Wo und wann ist mir entgangen, dass die SPD in Sachen Russland und Putin falsch abgebogen ist? Diese Frage stellte ich mir beim Lesen des Buches „Die Moskau-Connection“ von Reinhard Bingener und Markus Wehner. Es ist eine Kritik an Gerhard Schröders Pro-Putin-Kurs. Und ein Anlass für mich, aus der Perspektive eines ehemaligen sozialdemokratischen Politikers, meine SPD-Geschichte noch einmal lebendig werden zu lassen. Das Schröder-Putin-Netzwerk führte Deutschland in die Abhängigkeit von russischem Gas. Seine SPD-Koalition mit den Grünen half diesen, in alle Bereiche der Republik vorzudringen. Doch zuvor musste Kanzler-Konkurrent Lafontaine besiegt werden.
Kommen wir nun speziell zum Moskauflügel der SPD. Was an diesem Flügel ideologischer Sermon und was blinde Gier war bzw. ist, mögen Geschichtspsychologen klären. Um ein gefährliches Gemisch aus beiden in individuell und temporär unterschiedlichen Mengenverhältnissen handelt es sich auf jeden Fall. An welchen Punkten oder Entscheidungen ist mir was entgangen oder hatte ich gar keine Chance zu sehen, wohin der Laden im Dunkel der Netzwerke tatsächlich lief?
„Dieses Buch will erklären, wie Deutschland in diese Abhängigkeit geriet. Und warum die deutsche Politik mit so großer Naivität auf das Herrschaftssystem Putins blickte. Die Autoren halten beides zusammengenommen für den größten Fehler der deutschen Außenpolitik seit Gründung der Bundesrepublik.“ (S. 7).
Trotz der Krim-Annexion 2014, die den Korb 3 der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 (Garantie der Grenzen) brutal brach, steigerte die Bundesregierung die Gasabhängigkeit Deutschlands von Russland. Die Autoren schreiben an dieser Stelle explizit von der aktuellen Bundesregierung Scholz, die jedoch stringent fortsetzte, was die Regierungen Schröder und Merkel naiv oder fahrlässig ins Werk setzten. Möge den Verfassern eine Fortsetzung ihrer Arbeit gelingen. Im Vorwort deuten sie es selbst an: „Für ein vollständiges Bild wären weitere Aspekte einzubeziehen. Die Russlandpolitik der Unionsparteien und der Bundeskanzlerin Angela Merkel werden von uns kurz behandelt. … Fragen kommen nur kursorisch zur Sprache; alles andere würde den Rahmen dieses Buches sprengen“. (S.8).
Netzwerke sind per se nichts Negatives. Menschen suchen Freunde, mehren ihre Freundschaften und pflegen diese. Gleiche oder ähnliche Interessen und Vorlieben/Abneigungen bilden die Grundlage. So funktionieren auch Familien, Vereine, Gewerkschaften, Verbände, kurz unser Zusammenleben. „Zeige mir deine Freunde und ich weiß, wer du bist“ kann zur Beurteilung von Netzwerken beitragen. Im Falle Gerhard Schröders ist das geradezu geboten. Welche Interessen teilt er mit welchen Menschen? Die Autoren gingen auf diese Spurensuche. Um 1968 führt Gerhard Schröder Fidel Castro und Che Guevera unter seinen politischen Traumfiguren. Sagte er selbst über diese Zeit (S.13). Ich halte fest: Ein blutiger Diktator und ein Mörder hatten Ehrenplätze in seinem Oberstübchen. Ziemlich erschreckend! Die zeitgenössische westliche Literatur war auch 1968 seit Jahrzehnten mit wichtigen Büchern über die Verbrechen nicht nur des Nationalsozialismus, sondern auch des Kommunismus wohlgefüllt. Wer das alles im freien Westen wissen wollte, der konnte es, anders als die wissbegierigen Brüder und Schwestern im Osten, problemlos lesen.
Die Freiheit in den Farben der Nützlichkeit
Ob Gerhard Schröder das alles aus Überzeugungsgründen oder als Opportunist nicht wissen wollte, ist unklar. Auf jeden Fall passte er mit diesem Nichtwissen zum karrierefördernden Mainstream innerhalb der Jungsozialisten. Hilfreich für die Beurteilung in der Frage Überzeugung oder Opportunismus ist sein Positionswechsel mit seinem ersten Bundestagsmandat 1980.
„Gewählt als Vertreter der marxistischen Kräfte bei den Jusos, hast Du dich von diesen Positionen gelöst und eine bis zur Ununterscheidbarkeit gehende Politik der Zusammenarbeit mit den ‚reformerischen Kräften‘ begonnen, rechnen Göttinger Jusos mit Schröder in der Frankfurter Rundschau ab.“ (S.14).
Schröders Sympathie und Interesse richteten sich von Anbeginn stärker nach Moskau als auf Washington. Das schreiben die Autoren (S.15): „Und Schröder weiß stets virtuos auf der Klaviatur des latenten Antiamerikanismus innerhalb seiner Partei sowie in der deutschen Gesellschaft zu spielen.“ Im Rückblick vor dem Hintergrund des Überfalls auf die Ukraine und Schröders inzwischen längst bekannten Verhältnisses Schröders zu Putin und Russland erklärt das fast alles. Schröder wusste nichts mit der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland anzufangen. Könnte er damals vielleicht sogar Mitgefühl und Trauer mit den Unterdrückern in Ost-Berlin und Moskau gehabt haben?
