Nach dem NATO-Gipfel in Vilnius darf die Ukraine auf weitere Unterstützung hoffen. Wladimir Putin hat darauf in einem exklusiven Interview reagiert. Er will stark klingen und offenbart Schwächen. Wie stabil ist das System Putin noch?
Auch wenn Selenskijs Hoffnung auf die baldige Einladung seines Landes in die Nordatlantische Allianz unerfüllt blieb, konnte er seine Teilnahme an deren Gipfel doch als Erfolg verbuchen. Der Grund ist die Zusage, die Waffenlieferungen so lange wie nötig fortzusetzen. Damit nun dürfte endgültig klar sein, dass die Zeichen im Westen auf einen langen Krieg gestellt sind.
Diese Entscheidung wirkt sich natürlich unmittelbar auf die strategische Positionierung Moskaus aus. Kein Wunder also, dass sich Wladimir Putin umfassend dazu geäußert hat. Am Rande des in Moskau ausgerichteten Forums für Zukunftstechnologien gab er führenden Pressevertretern am 13. Juli 2023 ein Interview.
Darin stelle Putin erwartungsgemäß klar, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine von Moskau als akute Bedrohung der Sicherheit Russlands aufgefasst werde und folglich nicht akzeptiert werden könne. Die aus einer Integration der Ukraine in die Nordatlantische Allianz resultierende Gefahr sei mithin eine der Ursachen für die militärische Spezialoperation gewesen. Auch das klingt wenig überraschend. Dennoch lässt sich auf den zweiten Blick so einiges aus seinem Auftritt herauslesen. Doch zuvor sollte man erst lesen, was Putin erklärt hat:
„Ich bin überzeugt, dass dies die Sicherheit der Ukraine nicht erhöhen wird. Insgesamt wird die Welt dadurch verwundbarer und es wird eine zusätzliche Spannung auf der internationalen Arena herbeigeführt.“
Ebenfalls kommentierte er die Wirkung westlicher Waffensysteme. Ihm sei bewusst, dass Kiew große Hoffnungen in sie gesetzt habe, diese hätten sich jedoch nicht erfüllt. So richte die Präzisionsartillerie zwar Schaden an und mache der Truppe zu schaffen. Kritische Effekte habe sie allerdings nicht. Gleiches gelte für die gelieferten Kampf- und Schützenpanzer.
"Priorisierte Ziele"
„Allein seit dem 4. Juni wurden 311 gepanzerte Fahrzeuge vernichtet. Ein bedeutender Teil davon, ich denke mindestens ein Drittel, sind Panzer westlicher Bauart, darunter auch Leoparden. Viele ukrainische Soldaten lehnen es mittlerweile ab, in diesen Panzern zu fahren, weil sie darin von unseren Jungs als priorisierte Ziele angesehen und auf dem Schlachtfeld als erstes vernichtet werden.“
Putin behauptete, dass die westlichen Waffenlieferungen keinen substanziellen Beitrag für einen ukrainischen Sieg leisten könnten, sondern nur das Sterben an der Front verlängern würden. Durch die Entscheidung der NATO, die Ukraine dauerhaft zu unterstützen, würde der Konflikt neu entfacht. Wer ein Interesse daran hätte, den Krieg am Laufen zu halten, der werde Kiew weiterhin mit Waffen und Ausrüstung beliefern.
Ausgehend von der Bedrohung Russlands innerer Sicherheit, so Putin weiter, hätte grundsätzlich jedes Land das Recht, diese herzustellen. Dazu gehöre selbstverständlich auch die Wahl der hierfür am besten geeigneten Mittel. Gleichwohl sei dieses Recht einer fundamentalen Einschränkung unterworfen: und zwar dürfe die eigene Sicherheit nie zu einer Bedrohung für andere Staaten werden. Aus diesem Grund gehe Moskau auch weiterhin davon aus, dass dieses, in zahlreichen Erklärungen verbriefte Prinzip auf dem internationalen Parkett allgemeine Beachtung finde.
„Natürlich hat auch die Ukraine das Recht, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass in den Vertragsentwürfen von Istanbul, also jenen Texten, die dann später in den Müll geworfen wurden, sehr detailliert auf sicherheitspolitische Fragen der Ukraine eingegangen wurde. Wir mussten damals noch darüber nachdenken, ob wir uns mit allem einverstanden erklären würden, was dort vorgesehen war.
