Sogar am Sonntag wurde fleißig am Staatsumbau gewerkelt. Wie nennt man das, wenn sich Abgewählte den Staat mittels Grundgesetzänderung zur Beute machen und nebenbei dem Grundgesetz ideologische Zielvorstellungen aufnötigen?
Da im Gesetzgebungsverfahren immerhin noch die Formalien eingehalten werden müssen, mussten die Mitglieder des alten Bundestags-Haushaltsausschusses auch am Sonntag ran. Die Expertenanhörung und die Erarbeitung einer Beschlussempfehlung gehören zu den parlamentarischen Regeln im Bundestag. Und da es angeblich so dringend ist, das billionenschwere Rekordschulden-Paket noch schnell durch den alten Bundestag zu bringen, bevor es die frisch gewählten Abgeordneten noch verwerfen können, konnten die Ausschussmitglieder an diesem sonnigen Sonntagnachmittag nicht ruhen.
Immerhin mussten sie nicht alle tatsächlich im Reichstagsgebäude erscheinen, denn die Sitzung wurde in hybrider Form abgehalten, wie der FDP-Abgeordnete Torsten Herbst auf X (ehemals Twitter) schrieb. Er beklagte, dass ausgerechnet viele Grundgesetz-Änderer nur digital zugeschaltet waren. So wären nur zwei Unions-Abgeordnete und kein SPD-Mandatsträger vor Ort erschienen.
Warum hätten sie auch kommen sollen? Die Grundgesetzänderer wollen sich mit ihrem Coup mit dem alten Bundestag in letzter Minute noch eine Schulden-Billion für ihre geplante Regierung sichern. Ihre Steigbügelhalter bekamen dafür nicht nur viel Geld für ihre Klientel, sondern auch noch mit der "Klimaneutralität" ein Teil des Parteiprogramms ins Grundgesetz hinein geschrieben. Ihnen allen war nicht an inhaltlicher Debatte gelegen. Sie strebten das schnelle Durchwinken an. Schließlich sollten die Abgeordneten vor der Abstimmung am Dienstag die Beschlussempfehlung auch noch ordnungsgemäß zugestellt bekommen.
Es fehlten also auch wichtige Inhalte. Nur am Rande wurde beispielsweise über die Tilgung der Rekordschulden gesprochen. „Es gibt keine Peilung bei Tilgung und Zinsen!“, wird FDP-Haushaltsausschussmitglied Torsten Herbst zitiert.
Weder der noch amtierende SPD-Finanzminister Jörg Kukies, noch andere Unions- oder SPD-Abgeordnete hätten wichtige Fragen zu ihrem Antrag beantworten können. „Es ist befremdlich, dass der Finanzminister nicht in der Lage ist, eine grobe Aussage zu machen, wie hoch die zusätzlichen Zinsbelastungen für den Bund in den nächsten 12 Jahren durch diese Mega-Schulden sein werden“, zitiert Bild einen namentlich nicht genannten Oppositionspolitiker aus dem Ausschuss, der offenbar auch bemängelte, dass selbst die genaue Bedeutung des Begriffs „Infrastruktur“ nicht hinreichend geklärt wäre: „Wer 500 Milliarden Euro an neuen Schulden in Infrastruktur pumpen will, der sollte auch in der Lage sein, uns genau zu erklären, was er damit meint.“
Die Rettungsversuche sind zu schwach
Bekanntlich haben nach dieser Sitzung mehrere Abgeordnete einen weiteren Versuch beim Bundesverfassungsgericht gestartet, den für Dienstag geplanten Beschluss der Grundgesetzänderung zu verhindern. Die parteilose Abgeordnete Joana Cotar habe nach eigenen Angaben zum zweiten Mal Einspruch in Karlsruhe erhoben und beantragt, die Abstimmung zu verschieben. Mit demselben Ziel wollen drei FDP-Abgeordnete einen Eilantrag in Karlsruhe stellen. Sie hätten argumentiert, die Beratungszeit für das billionschwere Schuldenpaket reiche nicht aus. „Die Bundesregierung konnte ganz einfache und grundlegende Nachfragen dazu bisher nicht beantworten“, habe der FDP-Finanzexperte Florian Toncar der dpa gesagt. Verfassungswidrig wäre vor allem, dass nur drei Tage vor der endgültigen Abstimmung weitere gravierende Änderungen vorgelegt worden wären, etwa eine Regelung zur Klimaneutralität bis 2045. Das lasse sich in der kurzen Zeitspanne nicht seriös diskutieren und abwägen. Die Beratung im Parlament drohe so zur reinen Formsache zu werden.
Auch die AfD hat wieder Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben. Weil der Ausschussvorsitzende Helge Braun (CDU) keine weiteren Anhörungen erlaubte, beklagt die AfD in ihrem Eilantrag eine bewussten Einschränkung parlamentarischer Rechte, berichtet nius.de.