1989 gehörten Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine quasi im Westen mit der SED im Osten zu den Verlierern der Friedlichen Revolution. Das Pferd, auf das sie beide setzten, spielte vorerst nicht mehr die herausragende Rolle. Medial mit viel Tamtam begleitete Staatsbesuche bei befreundeten Staatenlenkern des Ostblocks fielen weg. Die ganzen Mühen im Buhlen um die Freundschaft mit SED und FDJ in Ost-Berlin oder mit KPdSU und Komsomol in Moskau, der Einsatz gegen die Nachrüstung, gegen die Erfassungsstelle Salzgitter, für die DDR-Staatsbürgerschaft usw. usf. schien umsonst gewesen zu sein. 1990 macht Schröder Landtagswahlkampf gegen die Deutsche Einheit, stimmte im Bundesrat für Niedersachen gemeinsam mit Lafontaine für das Saarland gegen die Ratifizierung des ersten Staatsvertrages zur Deutschen Einheit (Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion) und reiste als Ministerpräsident im Februar 1991 zuerst nach Moskau.
In der SPD war es diesbezüglich für mich nicht allzu gemütlich. Solange diese Art von Brandt-Enkel nicht die innerparteiliche Mehrheit besaß, war es aber auszuhalten. So sagte ich mir das. Parteien sind keine gemütlichen Sanatorien. Da wird gehobelt und es fallen Späne. So weit war mir das alles klar. Ich setzte auf hoffentlich kommende Erkenntnisprozesse bei Schröder. 1997 glaubte ich dann, als Bundeskanzler würde er sich des gesamten Landes annehmen (müssen). Das gab Hoffnung. Heute weiß ich: Ich habe mir zumindest in Teilen etwas vorgemacht. Die Freiheit in der Farbe der Nützlichkeit, das war seine Freiheitsidee...
Nützlich muss für ihn alles sein. Wenn das Nützliche in Freiheit zu holen ist, dann stört die Freiheit nicht. Unabdingbar ist sie keinesfalls. Gerhard Schröder steht damit nicht allein. Viele Menschen sind so. Aber kaum einer bekommt die Gestaltungsmöglichkeiten eines Bundeskanzlers.
Tiraden gegen Deutsche Einheit und NATO
Im Sommer 1990 wurde Gerhard Schröder Ministerpräsident von Niedersachsen. Dieser Zeitpunkt gilt für die Autoren als eigentlicher Beginn des Netzwerks Schröder. Der Ministerpräsident holt sich Leute, mit denen er vertrauensvoll zusammenarbeiten kann. Das an sich ist nicht anstößig. Interessant sind die Personen. Brigitte Zypries und Frank-Walter Steinmeier schrieben in den 80er Jahren für die Fachzeitschrift Demokratie und Recht. Diese Zeitschrift erschien im Pahl-Rugenstein-Verlag, der maßgeblich vom Besitzer aus der DDR, der SED, finanziert wurde und der 1989 mit der Diktatur des Proletariats unterging. Als Gegner und Skeptiker eines raschen deutschen Einigungsprozesses erschienen Steinmeier und Schröder gleichermaßen.
Es folgen viele Namen, heute bekannte, eher unbekannte und auch inzwischen vergessene. Alle scheinen von Sympathie eher für den staatlichen Gegner der Bundesrepublik östlich der Elbe als von der von ihnen besungenen Demokratie des freien Westens beseelt gewesen zu sein. Welch ein Glück, dass 1989 Helmut Kohl noch Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewesen war und nicht bereits ein politischer Seelenverkäufer!
Mit der DDR und später der Sowjetunion gingen den Schröders (und Lafontaines) die befreundeten kommunistischen Staatenlenker verloren. Das war ein Unglück, welches sie mit ihren Tiraden gegen die Deutsche Einheit und gegen die NATO erfolglos bekämpften. Das ideologiebeladene Schiff ging unter.
Dafür tauchten die neuen Möglichkeiten des ungehemmten Geschäftemachens mit der nun allseits wohlgelittenen Sowjetunion unter Gorbatschow und wenig später mit den allseits geförderten Nachfolgestaaten der Sowjetunion (GUS) auf. Das war für Gerhard Schröder Glück im Unglück. Die gesamte westliche Welt, nicht nur die dankbare Bundesrepublik, hofften, durch Investitionen, wirtschaftliche Hilfen und massive Beratung der darniederliegenden Sowjetunion und dann den desolaten Nachfolgestaaten Russland, Ukraine, Weißrussland, Georgien usw. auf dem Weg in die Demokratie und die soziale Marktwirtschaft helfen zu können. Den Nutzen sollten alle haben, Russland und alle GUS-Staaten sollten stabiler Teil der freien Welt werden. So wie Russland mit der NATO-Russlandakte 1997 auch Partner des westlichen Verteidigungsbündnisses werden sollte. Das waren jedenfalls die verlautbarten Ideen und Wunschvorstellungen.
