Wo und wann ist mir entgangen, dass die SPD in Sachen Russland und Putin falsch abgebogen ist? Diese Frage stellte ich mir beim Lesen des Buches „Die Moskau-Connection“. Es ist eine Kritik an Gerhard Schröders Pro-Putin-Kurs. Und ein Anlass für mich, aus der Perspektive eines ehemaligen sozialdemokratischen Politikers, meine SPD-Geschichte noch einmal lebendig werden zu lassen. Sie begann unter der SED.
„Du weißt nicht, was der späte Abend bringt“ – Marcus Terentius Varro 116–27 v. Chr.
Dies ist keine der üblichen Rezensionen. Vielmehr nutze ich die Recherchearbeit der Autoren Bingener und Wehner zur Reflexion eigener Positionen, Weichenstellungen und Erlebnissen im politischen Raum. Seit Kindesbeinen fühlte ich mich als Sozialdemokrat ohne Parteibuch. In einem sehr politischen Elternhaus mit großen Widerwillen gegenüber Nationalsozialismus und Kommunismus aufgewachsen, wurde ich früh politisiert. Die kämpferischen und demokratisch klaren Mai-Reden des Regierenden Bürgermeisters des Freien Teils Berlin, des NS-Gegners, Antikommunisten und Sozialdemokraten Willy Brandt, hörten mein Bruder und ich mit dem Vater immer mit. Wir lernten sehr früh, zu Hause anders zu reden als in der Schule. Zwischen den Zeilen lesen, wurde gut trainiert.
Den Sechs-Tage-Krieg 1967 erlebte ich als ein weiteres Schlüsselerlebnis. Mein Held in jungen Tagen wurde der israelische Verteidigungsminister Mosche Dajan, ein Sozialdemokrat. Dann kam Helmut Schmidt, wiederum ein Sozialdemokrat. Der Hamburger, den ich seit der Sturmflut 1961 in guter Erinnerung hatte, verstand etwas von Wirtschaft und vor allem: Er stand gegen den Terrorismus von RAF und Palästinensern. Stärksten Eindruck hinterließ er bei mir mit seiner auf Guadeloupe 1979 entstandenen Idee der Doppelten Nulllösung (Verzicht auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs auf neue und zusätzliche Waffensysteme und Erzwingung des Vorgangs mittels der Androhung und Realisierung der westlichen Nachrüstung nicht nur auf westdeutschem Gebiet), die als NATO-Doppelbeschluß erfolgreich in die Geschichte eingegangen ist. Verhandeln ohne eine eigene starke militärische Position, das war Schmidts Vorstellung von gleichgewichtiger Friedenspolitik nicht. Dafür war ich ihm dankbar. Als SPD-Mann und Einheitsbefürworter gab ich mich Freunden gegenüber schon früh in den 70er Jahren zu erkennen. Das war keineswegs risikolos. Ich hatte Glück.
Schmidt stand zu seiner Idee und verlor 1982 darüber seine Kanzlerschaft. Seine Partei folgte ihm nicht mehr. Durch den Eisernen Vorhang hindurch bekam ich nicht so mit, wie es tatsächlich ablief. Mein Bild von der SPD wäre sicher ein anderes geworden. Zwar nahm ich Eppler als schräg wahr, verstand Brandts 80er Jahre Sowohl-Als-Auch-Lavieren nicht richtig und erlebte die prokommunistische Juso-Avantgarde der SPD nicht hautnah, doch vermochte mich das alles nicht vom SPD-Sympathisanten zum SPD-Kritiker zu verwandeln.
Anders als z.B. Arnold Vaatz durchlitt ich keinen DDR-Knast und musste mir daher nicht den Hohn der Gefängniswärter anhören. Diese Knechte brüllten Arnold Vaatz und den meisten politischen Gefangenen ins Gesicht:
„…bald käme in Westdeutschland ein SPD-Kanzler an die Macht, der die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen und Salzgitter [gemeint war die „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltung“] schließen wird! Ihr müsst euch also keine Hoffnung darauf machen, dass die euch dann noch in den Westen holen werden und ihr irgendwas Juristisches gegen uns in der Hand haben werdet.“
Arnold Vaatz musste bei diesen Aussichten niemand mehr mit SPD kommen. Sein Urteil über die Partei stand fest. Der Christdemokrat und sträflich unterschätzte Helmut Kohl nahm Schmidts Doppelte Nulllösung auf und brachte sie durch den Bundestag. Der erste Abrüstungsvertrag über nukleare Kurz- und Mittelstreckenwaffen zwischen den USA und der Sowjetunion, der INF-Vertrag von 1987 war ein Erfolg der Sozialdemokraten um Helmut Schmidt und natürlich einer der Unionsfraktionen um Helmut Kohl.
