Gerd Held / 07.06.2015 / 07:00 / 5 / Seite ausdrucken

Schulkampf in Frankreich (Teil 2): Geschichte im Geist des Schuldgefühls

Die Schulreform an den französischen Collèges (mittlere Schulstufe) senkt nicht nur die Lernanforderungen, sondern sie enthält auch ein ideologisches Element. Dies zeigt sich dort, wo sie in den Inhalt des Unterrichts eingreift, insbesondere im Geschichtsunterricht. So soll zukünftig im Geschichtsunterricht der Collèges die Behandlung des Jahrhunderts der Aufklärung, das zum Verständnis der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der Neuzeit grundlegend ist, nur noch eine Wahloption im Rahmen eines Panorama-Themas („Europa zwischen dem 17. Und 19. Jahrhundert“) sein. Gleichzeitig sollen die Geschichte des Islam und auch eine (stark negativ gefärbte) Geschichte der Kolonisation auf gleichem Rang stehen.

Der Historiker Pierre Nora erklärte, dass sich in diesem Lehrplan-Relativismus eine „Identitätskrise Frankreichs“ wiederspiegele, „eine der schlimmsten unserer Geschichte“. Die Bildungsministerin, deren Lächeln der Schriftsteller Jean d´Ormesson mit dem hochnäsig-forschen Ausdruck von Jennifer Jones im Lubitsch-Film „Cluny Brown auf Freiersfüßen“ verglich, nannte den Historiker und andere Kritiker ihrer Reform „Pseudointellektuelle“. Das ist eine ähnliche Demagogie wie sie bei der Verleumdung der „Reichen“ vorliegt: Man zeigt auf Menschen in irgendwie herausgehobener Position und unterstellt im gleichen Wort schon Täuschung und Missbrauch. Aus dem Munde einer Ministerin, die bisher nicht durch eigene wissenschaftliche Leistungen aufgefallen ist, war das nicht nur eine peinliche Entgleisung, sondern zeigte auch eine neue Übergriffigkeit der Politik gegenüber Wissenschaft und Kultur. Die Befreiung von solcher Übergriffigkeit gehört just zu jener Epoche der Aufklärung, deren Bedeutung im Unterricht nun herabgesetzt werden soll.

Inzwischen musste die Ministerin beim Thema „Epoche der Aufklärung“ einen Rückzieher ankündigen, aber die Gesamttendenz der Reform dieses Faches bleibt. Sie richtet sich gegen die Höhen der französischen und europäischen Geschichte. Sie reiht die Aufklärung als einen Zeitabschnitt neben vielen anderen ein, ohne nachhaltige Ausstrahlung auf die übrige Welt und ohne Bedeutung für die Gegenwart. Mehr noch: Der Akzent der Geschichtsbetrachtung verschiebt sich auf den Gesichtspunkt der Beschädigungen und Opfer, die Frankreich und Europa in ihrer neuzeitlichen Geschichte verursacht haben. Pierre Nora, der der Historikerschule der Annales nahesteht und damit keineswegs unter dem Verdacht steht, ein „Rechter“ zu sein, spricht von einem Geist der „Schuldgefühle“ in den neuen Lehrplänen. 