Derweil hat Sahra Wagenknecht die Kritiker des schwarz-rot-grünen Schuldenpakets aufgerufen, den für Dienstag geplanten Beschluss durch eine Verhinderung der Sondersitzung im alten Bundestag abzuwenden, meldete das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Dies könne man durch einen Antrag von einem Drittel der Abgeordneten des neuen Bundestags auf dessen unverzügliche Einberufung erreichen. AfD und Linke bringen es zusammen auf mehr als ein Drittel der Mandate im neuen Bundestag und könnten dies tun. "Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ablehnung der Eilanträge noch einmal darauf hingewiesen: Der neue Bundestag muss zusammentreten, wenn ein Drittel der Abgeordneten das verlangt“, so die BSW-Chefin weiter. „Dann darf der alte Bundestag nicht mehr tagen und auch nichts mehr entscheiden.“ Aber das nun ausgerechnet die erstarkte Linke als erste über die bisherige Allparteien-Brandmauer gegen die AfD springt, ist wohl nicht zu erwarten.
Auch ist es ebenso unwahrscheinlich, dass das Bundeverfassungsgericht entgegen seiner bisherigen Entscheidungen nun doch noch zur Notbremse greift, und einem der neuesten Eilanträge recht gibt. Da bleibt wohl den Liebhabern des bisherigen Grundgesetzes nur die Hoffnung, dass diese gravierende Änderung an der in der Abstimmung vielleicht fehlenden Zweidrittelmehrheit scheitert.
Die verdrängte Tragweite
Viele Bundestagsabgeordnete sind sich der Tragweite der morgigen Entscheidung vielleicht auch gar nicht hinreichend bewusst. Ihnen wird auch suggeriert, dass es zwar um viel Geld geht, aber das Grundgesetz an sich vollkommen unbeschadet bleibt. Weil das aber gerade nicht so ist, hat sich der Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Dietrich Murswiek, in einem Offenen Brief an alle Mitglieder des Bundestages gewandt, den zuerst nius.de veröffentlicht hat. Darin heißt es u.a.:
"Durch die Aufnahme des Zwecks der „Erreichung der Klimaneutralität bis 2045“ erhält der gemäß dem Gesetzentwurf vorgesehene neue Art. 143h GG eine völlig neue Dimension. Die neue Formulierung kommt plötzlich und überraschend, und man hat den Eindruck, dass den meisten Abgeordneten die mit dieser Formulierung verbundenen verfassungsrechtlichen Implikationen – von den ökonomischen und ökologischen Problemen, die damit verbunden sind, ganz abgesehen – überhaupt nicht bewusst sind. [...] Dem Wortlaut nach dient die Formulierung „zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045“ als Zweckbestimmung für zusätzliche Investitionen, die aus dem Sondervermögen finanziert werden. Es ist aber nicht ersichtlich, wie man Investitionen, die der Vermeidung von CO2-Emissionen dienen, von Investitionen, die der „Erreichung der Klimaneutralität bis 2045“ dienen, unterscheiden soll. Solange Deutschland nicht vollständig CO2-neutral wirtschaftet, dient jede Investition, die CO2-Emissionen vermeidet oder verringert, zugleich der Erreichung der Klimaneutralität bis 2045. Deshalb kann die Aufnahme der „Erreichung der Klimaneutralität bis 2045“ nur den Sinn haben, ein neues Staatsziel in das Grundgesetz hineinzuschmuggeln, ohne dass dies in den parlamentarischen Beratungen als Staatsziel thematisiert und im Hinblick auf seine möglichen Auswirkungen thematisiert und gerechtfertigt wird.
Es besteht das Risiko, dass künftige Klimaschutzklagen dazu führen, dass das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung und dem Bundestag vorschreibt, noch viel weitergehende CO2-Vermeidungspflichten für Privathaushalte (Heizungen), Verkehr (Verbrennerverbot) und Industrie zu beschließen als bisher vorgesehen. Art. 143h GG könnte insoweit vom Bundesverfassungsgericht nämlich als verfassungsrechtliche Konkretisierung des Umweltschutzstaatsziels gemäß Art. 20a GG angesehen werden. Nachdem das Bundesverfassungsgericht sogar ein einfaches Gesetz – das Klimaschutzgesetz – als Konkretisierung des Art. 20a GG angesehen hat, ist diese Annahme naheliegend."
Sein Fazit:
"Damit die Abgeordneten eine informierte und verantwortbare Entscheidung über die vorgesehenen Grundgesetzänderungen, die das weitere Schicksal der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich prägen werden, zu ermöglichen, müsste die Grundgesetzänderung von der Tagesordnung genommen und zunächst ein Termin für eine weitere Sachverständigenanhörung bestimmt werden.