Man musste militärisch gleichwertig sein
Elf Jahre später – 1990 – bestätigte Michail Gorbatschow Helmut Schmidt gegenüber, dass Schmidt mit seiner Doppelten Nulllösung 1979 richtig lag. Die Sowjetunion war vor dem Doppelbeschluss in Mitteleuropa militärisch ungleich stärker als die NATO gerüstet, das vor allem atomar. Wer mit Moskau redete, musste militärisch gleichwertig oder besser noch stärker sein. Nur diese Sprache verstand der Kreml. Ronald Reagan, Helmut Schmidt und Helmut Kohl wussten das.
Ostdeutschland 1953, Ungarn und Polen 1956, CSSR 1968 – auch 1989 war für realistische Zeitgenossen klar, der russische Bär könnte jederzeit zurückkommen. Ein aus Putschistensicht gelungener Putsch in Moskau am 19. August 1991 hätte das Fenster zur sicheren Freiheit in der Deutschen Einheit geschlossen, wenn es diese Einheit zu dem Zeitpunkt nicht schon knapp elf Monate gegeben hätte. Auch die Ukraine hätte ihre Volksabstimmung am 1. Dezember 1991 über ihre Souveränität nicht abhalten können. Viel Blut wäre damals geflossen, hätte ein Putin die Zügel in der Hand gehalten.
Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde immer offensichtlicher, dass sich der wirtschaftliche Zwerg und gleichzeitige militärische Riese Sowjetunion in völlig hoffnungsloser Lage befand. Das Dilemma aus wirtschaftlichem Tiefpunkt und gleichzeitiger atomarer/militärischer Hochrüstung wurde mit der NATO-Nachrüstung für die wirtschaftlich und gesellschaftlich erstarrte Sowjetunion existenziell.
Die NATO-Nachrüstung zwang Moskau zum militärischen und wirtschaftlichen Offenbarungseid. Deutlich wurde das mit dem sowjetischen Einverständnis zum INF-Vertrag von 1987. Darin verpflichteten sich die Vertragspartner USA und Sowjetunion zur Vernichtung aller atomaren Mittel- und Kurzstreckenraketen. Michail Gorbatschow hatte das alles erkannt und wollte mittels Offenheit (Glasnost) und Wiederaufbau (Perestroika) der Sowjetunion einen Reset verpassen und zur westlichen Welt unter den Bedingungen von Freiheit und Demokratie aufschließen.
Die Sowjetbürger konnten sich nun erstmals seit 1917 ungehindert mit der verbrecherischen Geschichte des Weltkommunismus und des eigenen Staates beschäftigen und über marktwirtschaftliche Alternativen zum kommunistischen Wirtschaftssystem informieren. Gorbatschow wollte die Sowjetunion retten, indem er sie öffnete. Außenpolitisch ersetzte er die Breschnjew-Doktrin durch die Sinatra-Doktrin und gab so den Staaten des Ostblocks die Chance auf einen eigenen Weg zu Freiheit, Demokratie, Wohlstand und Sicherheit. In Ostdeutschland gelang ihm das besser, im Baltikum ließ er anfänglich schießen.
1988 antwortete Helmut Schmidt in einem ARD-Interview anlässlich seines bevorstehenden 70. Geburtstages auf die Frage, was er über die Deutsche Frage denke, sinngemäß: „Ob er die Wiedervereinigung noch erleben würde, das wisse er nicht. Doch kommen würde sie.“ Ich war begeistert.
In der SPD sollten statt Gorbatschows elf Jahren von 1987 zu 1990 sogar zweiundzwanzig Jahre vergehen, bis sich ein Fraktionsvorsitzender, Peter Struck, 2001 vor der gesamten Fraktion bei Helmut Schmidt für sein Demonstrieren gegen Schmidt und gegen die Doppelte Nulllösung in den 80er Jahren entschuldigte.
Friedliche Revolution und Deutsche Einheit
Die andere SPD, die linkere, lernte ich erst nach 1989 kennen. Voll des Hochgefühls aus dem Erfolg der Friedlichen Revolution gegen eine Diktatur kommend, war ich damals jedoch optimistisch, die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der SPD gemeinsam mit vielen Gleichgesinnten beeinflussen zu können. Der Einfluss des linken sozialistischen Flügels sollte nicht noch mehr anwachsen, die SPD sollte wieder eine Partei der Deutschen Einheit werden und das dann auch bleiben! So mein Wunsch.
