IS angeschlossen hatten.
Dennoch wich Herbert Reul einer Antwort lange aus und tat, als hätte er die Fragen nicht gehört. Erst als Enxhi Seli-Zacharias ihn hartnäckig aufforderte, die Fragen endlich zu beantworten, räumte Reul ein, dass Issa al H. die Moschee des Islamischen Zentrum Solingen sowie eine des VIKZ (Verband der Islamischen Kulturzentren) besucht habe. Beide Einrichtungen vertreten einen sunnitischen Islam. Zu beiden Moscheen lägen dem Verfassungsschutz jedoch keine Erkenntnisse vor, merkte Reul an. Kurz darauf sagte er jedoch, dass die rechtlichen Voraussetzungen zu einer Öffentlichmachung nicht vorlägen. „Es ist klug, solche Informationen nicht öffentlich zu machen, bevor man genau weiß, was da dran ist", beendete Reul diesen Punkt.
Auch auf die Frage von Markus Wagner, ob es stimme, dass Issa al H. in seinem Zimmer in der Solinger Asylunterkunft eine IS-Flagge aufgehängt habe, äußerte sich Reul erst, nachdem diese erneut gestellt wurde. „Ich habe keine Ahnung, ob da eine IS-Flagge gehangen hat. Ich habe keine Meldung dazu und nur den Zeitungsartikel. Aber selbst wenn ich es wüsste, würde ich es hier nicht sagen, weil es die Ermittlungen gefährdet“, sagte der Innenminister.
Zuvor hatte Enxhi Seli-Zacharias kritisiert, dass die Abgeordneten über den Hintergrund des Solinger Anschlags mehr aus der Presse als im Ausschuss erfahren. Als Beispiele nannte sie das IS-Bekennervideo, das in der Nähe des Tatorts aufgenommen wurde, sowie dass eine der von Issa al H. besuchten Moscheen nach dem Anschlag Internet-Inhalte gelöscht haben soll. „Haben Sie das auf dem Schirm?“, wollte sie von Reul wissen. Der CDU-Politiker wollte aber auch darüber nicht reden. Immer wieder verwies er darauf, dass Ermittlungsergebnisse nicht gefährdet werden dürfen.
Schwarz-grüner Untersuchungsausschuss angekündigt
Enxhi Seli-Zacharias aber war nicht mehr zu bremsen: „Wir müssen hier aber auch darüber reden, was das mit Menschen macht“, forderte die sichtlich verärgerte Politikerin. „Wir haben eine neue Lebensrealität. Menschen fragen sich, ob ihr Kind wieder heil nach Hause kommt oder ob sie noch zu einer Veranstaltung gehen können. Was macht das mit Menschen? Wenn man eine Kultur in seinen Reihen akzeptiert, die das Messer als besten Freund sieht, was macht das mit der Gesellschaft und den Kräften vor Ort?“.
Für die Überraschung des Tages aber sorgte Gregor Golland, indem er einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss von Grünen und CDU zum Anschlag in Solingen ankündigte und die Opposition zur Beteiligung daran aufforderte. Üblicherweise werden Untersuchungsausschüsse von der Opposition eingesetzt, um das Handeln derer, die in Regierungsverantwortung sind, näher zu beleuchten. Die SPD-Fraktion warf der schwarz-grünen Landesregierung daraufhin vor, sie wolle „die Flucht nach vorne“ antreten.
Landesinnenminister Reul wiederum blieb bis zum Schluss der Sondersitzung dabei, dass der Staat beim Anschlag in Solingen funktioniert habe. Jedes Mal begründete er das mit der Verhaftung des mutmaßlichen Täters sowie der Arbeit der Rettungsdienste. Als Dorothea Deppermann ihn fragte, ob seinem Ministerium Reaktionen von Islamisten oder Rechtsextremisten auf den Anschlag in Solingen bekannt sind, wirkte das, als gebe die Grünen-Politikerin ihm das gewünschte Stichwort.
„Islamisten sind im Netz dazu relativ ruhig, aber Rechtsextremisten sind sehr mobil, da geht richtig die Post ab“, griff Reul ihre Frage sofort auf. „Aber die dienen nicht der sachlichen Debatte, sondern der Aufhetzung der Bevölkerung. Das ist eine Katastrophe und sehr gefährlich.“ Spätestens damit dürfte die Botschaft, auf welche Prioritäten sich die schwarz-grünen Koalitionäre im Umgang mit dem Terror-Anschlag in Solingen verständigt haben, auch beim letzten Zuschauer in dem ungewöhnlich vollen Sitzungssaal angekommen sein.
Peter Hemmelrath arbeitet als Journalist und Gerichtsreporter.