Nicht einmal Martin Schulz selbst dürfte noch daran glauben, dass er die Bundestagswahl gewinnt und Bundeskanzler wird. Die Umfragen sind für ihn irgendetwas zwischen miserabel und katastrophal. Die SPD liegt kurz vor der Wahl satte 16 Prozentpunkte hinter der Union. In den Direktwahlumfragen versauert er persönlich sogar 29 Prozentpunkte hinter Angela Merkel. Selbst wenn er die gewaltigen Rückstände auf der Zielgeraden noch überraschend verkürzen könnte – es fehlen Wechselstimmung wie Machtperspektive. Denn mit dem Erstarken von FDP und AfD – beide könnten ihre Stimmanteile im Vergleich zur Wahl 2013 fast verdoppeln – verschiebt sich die politische Achse der Republik nach rechts.
Da Schulz zwar kein geschickter Wahlkämpfer, aber doch ein kluger Stratege der Politik ist, dürfte er dieser Tage die Woche nach dem 24. September im Auge haben. Was passiert, wenn die Wahlen in etwa so ausgehen, wie es die Umfragen vorhersagen? Es bräche bei den Sozialdemokraten ein Machtkampf um die Führung von Partei und Fraktion aus. Vor allem Sigmar Gabriel und Martin Schulz stünden sich dabei als Konkurrenten gegenüber.
Sollte es noch einmal eine Große Koalition geben, würden beide gerne Außenminister werden. Sollte Schwarz-Gelb oder Jamaika (also Schwarz-Gelb-Grün) kommen, wird der Machtkampf um die Rolle des Oppositionsführers ungleich härter. Schon seit Wochen ist der schärfer werdende Wettbewerb zwischen den beiden offen zu beobachten. Der “Tagesspiegel” meint, “Sigmar Gabriel übertönt Martin Schulz”, die FAZ beobachtet “Gabriel stiehlt Schulz die Show”, der “Spiegel” analysiert “Einer strahlt, einer strampelt” und die “Welt” urteilt “Für Gabriel und Schulz gilt schon jetzt: Jeder für sich”.
Dass die Umfragewerte von Schulz jetzt auf dem dürftigen Niveau der Endphase des Parteivorsitzenden Gabriel liegen, ist für diesen eine Genugtuung. Zugleich hat Gabriel seine persönlichen Akzeptanzwerte im Außenamt deutlich steigern können – er ist in den Monaten nicht nur schlanker, sondern auch viel beliebter geworden. Zugleich demonstriert Gabriel mit seinen lebhaften Auftritten täglich, dass er der bessere Wahlkämpfer ist. Er diktiert den Tonfall in der Türkei-Politik, in der “Ehe für alle”-Debatte, in der G20-Nachbearbeitung wie in den Angriffen auf Merkel. Er formuliert Grundsatzpapiere und macht mit spitzen Interviews Schlagzeilen. Kurzum: Er verhält sich demonstrativ wie ein Parteichef.
Kommt der Putsch des Verlierers?
Umgekehrt wirkt der ohnehin angeschlagene Schulz dadurch zusehends an den Rand gedrängt, zuweilen gar wie ein Lehrling, der von der Berliner Politik vorgeführt wird. Der für Machtfragen feinfühligen SPD dämmert damit, dass man sich bald entscheiden muss zwischen einem der beiden. Die 100-Prozent-Loyalität der SPD gegenüber Schulz dürfte bei einem Wahldebakel schnell dahin sein.
Bei einem Auftritt in Berlin erklärte Schulz schon einmal vorsorglich, dass er auch nach einer Niederlage SPD-Parteivorsitzender bleiben wolle. Die SPD könne längere Rhythmen in der Amtszeit ihrer Vorsitzenden ganz gut gebrauchen. Das wird unter Sozialdemokraten als Kampfansage gewertet, man solle sich hüten, ihn nach dem 24. September zu stürzen.
Einigermaßen hitzig wird unter Sozialdemokraten bereits die Frage diskutiert, wer – im Fall der erwarteten Niederlage – den Fraktionsvorsitz erringt. In der SPD-Fraktion erinnert man sich noch genau an September 2009, als der desaströs geschlagene Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier die Schockstarre nutzte und sofort erklärte, er wolle dazu beitragen, dass die SPD wieder zu “alter Kraft” zurückfinde, und sei bereit, das “als Oppositionsführer im Deutschen Bundestag” zu tun. Es war der Putsch eines Verlierers, und er gelang.
Ähnliches wird nun von Martin Schulz erwartet. Seine neuen und erstmals persönlichen Angriffe auf Angela Merkel werden als Einstieg in die Rolle des Oppositionsführers gewertet. Schulz habe es aufgegeben, sich als Minister im Kabinett Merkel IV. zu sehen. Er wähle schon jetzt den Tonfall eines angriffslustigen Fraktionschefs der Opposition. Und seine Ankündigung, in jedem Fall Parteivorsitzender zu bleiben, verstärkt den Eindruck, dass er sich nicht von Gabriel als Sündenbock beiseiteschieben lassen wird. Sein Argument wird klassischer Natur sein – Partei- und Fraktionsvorsitz müsse man in einer Hand bündeln.
Wenn Schulz und Gabriel sich streiten, freut sich Nahles
Andererseits könnte das Ergebnis der SPD derart miserabel ausfallen, dass es Schulz den machtpolitischen Boden unter den Füßen wegzieht. “Bei einem Ergebnis von weniger als 25 Prozent braucht er es gar nicht erst zu versuchen”, erklärt ein SPD-Abgeordneter.
Ob aber Sigmar Gabriel dann automatisch die Macht ergreifen kann, ist auch fraglich. Denn bei einem Wahldesaster wäre auch Gabriel als wichtigster SPD-Minister mit beschädigt. Es werde ihm zwar zugutegehalten, dass er zu Jahresbeginn souverän auf die Kandidatur verzichtet habe. Andererseits ist Gabriel in der Fraktion nicht hoch angesehen. Man kennt und fürchtet seine Sprunghaftigkeit wie sein aufbrausendes Temperament. Vor allem aber würde er langfristig die Comeback-Chance der SPD nicht glaubhaft verkörpern können.
“Dann kommt das Thema Generationenwechsel auf die Agenda”, heißt es aus der Fraktion. Die Stunde für Andrea Nahles wäre da. Sie hat größeren Rückhalt in der SPD-Fraktion, sie genießt die Unterstützung von Olaf Scholz und sie organisiert sich im Wahlkampf durch ungewöhnlich viele Auftritte bei Fraktionskollegen fleißig neue Gefolgschaft. Andrea Nahles könnte also aus dem Machtkampf der beiden lauten Männer als die strahlende, leise Siegerin hervorgehen. Merke: Wenn Schulz und Gabriel sich streiten, freut sich die Dritte.
Zuerst erschienen auf The European hier.