Eine Broschüre zur Europawahl klärt auf: Trump, Orban und Russland sind böse. Die EU hat alles im Griff – auch den vermeintlichen Klimawandel.
Zwar ist der heutige Europatag ausschließlich in Luxemburg und im Kosovo ein gesetzlicher Feiertag, aber in Deutschland wird wenigstens an allen Dienstgebäuden die Europaflagge gehisst. Und das Europäische Haus in Berlin hat für heute eine besondere Seifenblasenshow angekündigt. Mit Seifenblasenshows kennt man sich eben aus in Berlin. Außerdem hat das Europäische Parlament über sein Verbindungsbüro in Deutschland punktgenau eine neue Broschüre mit dem Titel „Europa 2025/26“ veröffentlicht, in der erklärt wird, „wie die europäische Demokratie funktioniert“. Dazu gibt es ein Lehrerheft, das Unterrichtsmaterialien zum Thema Europäische Union enthält. Die Broschüre umfasst rund 100 Seiten, das Lehrerheft knapp 40. Beide können kostenlos bezogen werden. Um es vorwegzunehmen: Die Veröffentlichungen kombinieren seriöse und professionell aufbereitete Informationen mit als Wahrheit verkauften zeitgeistigen Ideologien. Raffinierte Indoktrination also.
Im Mittelpunkt der Broschüre steht eine fiktive Europaabgeordnete, die seit ihrer Wahl ins Europaparlament im Juni 2024 bei ihrer Arbeit in den Ausschüssen und der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments begleitet wird. „Diesmal liest sich die Broschüre fast wie ein Roman“, heißt es denn auch vollmundig im Newsletter des EU-Parlaments.
Und es wird versprochen: „Broschüre und Lehrerheft verschaffen einen tiefgehenden Einblick in die Arbeit einer Europaabgeordneten sowie hinter die Kulissen des Europäischen Parlaments.“ Das Lehrerheft ist in 7 Module gegliedert und bietet Beispiele für praktische Unterrichtsstunden, EU-Quizze sowie Hinweise auf Wettbewerbe und zum Besuch im Europäischen Haus in Berlin. Dabei widmet sich das Heft unter anderem auch dem Umgang mit Desinformation.
Werfen wir also zunächst einen Blick ins Lehrerheft. Hier wird völlig korrekt dargelegt, dass im Laufe von über 60 Jahren aus der Montanunion die Europäische Union mit zurzeit 27 Mitgliedstaaten und rund 450 Millionen Unionsbürgern entstanden ist. Zur Erinnerung: Der Europatag bezieht sich auf eine Rede, die der damalige französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 in Paris hielt und die als Anstoß zur Gründung der EU gilt.
Ein kleiner Seitenhieb gegen Trump
Schuman schlug vor, eine überstaatliche europäische Verwaltung der Kohle- und Stahlproduktion und damit eine neue Zusammenarbeit in Europa zu schaffen, um Kriege zwischen den europäischen Nationen unvorstellbar zu machen. Auch der Hinweis, dass Europa und die EU nicht dasselbe sind, ist korrekt und wichtig. Allerdings sollen die Schüler aus dieser Unterrichtseinheit offenbar vor allem mitnehmen, dass die Mitgliedstaaten der EU sich in einer Union zusammengeschlossen haben, „um zusammen gemeinsame Ziele zu erreichen“. Und es wird hervorgehoben, dass die EU 2024 mit 449,2 Millionen Einwohnern eine größere Bevölkerung hatte als die USA mit 345,4 Millionen. Da drängt sich für politisch korrekte Lehrkräfte ein kleiner Seitenhieb gegen Trump und seinen Slogan „Make America Great Again“ doch geradezu auf.
Im Modul zum Binnenmarkt als einem „Herzstück der europäischen Integration“ geht es dann gleich um das Thema Zölle. Hier ist zu lesen: „Gelegentlich werden Zölle auch als Strafmaßnahmen gegen andere Länder eingesetzt, um ein politisches Wohlverhalten zu erzwingen. So hat der 2024 erneut gewählte amerikanische Präsident Donald Trump angekündigt, Strafzölle gegen Kanada und Mexiko verhängen zu wollen, um sie zu einer Änderung ihrer Migrationspolitik zu zwingen.“ Lässt sich da von der Lehrkraft nicht schnell ein wenig Empörung entfachen? Dann wird noch mitgeteilt, dass Deutschland im Jahr 2023 Güter im Wert von 1.590,1 Milliarden Euro (also eine Billion und 590 Milliarden Euro) ins Ausland geliefert hat, was rund 38 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Insgesamt waren es in der EU Güter im Wert von 2.553,6 Milliarden Euro. Daher sei es relevant, zollfrei in andere Länder exportieren zu können. Dadurch würden im eigenen Land viele Arbeitsplätze gesichert.