Ich fordere alle Abgeordneten auf: Stimmen Sie mit Nein, wenn die Formulierung „bis 2045“ nicht gestrichen wird und wenn nicht sichergestellt wird, dass aus dem Investitionsfonds nicht mehr als 100 Milliarden Euro für die Erreichung der Klimaneutralität bereitgestellt werden dürfen! Stimmen Sie mit Nein oder bleiben Sie der Sitzung am 18. März fern, wenn Sie die außerordentlich weitreichenden Implikationen der beabsichtigten Grundgesetzänderung nicht überblicken können und deshalb weitere Zeit benötigen, um sich eingehend zu informieren und sich so die Grundlagen für eine verantwortungsbewusste Entscheidung zu verschaffen!"
Gibt es mehr als 30 Mutige?
Möglicherweise gibt es ein paar Mutige in den Reihen von CDU, SPD und Grünen. Zumal etliche von ihnen nicht mehr im neuen Bundestag sitzen und sich deshalb vielleicht weniger an den Fraktionszwang gebunden fühlen.
Der ehemalige CDU-Generalsekretär Mario Czaja hatte bereits am Sonntag angekündigt, der Grundgesetzänderung im Bundestag nicht zustimmen zu wollen. Am Montag wurde gemeldet, dass auch der CDU-Abgeordnete Klaus-Peter Willsch dem Paket nicht zustimmen wolle. Sein Fraktionskollege Jens Koeppen habe angekündigt, der Abstimmung am Dienstag fernbleiben zu wollen und Hans-Jürgen Thies, der im neuen Bundestag nicht mehr vertreten ist, gab sich nach Medienberichten noch unentschieden, erklärte aber: „Man kann nicht von mir erwarten, einen Blankoscheck auszustellen". Union, SPD und Grüne haben im alten Bundestag zusammen 30 Stimmen mehr, als für eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist.
Melden sich noch weitere Abweichler? Werden morgen noch mehr Abgeordnete des eigentlich abgewählten Bundestags nicht zur Plenarsitzung erscheinen, um nicht mitstimmen zu müssen? Es ist unsicher.
Das ganze Verfahren hat einfach das Geschmäckle eines formal legalen Putsches durch Ausnutzung von Gesetzeslücken oder gezielter Überdehnung gesetzlicher Regelungen. Früher wäre dieser Ablauf beim Publikum allenfalls als Drehbuch einer Klamotte über die Demokratie-Simulation in einer Bananen-Republik durchgegangen. Die geschickte Ausnutzung der Übergangszeit vom abgewählten zum gewählten Parlament, um die im Grundgesetz vorgesehene Machtbalance mal kurz außer Kraft zu setzen, um das Grundgesetz ändern zu können, mag vielleicht manchen Politstrategen allein durch seine Frechheit und Herablassung gegenüber dem Souverän beeindrucken. Aber hier ist nicht einmal mehr ein Restbestand von demokratischem Geist vorhanden. Oder sagen wir es in Abwandlung von Walter Ulbrichts bekanntem Diktum: Wir müssen alles in die Hand bekommen, auch wenn es kaum noch demokratisch aussieht.
Als Staatstheaterstück hätte diese Polit-Klamotte sicher einigen Unterhaltungswer. Man sollte sie aber mit besseren Schauspielern besetzen und nur Publikum sein, statt als Bürger von den Folgen betroffen. Mag Deutschland schwächeln, auf einem Gebiet warten seine Regierenden bzw. bald Regierenden derzeit mit ungeahnten Spitzenleistungen auf: in der Disziplin der Verachtung des Souveräns und seiner Interessen.
Hoffnungsträger Aiwanger?
In jedem Fall wird das Stück fortgesetzt. Kommt morgen die nötige Mehrheit zusammen, dann werden alle gebannt auf den Bundesrat schauen, weil die Freien Wähler in der bayerische Koalition mit der CSU den Weg zu Schuldentopf und Klima-Grundgesetz noch blockieren könnten. Auch wenn es nicht besonders aussichtsreich erscheint, auf die Standhaftigkeit eines Hubert Aiwanger zu setzen, ein Rest von Spannung gibt es allemal.
Und sollte das schwarzrotgrüne Vorhaben noch auf dem einen oder dem anderen Wege scheitern, dann wären auch die Koalitionsverhandlungen der Union mit der SPD wohl am Ende. Denn ohne den tiefen Griff in den Schuldentopf lassen sich ihre gemeinsamen Vorhaben nicht finanzieren.
Würde es derweil mit dem Land nicht gerade wirtschaftlich bergab gehen, könnte man diese Aufführungen der verantwortungslosen Verantwortungsträger gelassen verfolgen. Doch leider müssen die Bürger dieses Staatstheater sehr teuer bezahlen.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.