Insgesamt jedoch denke ich, dass das Dokument annehmbar war. Aus diesem Grund ist das, was jetzt in der NATO oder den G7 verlautbart worden ist, nichts Neues. Dennoch weise ich erneut darauf hin, dass Verhandlungen nur unter der Bedingung erfolgen können, dass die Sicherheit der Russischen Föderation unangetastet bleibt.“
Kein Wort von einem Sieg
Wladimir Putins Äußerungen sind gleich in verschiedener Hinsicht interessant. Zunächst fällt die Mäßigung seiner Sprache auf. Von der aggressiven Kriegsrhetorik früherer Tage war nichts zu spüren. Dass er der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, während russische Truppen das Land besetzt halten, mag zunächst paradox klingen. Die Formulierung dient aber dem bekannten Kalkül, den Krieg als Akt der Selbstverteidigung darzustellen.
Verblüffend ist hingegen, dass Putin mit keinem Wort auf die ursprünglichen Ziele der Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine eingegangen ist. Die in Vilnius erfolgte Erklärung zur dauerhaften Unterstützung Kiews müsste beiden Zielen eigentlich eine ganz neue Bedeutung verliehen haben.
Im Gegensatz zum 24. Februar 2022 ist das militärische Potenzial der Ukraine heute um ein Vielfaches höher. Das Land verfügt in großer Zahl über westliche Waffensysteme und kann auf Soldaten zurückgreifen, die nach NATO-Standards trainiert und ausgerüstet sind. Andererseits gilt, dass die Schlagkraft der russischen Armee im selben Zeitraum rapide abgenommen hat. Auch wenn niemand weiß, wie groß die russischen Verluste tatsächlich sind, steht doch außer Frage, dass sie immens ausfallen. Unter diesen Gesichtspunkten erweisen sich die Folgen des Überfalls auf das Nachbarland als desaströs.
Dass Putin von all dem ebenso wenig sprach wie von der ansonsten bei jeder Gelegenheit geschmähten Nazi-Junta in Kiew, ist daher kein Zufall. Zu tief hat sich sein Land in einen Krieg verrannt, aus dem es keinen gangbaren Ausweg mehr zu geben scheint. Angesichts der allgemeinen Fronterstarrung – von einem Sieg spricht in Russland niemand mehr – drängt sich der Eindruck auf, Moskau setzte die Kämpfe nur noch fort, um das Eingeständnis der eigenen Planlosigkeit zu vermeiden.
Ausgezehrt und sichtlich unter Druck
Hinzu kommen die ungelösten Konflikte im Inneren. Trotz oder vielleicht gerade wegen des skurrilen Ausgangs der Wagner-Revolte hat sich die politische Notlage erheblich vertieft. Als Putin am 18. März 2022 im Moskauer Luschniki-Stadion vor zweihunderttausend Menschen auftrat und ganz in der ihm entgegenschlagenden nationalen Inbrunst aufging, versprach er einen schnellen Sieg. Russland – so seine Heilsbotschaft – werde seine Seele geben, um die Menschen im Donbass zu befreien. Die Spezialoperation verlaufe nach Plan und werde schon bald mit einem Triumph enden.
Nichts davon ist eingetreten. Stattdessen hat sich 13 Monate später eine Kolonne der Gruppe Wagner auf Moskau zubewegt und den kümmerlichen Widerstand der Regierung hinweggefegt. Auch wenn die russische Propaganda bemüht ist, den Hergang dieser Ereignisse in ihrem Sinne zu einem Sieg des Volkes zu verklären, ist schwer vorstellbar, dass er spurlos am Regime vorbeigegangen ist.
So war mehr als auffällig, dass Putin während seiner Stellungnahme vor den Kameras ausgezehrt wirkte. Unverkennbar war auch, dass ein großer Druck auf ihm lastet. Wie schon einige Male in der Vergangenheit erweckte Putin auch hier den Anschein eines gealterten Mannes. Seine Anspannung versuchte der russische Präsident indes durch den Anschein von Normalität zu überspielen. Das wollte ihm jedoch nicht recht gelingen. In seiner Begrüßungsrede auf dem Forum für Zukunftstechnologie verhaspelte er sich mehrfach; das Ablesen des Textes wirkte roboterhaft, seine Körpersprache fahrig.
Von der vor zwei Wochen im dagestanischen Derbent zur Schau gestellten Volksnähe war nichts mehr zu sehen. In der ältesten Stadt Russlands, die wegen ihrer Passage-Funktion im Kaukasus den Beinamen „das Tor der Tore“ (Arab.: Bāb al-ʾAbwāb) trägt, hatte Putin noch feierlich einen Koran überreicht und sich von den lokalen Behörden herumführen lassen. Sein Bad in der Menge, welches man auch in westlichen Medien sehen konnte, war natürlich eine Inszenierung, die Teilnehmer bestellt. Trotzdem gelang es Putin hier, einen Teil seiner früheren Spannkraft wiederzuentdecken. Dass sich diese nun offenbar schon wieder verflüchtigt hat, könnte daran liegen, dass noch immer Vieles im Unklaren ist. Was wird mit der Gruppe Wagner geschehen und wer im Generalstab war in ihre Revolte verstrickt?
