Wolfram Weimer / 07.09.2009 / 23:24 / 0 / Seite ausdrucken

Schwarz-grüne Überraschung

In der Schlussphase wird der Wahlkampf zum schillernden Farbenspiel. Es geht nicht mehr um Programme und Positionen, nicht mehr um Deutschlandpläne und Dienstwagen, sondern nur noch um eines: Koalitionen. Nie zuvor bei einer Bundestagswahl gab es so viele Kombinationsmöglichkeiten wie diesmal. Und nie zuvor lauerten für die Wähler so viele Unwägbarkeiten, ja Paradoxien: Wer SPD wählt, könnte am Ende Merkel bestätigen. Wer grün wählt, verhilft möglicherweise Westerwelle in die Regierung. Wer Linkspartei wählt, könnte schwarz-gelb wahrscheinlicher machen. Und was wählt eigentlich derjenige, der unbedingt die Große Koalition verlängert sehen will?
Schwarz-rot, schwarz-gelb, rot-rot-grün, Ampel und Jamaika – seit den Landtagswahlen wird alles heiß diskutiert, nur eines nicht, obwohl das wahrscheinlicher wird: schwarz-grün. Noch simuliert das politische Berlin einen Lagerwahlkampf. In Wahrheit gibt es die Lager kaum mehr. Für Angela Merkel schon gar nicht. Sie aber wird aller Voraussicht nach Kanzlerin bleiben. Die spannende Frage ist nur, mit wem sie regieren kann. Neben FDP und SPD kommt dabei die grüne Option zusehends ins Gespräch, weil die Grünen in den Umfragen der FDP immer näher rücken.
Sollten am 27. September die Grünen gar vor den Liberalen liegen, dann sind zur Verblüffung der Nation Hamburger Verhältnisse denkbar. Am Ende könnten die Wähler Schwarze und Grüne zusammen zwingen wie ein Paar, das die späte Liebe für sich gefälligst entdecken soll.
Das Ergebnis der Europawahl wirkte wie ein psychologischer Dammbruch für diese politische Option. Denn seither merken die Grünen, dass eine rot-grüne Machtperspektive 2009 nicht existiert – eine schwarz-grüne aber sehr wohl. Und die Merkel-Union findet zusehends Gefallen daran, das Konservative an den Grünen zu loben und sie aus dem linken Lager herauszulösen. Das Wahlergebnis im Saarland und die dortigen Jamaika-Übungen verstärken diesen Trend.
Von Cem Özdemir über Peter Müller bis Freiherr zu Guttenberg flirten sie plötzlich eine schwarz-grüne Nähe herbei, dass man sich die Ohren reibt. Denn beide Parteien wollen sich Optionen offen halten. Selbst die altlinke Generation von Renate Künast bis Jürgen Trittin ist in dieser Frage beweglicher als sie zugibt. Denn für sie würden vier Jahre Opposition das Ende ihrer persönlichen Karrieren bedeuten. Gerade die beiden könnten und würden daher die schwarz-grüne Überraschung organisieren – wenn es der Wähler denn ermöglicht.
Vier tiefer liegende Gründe sprechen ohnedies für den schwarz-grünen Trend.
Erstens gibt es inzwischen viele schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland, die ordentliche Arbeit machen und Berührungsängste der Parteien abgebaut haben - in unzähligen Kommunen, aber auch Schlüssel-Metropolen wie Frankfurt oder sogar auf Länderebene wie in Hamburg. Die Basis für eine Koalition im Bund ist also gelegt.
Zweitens ist der Zeitgeist in Deutschland derzeit bürgerlich-ökologisch. Das „Greening“ gehört zum Lifestyle wie Smoothies, Holzspielzeug und Bionade. Konservative und Ökologen treffen sich in ihrem Sparsamkeits-, Sicherheits- und Verlangsamungsreflex. Sie nennen es „Nachhaltigkeit“ und reden über Umweltfragen inzwischen völlig entspannt wie über den Mallorca-Urlaub oder Bundesligaspiele. Es gibt keine Kaffee, keine Bankbilanz und keine Fußcreme mehr, die nicht nachhaltig-natursanft-biologisch daherkämen. Da sich auch die Industrie mit Wucht ökologisiert, verliert das Grüne auch für wirtschaftlich denkende Menschen seinen miesepetrigen, modernisierungsfeindlichen Charakter.
Drittens sind sich Grüne und Unionisten soziologisch und habituell ganz nahe gekommen. Die Grünen – einst eine linke Spontitruppe, dann eine Seilschaft mit Spaß am Dienstwagen – sind nun in die tektonische Mitte der Parteienplatten zweier linker und zweier bürgerlicher Formationen gerückt. Der grüne Mainstream ist von einer linken zu einer bürgerlichen Lifestyle-Bewegung geworden. Die Hochburgen beider Parteien liegen mitten in bürgerlichen Räumen. Häufig wählen Ehepaare sogar schwarz und grün. In Arbeiterhochburgen oder in sozialistischen Plattenbauten hingegen haben es beide schwer.
Viertens verkörpert Angela Merkel vielmehr eine schwarz-grüne als eine schwarz-gelbe Denkwelt. Ihr Vater ist ein kämpferischer Radikalökologe, sie selber war Umweltministerin und agiert gerne als globale Klimaretterin. Sie versteht sich auch persönlich mit einigen grünen Politikern bestens. Und sie sieht als kühle Physikerin der Macht, dass ein Bündnis in die Mitte der Parteienarchitektur hinein ihre Machtbasis auf Dauer stabiler halten könnte.
Der scheinbar so langweilig gewordene Bundestagswahlkampf ist jedenfalls wieder spannend. Bislang schien die Frage bloß: Bekommen wir schwarz-gelb oder bleibt es bei einer Großen Koalition. Nun grünt es auch ein wenig.

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