Spielt hier die Herkunft der Ministerin – Frau Najat Vallaud-Belkacem hat einen marokkanisch-islamischen Migrationshintergrund - eine Rolle? Dieser Verdacht trifft nicht das Wesentliche. Denn die Tendenz, die Geschichte der Moderne als Schuldgeschichte zu schreiben und eine neue Erbsünde für die Länder Europas zu konstruieren, ist im Innern des alten Kontinents entstanden. Die Tendenz ist in Deutschland wohlbekannt, aber inzwischen gibt es auch in anderen Ländern (in Frankreich ebenso wie in Großbritannien oder den Niederlanden) solche Neigungen. Bisweilen ist sie mit der Hoffnung verbunden, man könne aus der „Aufarbeitung“ der Schuld eine neue Kraft für die Zukunft gewinnen. Das ist ein Fehlschluss. Die Anerkennung von Verlusten und Opfern gehört gewiss zur Wahrheit der Geschichtsschreibung, aber sie enthält nichts, was den positiven Sinn von Republik und Marktwirtschaft begründen könnte. Auch nichts, was die Autonomie von Wissenschaft und Kultur legitimieren könnte. Die Moderne ist ein komplexes und voraussetzungsvolles Gebilde. Sie stellt eine Entwicklungshöhe dar, die einen beträchtlichen – gedanklichen und praktischen – Aufwand erfordert. Sie besteht nicht einfach im Streben nach dem „guten Leben“ und im ebenso trivialen Ablehnen des schlechten Lebens. Sie verlangt das Ertragen beträchtlicher Gegensätze und belastender Umwege. Das ist keine Sache von Genen und Gefühlen. Insofern ist das Jahrhundert der Aufklärung eine Vergangenheit, die nicht vergeht – im positiven Sinn. Die „Legitimität der Neuzeit“ (Hans Blumenberg) erfordert deshalb auch Bildungsanstrengungen, die jede Generation von neuem bewältigen muss. 

Deshalb ist es kein geringer Vorgang, wenn im Jahr 2015 in Frankreich ein Kampf darum geführt werden muss, dass im Geschichtsunterricht das Jahrhundert der Aufklärung ein zentraler Gegenstand ist. 

Und das europäische Projekt? Niemand sollte glauben, dass man in einem vereinten Europa die Höhen wiederfindet, von denen man sich in den einzelnen Ländern verabschiedet hat. Wer die Nationalgeschichten als Schuldgeschichten schreibt, wird „europäisch vereint“ keine neue Unschuld bekommen. Wer die Legitimität der Nationen nicht begründen kann, kann sie auch für Europa nicht begründen. Er kann nicht erklären, warum die Welt Europa braucht. Was man jetzt im Bildungssystem Frankreichs und Deutschlands niederreißt, wird durch kein gesamteuropäisches Wunder wieder auferstehen. 

Teil 1 der Serie lesen Sie hier.

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Leserpost

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Ralf Schmode / 07.06.2015

Man sollte nicht übersehen - im Artikel kommt dieser Gedanke etwas zu kurz - dass die Debatte über Schuld und Schande der westeuropäischen Nationen (die Staaten des früheren Ostblocks werden in auffälliger Weise ausgeblendet) in ihrer modernen Form nicht im luftleeren Raum des akademisch-historischen Elfenbeinturms stattfindet. Aus dem Gedanken der historischen Schuld ergeben sich handfeste tagespolitische Implikationen, oder vielmehr: Für die politische Agenda bestimmter Kreise wird im Nachhinein ein ideologischer Überbau konstruiert, dessen zentraler Bestandteil der Schuldkult ist. Diese tagespolitische Agenda heißt: Aufnahme aller Menschen, die in (West-)Europa leben wollen, woher und warum auch immer, und zwar unter der Prämisse, dass die Interessen und Forderungen der Zuwanderer stets Vorrang haben gegenüber den Wünschen der Einheimischen. Man kann das derzeit sehr “schön” auf dem Kirchentag in Stuttgart beobachten, wo ganz unverhohlen versucht wird, das ohnehin laxe deutsche Zuwanderungsrecht und seine noch viel laxere Umsetzung einem moralischen Imperativ unterzuordnen, der sich aus der (deutschen) Geschichte angeblich zwingend ergibt und der Politik kategorisch das Recht abspricht, in irgendeiner Form steuernd einzugreifen (was de facto ohnehin nicht mehr passiert). Dass sich in der Konsequenz einer so geführten Debatte - in der mittlerweile Gegenpositionen praktisch nicht mehr zugelassen sind; wer solche äußert, ist automatisch “Nazi” - “Refugees” so aufführen, dass man sie früher als Invasoren bezeichnet und entsprechend behandelt hätte, wundert niemanden, der verfolgt, wie sich die platte Parole “Kein Mensch ist illegal” völlig widerspruchslos über Recht und Gesetz erhebt. Man springt zu kurz, wenn man den am Beispiel von Frankreich dargestellten Ansatz der Überbetonung nationaler Schuld nur als Irrweg schulischer Wissensvermittlung infolge fehlerhafter bildungspolitischer Weichenstellung wahrnimmt. Was hier als Schulpolitik umgesetzt wird, wurde den handelnden Politikern von der Migrations- und Migrantenlobby in den Block diktiert. In Deutschland werden Hochschullehrer, die man einer Haltung verdächtigt, die nicht dem zuwanderungspolitischen Mainstream entspricht, bisher “nur” in Medien und sozialen Netzwerken mit einem Shitstorm nach dem anderen überzogen. Es ist aber wohl nur noch eine Frage der Zeit, wann akademische Forschung, die sich der Frage nach der Schuld im historischen Kontext auch nur ergebnisoffen annähert, ganz offiziell und mit dem Segen der Politik aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen wird.