Zwar habe die Europäische Union Ende Oktober 2024 Zölle auf chinesische Elektroautos beschlossen, doch hierbei gehe es lediglich um Fairness. Und Valdis Dombrovskis, EU-Kommissar für Wirtschaftlichkeit und Produktivität, wird mit den Worten zitiert: „Die EU bleibt der weltweite Verfechter eines offenen, fairen und regelbasierten Handels. Wir begrüßen den Wettbewerb, auch im Bereich der Elektrofahrzeuge, aber er muss durch Fairness und gleiche Wettbewerbsbedingungen untermauert werden. Mit der Verabschiedung dieser verhältnismäßigen und gezielten Maßnahmen nach einer strengen Untersuchung setzen wir uns für faire Marktpraktiken und für die industrielle Basis Europas ein.“
Gewollt irreführend
Fazit: Was bei Trump böse ist, ist bei der EU gut. Das Modul 3 ist erschreckenderweise überschrieben mit „,Wir vertreten das Volk‘ – Das Europäische Parlament“. Volk? Gut, dass der deutsche Verfassungsschutz nicht für die gesamte EU zuständig ist. Da müsste sich das EU-Parlament warm anziehen. Wenigstens wird sofort klargestellt: „Dass das Europäische Parlament kein ,richtiges Parlament‘ sei, ist eine falsche Einschätzung, die jedoch in der Öffentlichkeit weit verbreitet ist.“ Und offenbar gewollt irreführend wird behauptet: „Das Europäische Parlament beschließt Verordnungen und Richtlinien im sogenannten ,ordentlichen Gesetzgebungsverfahren‘.“ Damit wird suggeriert, dass das Parlament selbst Gesetzesvorschläge entwickeln kann. Dem ist aber bekanntlich nicht so.
In der Broschüre, die sich ausdrücklich auch direkt an Schüler richtet, wird der Ablauf immerhin richtig, wenn auch beschönigend dargestellt: „Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren in der Europäischen Union: 1. Die Europäische Kommission legt einen Gesetzesvorschlag vor. 2. Der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament befassen sich damit in der sogenannten ersten Lesung. 3. Wenn alle einverstanden sind, ist das Gesetz beschlossen. 4. Falls nicht, kommt es zu einer zweiten Runde, in der über Änderungen diskutiert wird, das ist die sogenannte zweite Lesung. 5. Erzielen die beiden Organe auch in der zweiten Lesung keine Einigung, wird ein Vermittlungsausschuss einberufen. 6. Mit dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses befassen der Rat und das Parlament sich in einer dritten Lesung. Falls sie sich nicht einigen können, kommt das Gesetz nicht zustande.“
Die Lehrkraft soll jedoch in erster Linie vermitteln, dass das EU-Parlament ein „richtiges Parlament“ ist. Auch die Tatsache, dass das Europäische Parlament nach dem Grundsatz der „degressiven Proportionalität“ zusammengesetzt ist, bei der kleinere Staaten im Verhältnis überproportional vertreten sind, wird als eher unproblematisch behandelt.
Es hat sie nur „um ein Haar“ ihr Amt gekostet
In Modul 6A geht es dann um Fake News, wobei auf eine kostenlose Veröffentlichung der SRH-Fernhochschule (Euro-FH) verwiesen wird. Hier erfährt man, dass zu Fake News auch satirische Nachrichten gehören, die bewusst humoristisch und kritisch seien, jedoch missverstanden werden könnten, wenn der satirische Kontext nicht erkannt werde. Außerdem wird vor Fake News im Gesundheitswesen gewarnt. Als Beispiel werden „Verschwörungstheorien bezüglich der Herkunft und Verbreitung“ des Corona-Virus genannt, die zu „Verwirrung und Misstrauen gegenüber wissenschaftlich fundierten Empfehlungen und Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie“ geführt hätten. Kein Hinweis darauf, dass die angebliche Verschwörungstheorie vom Laborursprung des Virus mittlerweile längst etabliert ist.