Gefährdete oder gefährliche Generäle?
Trotz der Angebote, nach Belarus zu gehen, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu schließen oder die Waffen niederzulegen, ist dem Kreml noch kein Abschluss der Causa Wagner gelungen. Stattdessen haben Jewgenij Prigoschins Firmen kürzlich neun Verträge mit dem Staat geschlossen. Sie betreffen die Lieferung von Lebensmitteln an Krankenhäuser und Schulen und umfassen ein Budget von mehr als einer Milliarde Rubel. Ebenso ist nicht geplant, ihre bestehenden Verträge zu beenden.
Dies könnte bedeuten, dass Prigoschin nicht mehr der Eigentümer betreffender Firmen ist. Ein unlängst aufgetauchtes Foto, das den Wagner-Chef auf einem Feldbett sitzend zeigt, deutet jedenfalls nicht darauf hin, dass er sein ziviles Luxusleben in Belarus oder andernorts fortsetzt. Ebenso nebulös sieht die Lage in der russischen Generalität aus. Mindestens 13 hochrangige Offiziere wurden nach der Wagner-Revolte inhaftiert und verhört. Mittlerweile ist bekannt, dass der FSB bereits wenige Stunden nach dem Beginn von Prigoschins „Marsch der Gerechtigkeit“ aktiv wurde. Einer internen Quelle zufolge wurden die Verhaftungen durchgeführt, um „die Reihen zu lichten“. Etwa 15 russische Offiziere sollen bis heute suspendiert worden sein, was höchstwahrscheinlich ihren Tod bedeutet.
Der prominenteste Delinquent ist ohne Zweifel General Sergej Surowikin, Befehlshaber der russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte und stellvertretender Befehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine. Seit seiner Festnahme befinde sich Surowikin im Moskauer Gewahrsam, wo er umfassend zur Revolte befragt werde. Wie man in russischen Sicherheitskreisen vermutet, hat Surowikin zwar von den Plänen Prigoschins gewusst, es aber vermieden, sich aktiv an ihnen zu beteiligen. Aus diesem Grund soll bislang auch keine Anklage gegen ihn erhoben worden sein.
Sergej Surowikin wurde nicht mehr gesehen, seit er am 24. Juni 2023 einen Appell an die Söldner der Gruppe Wagner gerichtet und sie aufgefordert hatte, die Waffen niederzulegen. Seine mutmaßliche Abordnung war dann am 28. Juni bekannt geworden. Offenbar befragte die Militärstaatsanwaltschaft Surowikin zunächst mehrere Tage lang zu seinen Verbindungen zu Prigoschin. Zu diesem Zeitpunkt wurde Surowikin jedoch lediglich in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, nicht aber inhaftiert. Olga Romanowa, Gründerin der Wohltätigkeitsstiftung „Sitzendes Russland“ berichtete Anfang Juli, dass eine von Freiwilligen in Surowikins Namen verschickte Postkarte aus dem Untersuchungsgefängnis Lefortowo entwendet worden sei. Offiziösen Quellen aus Sicherheitskreisen zufolge ist Surowikin derzeit im Urlaub.
Nach dem Ende der Wagner-Revolte sollen unter anderem Surowikins Stellvertreter, Generaloberst Andrej Judin, und der stellvertretende Leiter des militärischen Geheimdienstes, Generalleutnant Wladimir Aleksejew, festgenommen worden sein. Beide wurden offenbar anschließend wieder freigelassen, ihre Bewegungsfreiheit blieb jedoch eingeschränkt und sie stehen unter Beobachtung. Unter den Inhaftierten befindet sich auch der ehemalige Generaloberst Michail Misinzew, der früher stellvertretender Verteidigungsminister Russlands gewesen war, die Erstürmung von Mariupol zu Beginn des Krieges leitete und seit April 2023 für die Gruppe Wagner arbeitet.
Die skizzierten Vorgänge lassen erkennen, dass die Aufklärung von Prigoschins Revolte noch längst nicht abgeschlossen sind. Für Moskau erweist sich dieser Zustand als überaus heikel, weil Säuberungen im Generalstab die Geschlossenheit der Armee schwächen. Hinzu kommt, dass auch politisch erst wieder Ruhe einkehren kann, sobald die Zukunft der Gruppe Wagner und ihres Chefs Prigoschins geklärt ist. Wie lange es dauern wird, hier einen Endpunkt zu setzen und eine stabile innere Konsolidierung zu erreichen, ist derzeit unklar.
Christian Osthold ist Historiker und als Experte für Tschetschenien und den Islamismus tätig. Darüber hinaus befasst er sich mit islamisch geprägter Migration sowie dem Verhältnis der Politik zum institutionalisierten Islam in Deutschland.