Ein Jahrzehnt gelang das mit vielen Freunden halbwegs und heute über dreißig Jahre später muss ich konstatieren: Den Prozess der SPD ins politische Nirwana konnten wir verlangsamen, aufhalten konnten wir ihn nicht. Zum Glück war die SPD 1989 aber noch zu zwei Dritteln pro Deutsche Einheit sensibilisiert. Das östliche Aufbegehren für die Freiheit und gegen den realen Sozialismus weckte die Sozialdemokratie auf diesem emotionalen Boden gerade noch zur rechten Zeit auf. Wenige Jahre später mit einem Oskar Lafontaine oder einem Gerhard Schröder möglicherweise sogar als Bundeskanzler an der Spitze einer Bundesregierung hätte es keine offenen Türen mehr für die Ostdeutschen in die Deutsche Einheit und damit in die Sicherheit vor Moskaus Pranken gegeben. In jeder ostdeutschen Kreis- und Bezirksstadt stünden heute Putins Soldaten auf der Wacht an der Elbe über uns.
Doch 1989 standen zwar Lafontaine und Schröder in den Startlöchern, den Kurs der SPD oder gar der Bundesrepublik wesentlich steuern, das konnten sie nicht. Die auf dem politischen Altenteil gewähnten Willy Brandt und Helmut Schmidt gaben plötzlich wieder den Takt mit vor, wurden stärker nachgefragt. Welch Glück! 1989/90 vermutete ich naiv, die beiden deutschlandpolitischen Geisterfahrer Schröder/Lafontaine waren nur aus opportunistisch kalkulierten Gründen gegen die Einheit. Mit Lesen dieses Buches denke ich, die standen fest gegen die Einheit, weil sie eher auf Seiten unserer Unterdrücker in Ostberlin und Moskau und in deren internationalen Kampf gegen die Vereinigten Staaten angedockt waren. Ich unterstellte den Herren und ihren Anhängern lediglich taktische Verstellung, tatsächlich waren sie auf unsägliche Art ehrlich. Welch Abgründe!
Gemeinsam mit den Seeheimern um Annemarie Renger, Gerd Andres, Rudolf Purps, Hans-Jürgen Wischnewski, Hans Büchler und vielen anderen konnte das Schiff SPD-West 1989/90 auf den Einheitswunsch der ostdeutschen Sozialdemokratie und den der meisten Ostdeutschen Richtung Deutsche Einheit bewegt werden. In der Bundestagsfraktion, auf die es parlamentarisch viel stärker ankam als auf die Partei, waren die Verhältnisse zum Glück stark zugunsten der staatlichen Einheit fokussiert.
Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und Co. wollten die Einheit nicht, konnten nichts damit anfangen. Eine eigenständige DDR, weiterhin unter Führung einer angeblich reformierten SED und deren ebenso „reformierten“ politischen Geheimpolizei MfS/AfNS, lag ihnen näher. Mit der Opposition in der DDR und im gesamten Ostblock hatten sie nichts am Hut. Ihr Herz schlug damals wie heute für Moskau. Das ahnten viele meiner Freunde einschließlich meiner Person 1989/90 nicht. Diese Vorstellung war uns zu absurd, nicht von dieser Welt.
Wieder auf die Barrikaden gebracht
Behauptungen dieser Art aus anderen Parteien auf die SPD gemünzt, tat ich energisch als gegnerische Wahlkampfrhetorik ab. Auf die Idee, dass diese westlichen Demokraten, Sozialdemokraten Kommunismus- oder Sowjetunionaffin waren, wäre ich nicht gekommen. Dass diese scheinbar wichtigen Politiker keinerlei Bezug zu den Grundlagen ihrer eigenen Sicherheit besaßen, dass sie überhaupt nichts vom Hitler-Stalin-Pakt und von der Unsichtbarmachung der Völker zwischen Deutschland und der Sowjetunion begriffen hatten, das war für uns hinter dem „Eisernen Vorhang“ einfach nicht anzunehmen. Für so fahrlässig hielten wir diese Ritter der traurigen SPD-Gestalt nicht.
Im Kern ging es um den antitotalitären Konsens. Die Ost-SPD gründete sich deutlich auf diesem Konsens fußend. „Nie wieder Nationalsozialismus, nie wieder Kommunismus/Sozialismus!“. In der West-SPD vertraten allenfalls die Seeheimer diese Position. Die Parlamentarische Linke (PL) und ihre Apologeten um Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Heidemarie Wieczoreck-Zeul u.v.a. waren hier Totalausfall.