Immerhin wird im Lehrerheft ein echtes Beispiel für Fake News angeführt. Wenn auch anonymisiert, wird berichtet: „Die Präsidentin einer Berliner Universität hatte Mitte 2024 einen Post ,geliked‘, mit dem sie Solidarität mit den Menschen in Gaza ausdrücken wollte. Sie hatte dabei aber übersehen, dass in dem dazu gehörenden Bild Demonstranten eindeutig antisemitische Inhalte zur Schau stellten. Das hätte die Professorin um ein Haar ihr Amt gekostet. Sie entschuldigte sich öffentlich und meldete sich von den sozialen Plattformen ab.“ Ob es wohl Schüler gibt, die nachfragen, warum „das“ die Professorin nur „um ein Haar“ ihr Amt gekostet hat?
In der Broschüre selbst wird ein praktischer Überblick über die im Europäischen Parlamemt vertretenen Fraktionen, über ständige Ausschüsse, Unterausschüsse und Sonderausschüsse, über die Institutionen der EU sowie über die Kommissionsmitglieder gegeben. Ebenfalls informativ fällt die Erklärung der zwei Arten von europäischen Gesetzen aus: Verordnungen und Richtlinien. Verordnungen schaffen unmittelbar anwendbares Recht. Richtlinien hingegen geben nur die Ziele vor, die die Mitgliedstaaten durch nationale Gesetze erreichen müssen.
Es hat keine „geringe politische Reaktion“ gegeben
Dann wird es jedoch wieder ideologisch. Zu Grafiken, aus denen ersichtlich ist, dass ein großer Teil des EU-Haushalts 2024 (Zahlungen in Höhe von rund 54 Milliarden Euro) für „Natürliche Ressourcen und Umwelt“ ausgegeben wird, ist zu lesen: „Überschwemmungen, Wassermangel, Stürme, Waldbrände, Rekordhitze und der Anstieg des Meeresspiegels – der Klimawandel ist längst auch in Europa und in Deutschland deutlich spürbar. Viele junge Menschen, vor allem Schülerinnen und Schüler, haben deshalb freitags statt zum Unterricht zu gehen für den Klimaschutz demonstriert („Fridays for Future“). Während die Freitagsdemos anfangs massiv waren und Hunderttausende Demonstranten auf die Straßen brachten, ist die Teilnahme an den Streiks zurückgegangen. Insbesondere die Enttäuschung über die geringe politische Reaktion auf ihre Forderungen hat dazu geführt, dass viele Teilnehmende das Interesse an den wöchentlichen Protesten verloren haben.“
Das ist natürlich Bullshit. Es hat keine „geringe politische Reaktion“ gegeben. Ganz im Gegenteil. In Deutschland hat die vergangene Bundesregierung bekanntlich sogar 100 Milliarden Euro aus dem „Sondervermögen“ in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) verschoben. Die „Klimaneutralität bis 2045“ taucht damit erstmals explizit im Grundgesetz auf. Dennoch wird gebetsmühlenartig wiederholt, dass die Ursache der Klimaveränderungen, nämlich der Temperaturanstieg, bereits nicht mehr rückgängig zu machen sei und deswegen wenigstens eingedämmt werden müsse.
Statt über den angeblichen wissenschaftlichen Konsens zum Thema Klimawandel zu diskutiern, wird den jungen Menschen also eine Klimawandel-Angst eingebläut. Danach wird die EU dann als Retterin aus der Not dargestellt. Der „Europäische Grüne Deal“ verfolge nämlich als eine Art Masterplan einen ganzheitlichen Ansatz zur Eindämmung des Klimawandels. Er verkünde nicht nur Absichten, sondern setze klare Verpflichtungen und Orientierungspunkte. Und tatsächlich haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union bereits 2021 ein Klimagesetz beschlossen, das den rechtlichen Charakter einer Verordnung hat. Damit ist das Ziel, die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2050 auf null zu reduzieren, für alle Mitgliedstaaten rechtsverbindlich.