Alexej Trakhtenbrot / 07.06.2015

Es sind vielleicht gar nicht “Schuldgefühle”, sondern einfach Hass, der solche Politiker umtreibt. Und zwar Hass auf das Christentum und die daraus entstandene europäische Zivilisation. Unnötig zu sagen, dass der Hass auf unsere Religion mit Unglauben verbunden ist. Hass und Unglaube können eine mächtige politische Triebfeder sein. Man sucht sich dann Verbündete, die seinen Hass teilen und findet sie im Mohammedanertum.

Dirk Jäckel / 07.06.2015

Mag sein, dass franz. Geschichtsunterreicht nach wie vor eine gewisse nationalistische Seite hat (dass dies in 90% aller Länder der Fall ist, sollte kein Argument dafür sein). Aber: Ich befürchte, dass zukünftig nicht mit gleichen humanistischen Maßstäben gemessen wird, sondern die dunklen Seiten bei der Expansion anderer Nationen, Kulturen, Religionen verharmlost werden. Licht und Schatten der eigenen Geschichte - ja. Aber auch Licht und Schatten der Geschichte der “Anderen” (z.B. abermillionenfache Versklavungeschichte durch Muslime im Mittelmeegrraum und v.a. in Afrika, mit vielen Millionen Frauen als weitestgehend stumm gebliebene Opfer). So formuliert es Alain Finkielkraut heute in der ZEIT: “Wir müssen die französische Geschichte nicht als patriotischen Roman lehren, aber mit ihrem Licht und Schatten. Die Reformer hingegen wollen eine Geschichte lehren, die aus unseren Verbrechen besteht, eine Weltgeschichte, die dem Islam größeren Platz einräumt, damit die Kinder arabischer Abstammung mehr Anerkennung spüren und die Einheimischen ihre Arroganz verlieren. Das ist nicht die Schule des Wissens, sondern eine Lügentherapieschule. Im Namen des Zusammenlebens der Kulturen führt man die Propaganda ein.” Ich sehe es ein wenig anders: Warum nicht mehr Platz für die Geschichte des Islam im Geschichtsunterricht - aber bitte ohne Relativierungen oder gar kitschige Romantisierungen dessen, was, gerade mit Blick auf die Gegenwart, nicht romantisiert werden darf (“Harem” z.B.).

Hjalmar Kreutzer / 07.06.2015

Wird Voltaire bald semikastriert, zumindest um die Passagen, die er über “Mohammedaner” geschrieben haben soll?

Waldemar Undig / 07.06.2015

Wenn man sich die herrschende Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit in den europäischen Ländern anschaut, ist es doch kein Wunder, dass auch die Aufklärung in immer düsterem Licht gezeichnet wird. Wir sind auf nicht mehr stolz und lassen uns von keinen Ideen begeistern.

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