Ursprünglich hatte ich den Vorsatz, nach dem freiwilligen Ausscheiden aus dem Bundestag 2009 der SPD das Leben nicht schwer machen zu wollen und „die machen lassen, was sie für richtig hielten“. Mit dem Verlassen des antitotalitären Konsenses auf dem Leipziger Parteitag im November 2013 brachte mich meine Partei wieder auf die Barrikaden. Die SPD beschloss ausgerechnet in Leipzig, fortan auch Koalitionen mit Linksaußen auf Bundesebene zu ermöglichen. Stand die SPD bis dahin wenigstens noch mit ihren Grundsätzen auf dem Boden der wehrhaften Demokratie gegen Rechts- und Linksaußen, so kündigte sie diese rechtsstaatliche Position damals unverblümt auf. Der Durchmarsch der westlichen 68er mit ihrem unkritischen Blick auf das frühere Sowjetimperium war damit in der SPD abgeschlossen.
Ich schildere das alles so ausführlich, weil ich mich selbst vor dem Lesen des Buches von Reinhard Bingener und Markus Wehner befragte, wo und wann mir die Falschabbiegung der SPD in Sachen Russland und Putin entgangen ist. Im Bundestag war ich im Haushaltsausschuss und dort nacheinander als Berichterstatter für Justiz, Innen, Bau und Verkehr und zuletzt im Ältestenrat zuständig. Die Belange der Einzelpläne Verteidigung und Wirtschaft waren mir bekannt, doch nicht so intensiv wie die von mir bearbeiteten Haushalte. Hier galt der Vertrauensvorschuss für die eigenen Kollegen, die diese Haushalte bearbeiteten.
In der Fraktion wurden die Abbiegungen in ihrer Tiefe als solche nicht bekannt. Das rutschte vorbei. Unsere Außen-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitiker hätten Alarm schlagen müssen, wäre es ihnen gegen den Strich gegangen. Ist nicht passiert. Und den ganz großen Energieklamauk seit dem Seebeben vor Fukushima 2011 mit Ausstieg aus Atom und Kohle bekam ich nicht mehr als Abgeordneter mit. 2009 schied ich freiwillig aus dem Bundestag aus.
Die Toskana-Fraktion
Nach dem Mauerfall lernten sich west- und ostdeutsche Sozialdemokraten erstmals persönlich kennen. Die Aha-Erlebnisse waren auf beiden Seiten groß an der Zahl. Nach der ersten Freude über die neuen Möglichkeiten kamen die ersten Feststellungen überein- und miteinander. Der Anspruch, ein Volk und eine politische Bewegung, die Sozialdemokratie, zu sein, wurde schnell auf Bewährungsproben gestellt. Die Sichtweisen waren aufgrund vierzig Jahren unterschiedlicher Entwicklungen oft nicht passfähig, Begriffe besaßen unterschiedliche Bedeutung. Was Diktatur ist, wussten die Freunde im Westen aus der Literatur und von ihren Eltern und Großeltern, die im Osten hatten es erlebt.
Die Toskana kannte die Ostdeutschen nicht, in der SPD gab es Hedonisten, die sich rühmten, die Toskana besser zu kennen als Ostdeutschland. Was ja kein Wunder und denen im Westen zu gönnen war. In die Zone fahren war kein Vergnügen, nach Italien reisen dagegen schon. Die deutlich heraushörbare Attitüde des besseren Italienkennens war es, die abstoßend war. Die inhomogene und keineswegs nur auf die SPD-West beschränkte Gruppe wurde gemeinhin Toskana-Fraktion genannt. Subsumiert wurden darunter vor allem linke Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Heidemarie Wieczoreck-Zeul. Zu denen hatte ich keinen Draht. Es war eine andere, mir idiotisch scheinende Bagage.
1993 fiel Björn Engholm einer Parteiintrige zum Opfer. Die große SPD-Hoffnung für die kommende Bundestagswahl 1994 war dahin. Meine Enttäuschung war immens, gerade gegenüber den SPD-Kreisen, die mittel- und unmittelbar daraus Nutzen zogen. Ich stellte einen Antrag auf die Einsetzung einer parteiinternen Untersuchungskommission unter Vorsitz Helmut Schmidts. Die schmutzigen Finger sollten bekannt werden. Freunde schuf ich mir damit nicht, vom Misserfolg meines Antrags ganz zu schweigen (siehe „Gerhard Schröder 2022 und die Urwahl des SPD-Vorsitzenden 1993“).