Nicht nur auf Zahlen, sondern auch Emotionen
Weiter wird angemahnt, dass der „grüne Wandel“ jedoch nicht alleine von der EU oder den nationalen Stellen umgesetzt werden könne. Alle Bürgerinnen und Bürger könnten und müssten etwas tun. Deshalb habe die Europäische Kommission im Dezember 2020 den Europäischen Klimapakt angestoßen. Damit will sie die Zivilgesellschaft aktiv in den Klimaschutz einbinden. Der Europäische Rat hat im Dezember 2020 außerdem bekräftigt, dass mindestens 30 Prozent des Haushalts für die Jahre 2021 bis 2027 („Mehrjähriger Finanzrahmen“, kurz: MFR), sowie der Mittel zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Pandemie („NextGenerationEU“, kurz: NGEU) für Klimaschutzmaßnahmen bereitgestellt werden müssten.
Insgesamt stehen der EU zwischen 2021 und 2027 übrigens über zwei Billionen Euro (2.018.000.000.000 Euro) zur Verfügung. Für den Haushaltsplan 2024 bedeutet das: 142,6 Milliarden Euro für aktuelle Zahlungen und 189,4 Milliarden Euro für bestehende Verpflichtungen. Wegen der Belastungen durch den russischen Krieg gegen die Ukraine und steigender Zinsen hat Kommissionpräsidentin von der Leyen die Mitgliedstaaten allerdings um weitere 66 Milliarden Euro gebeten.
Natürlich setzt die Broschüre nicht nur auf Zahlen, sondern auch auf Emotionen. So wird das Klima-Kapitel zum Beispiel mit einem Foto illustriert, das ein selbstgemaltes Demonstrationsschild mit der Aufschrift „One World“ zeigt. Und in einem fiktiven Dialog fragt eine Schülerin: „Mehr Waffen bedeuten doch mehr Tote und Verletzte. Warum macht die EU das?“ Woraufhin ein Schüler aus der Ukraine antwortet: „Ja, das stimmt. Aber wenn die Ukraine sich nicht mehr verteidigen kann, besetzt Russland unser ganzes Land – und greift vielleicht bald auch Euer Land an.“ Warum hier der Pluralis Majestatis verwendet wird, bleibt offen.
Die Schüler haben hoffentlich gelernt
Schließlich wird noch eine mögliche Reform der Europäischen Union thematisiert und argumentiert, dass die EU zwar neben den USA und China einer der größten Wirtschaftsräume der Welt sei, im Vergleich zu anderen Regionen jedoch zunehmend an Boden verliere. Grund dafür sei vor allem, dass die EU manchmal Schwierigkeiten habe, mit einer Stimme zu sprechen. Deswegen müssten die Entscheidungsverfahren der EU schneller werden. Viele Entscheidungen können derzeit laut den EU-Verträgen nur einstimmig getroffen werden.
Noch. Denn bei mittlerweile 27 Mitgliedstaaten lägen die Interessen oft zu weit auseinander, was dazu führe, dass sich nicht alle Staaten an allen Projekten gleichermaßen beteiligen wollen. Es sei daher nötig, in möglichst vielen Bereichen auf Mehrheitsentscheidungen umzusteigen. Das bedeute, dass nicht nur die EU selbst demokratisch organisiert sein müsse, sondern sich auch alle Mitgliedstaaten an die Regelnder Rechtsstaatlichkeit halten müssten. Das sei aber bei Ungarn derzeit nicht der Fall, weshalb die Europäische Kommission beschlossen habe, europäisches Geld, das eigentlich an Ungarn gezahlt werden sollte, zurückzuhalten. Dabei geht es um 16 Milliarden Euro bis Ende 2024.
Nun ist die Grenze zwischen Guten und Bösen endgültig klar gezogen. Und die Schüler haben hoffentlich gelernt: Trump ist böse, die EU ist gut. Orban ist böse, die EU ist gut. Der Klimwandel ist neben Russland der größte Feind der EU. Aber die EU rettet uns alle durch ihren moralisch hervorragenden Green Deal. Dass dabei die Energieversorgung, die Industrie und der Wohlstand Europas zerstört werden, erfahren die Schüler vorsichtshalber nicht. Warum auch? Die EU hat doch alles im Griff!
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.