Bingener/Wehner: „Die Darstellung umfasst im Kern die Zeit von 1998 bis 2022, also von der Wahl Gerhard Schröders zum Kanzler bis zum vollständigen russischen Angriff auf die Ukraine.“ (S.9).
Mir sagte, wie ich oben bereits beschrieb, Gerhard Schröder bis 1989 wenig bis nichts. Das änderte sich erst nach dem Mauerfall und den ersten Kontakten mit Hannoveraner SPD-Mitgliedern.
Grüne und ihre Anti-Einheitsrhetorik
Ihm trauten seine regionalen Sozis eine Koalition mit den Grünen zu, was mich dem Mann entfremdete, noch bevor ich ihn überhaupt kennenlernte. Die Grünen mit ihrem Gewusel gegen Atomkraft, gegen NATO und ihrer Anti-Einheitsrhetorik konnten mir gestohlen bleiben. Und mit diesen Leuten wollte der mögliche Niedersachsenwahlsieger 1990 koalieren? Ihn sortierte ich nicht zu meinen Freunden in der SPD. Nach 1990 nahm ich ihn dann als Stänkerer gegen die Bundestagsfraktion wahr. Wo die Fraktion in Asylfragen vor dem Hintergrund der Masseneinreise vom Balkan für Gesetzesanpassungen stand, trat er öffentlich immer für die Wahrung der ungebremsten Zuwanderung ein. Sobald Björn Engholm, der für striktere Regeln eintrat, sein Amt als Parteivorsitzender abgab, wandelte sich Gerhard Schröder quasi über Nacht zum Änderungsbefürworter!
Leute, die Themen nicht grundsätzlich, sondern rein opportunistisch behandeln, waren mir schon immer zuwider. 1993 festigte sich so mein Urteil über Gerhard Schröder. In der Mitgliederbefragung über den Parteivorsitz stimmte ich für Rudolf Scharping. Der war mir zwar in seinen Standpunkten eher unbekannt, doch das, was ich über Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul inzwischen sehr gut selbst wusste, das gab den Ausschlag für Scharping. Die Mehrheit der SPD-Mitglieder sah das damals genauso.
1997/98 stand die SPD vor der Entscheidung, Oskar Lafontaine oder Gerhard Schröder als Spitzenkandidaten in die Bundestagswahl zu schicken. Die Wahl fiel auf Letzteren, was auch ich richtig fand. Nicht aus plötzlicher Sympathie für ihn, sondern im Wissen darum, dass mit Lafontaine keine Chancen bestünden, den nächsten Bundeskanzler zu stellen.
In meiner Achtung stieg Gerhard Schröder erst ab 2003 und der AGENDA 2010. In dieser Diskussion schien er mir zum ersten Male überhaupt mit Herzblut zu brennen. „Fördern und Fordern“ war nach meinem Dafürhalten das Zurückkommen zur vernünftigen SPD.
2022 schrieb ich zu Gerhard Schröder folgendes:
„1997 stand vor der SPD die Frage, wer im Bundestagswahlkampf 1998 führen sollte. Die Entscheidung fiel zugunsten Gerhard Schröder. Was sich als richtig erwies. Schröder zog bei den Wählern zwei Drittel, Lafontaine ein Drittel. Obgleich mir Gerhard Schröder wesentlich mehr lag als Oskar Lafontaine, den ich nie verstand, war ich kein Schröder-Mann. Schröder passte mir charakterlich nicht und ich hatte auch seine Rolle gegen Engholm nicht vergessen.
Mit Gerhard Schröder ging ich erst im Zuge der AGENDA 2010 d‘accord. Fördern und Fordern ist zutiefst sozialdemokratisch im Ansatz. Seit seinem Ausscheiden 2005 und besonders seit seinem Job für den KGB-Mann in Moskau ist er mir wieder so fremd wie vor 1997. Und was jetzt alles rauskommt über ihn und Russland, das widert mich an.“
Lesen Sie morgen Teil 2.
Gunter Weißgerber war Gründungsmitglied der Leipziger SDP. Für die SDP/SPD sprach er regelmäßige als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90. Er war von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005). Heute sieht er sich, wie schon mal bis 1989, wieder als „Sozialdemokrat ohne Parteibuch“. Weißgerber ist studierter Ingenieur für Tiefbohr-Technologie.