Heute wissen wir: Der KGB/FSB holte sich sein Land zurück und machte Russland zu einem KGB/FSB-Staat. Die Putschversuche 1991 und 1993 waren das Vorspiel. Das Rennen war längst eröffnet: Der Erfolg von Freiheit und Demokratie versus Rückkehr der Diktatur? Der Westen war aufgerufen, die demokratische Entwicklung in Russland zu unterstützen. Insofern passten hier Gerhard Schröders Energieambitionen ins politische Umfeld. Handel und Wandel. Die Initiativen Schröders sind ihm in den 90ern nicht zum Vorwurf zu machen, seine spezielle Art der Kontaktpflege dagegen schon. Freund und Partner waren ihm vor allem die Kräfte des Alten, die wiederaufstrebenden Tentakel der Vor-Perestroika-Sowjetunion. KGB/MfS-Vergangenheiten störten ihn wohl nie. Als Ministerpräsident und später als Bundeskanzler war er noch gegen eigene Verstrickungen gefeit. Amt, Verantwortung und Glanz waren eine Art Brandmauer, die mit dem Verlust des Kanzleramts fiel.
Vor diesem Hintergrund ist Schröders erste Reise nach Moskau als frischgebackener Ministerpräsident im Februar 1991 kein Fauxpas gewesen. Das allseits geförderte Ziel war Hilfe zur Selbsthilfe für die auf Reformkurs befindliche Sowjetunion. Alle Parteien und Verbände legten sich ins Zeug. Außerdem standen in Ostdeutschland noch 500.000 Sowjetsoldaten. Bis zu deren Abzug musste der Sowjetunion, musste wenig später Russland schon aus diesem Grunde geholfen werden. Ein Narr, der das abgelehnt hätte! Im Falle eines Scheiterns einer demokratischen Sowjetunion, des demokratischen Russlands, würde der russische Bär zurückkommen. 1953, 1956, 1968 als Menetekel. Der Ukraine widerfährt das alles auf brutale Weise...
Die Autoren beschreiben Schröders Netzwerk und dessen Mechanismen. Die Vorgänge und Beziehungsgeflechte sind nicht per se verwerflich. Menschen finden sich zusammen und kooperieren. Auch Helmut Kohl agierte nicht allein. Entscheidend ist im Falle des Schröderschen Netzwerkes die Frage, inwiefern und ab wann Deutschland an Russland gebunden und die Bundesrepublik willentlich in die existenzielle Abhängigkeit zu einem gefährlichen Staat geführt wurde und wie Schröders Nachfolgerin im Amt des Bundeskanzlers das alles weiterverfolgte.
Energiepolitisch nicht hirntot wie heutige SPD
Für Gerhard Schröder und die SPD galt bis zum Seebeben vor Fukushima 2011 der Grundsatz, sichere und preiswerte Energie ist das Lebenselixier einer Volkswirtschaft. Wohlstand und Teilhabe für alle sind unter hohen Energiepreisen gefährdet und damit gefährlich für die Bundesrepublik Deutschland. Nie gab es bei dem deutschen Politiker Schröder auch nur den Anschein, den Energiemix ändern zu wollen und zu riskieren, dass Grundlastsicherheit und günstige Preise flöten gehen. Die sogenannten erneuerbaren Energien galten als zusätzliche Energiequellen, weil volatil, und sollten ihre Chance haben, wo sie Sinn ergeben und keinen Schaden anrichten. Gerhard Schröder war bis 2005 energiepolitisch nie so hirnverbrannt wie seine heutigen Nachfolger in der SPD.
Allerdings hatte er vor seinem Amtsantritt, außer dass er in das Kanzleramt „rein wollte", keinen wirklichen fachlichen Plan für sein künftiges Tun als Kanzler der Republik. Einen Plan dagegen hatte sein Gegenspieler Oskar Lafontaine. Einen dunkelrot-tiefgrünen Plan. Die Leistung Lafontaines bestand darin, den grundlegenden Dissens vor der Wahl faktisch zu verheimlichen, um das erwartete Wahlergebnis nicht zu gefährden. Schröders Leistung war, Lafontaine machen zu lassen, obwohl ihn, als marktwirtschaftlich denkender Kanzlerkandidat, das alles nicht anmachte. Beide schoben den Klärungsprozess auf die Zeit nach der Wahl.
Lafontaine verrechnete sich dabei deutlich. Er war Parteivorsitzender und wurde Bundesfinanzminister und glaubte, damit Gerhard Schröder eingehegt zu haben. Lafontaine machte, wie fast immer, den Fehler, eines Kanzlers Richtlinienkompetenz zu unterschätzen. Keine Partei, und mag es die eigene SPD sein, kann bestimmen, was Regierungspolitik ist. Kein Finanzminister kann über den Kanzler hinweg agieren. Die Macht des Faktischen war in dieser Konstellation erwartbar stärker. Lafontaine mag in Ideologien, Stimmungen und Wünschen ein Faktor sein, in der Welt des Möglichen ist er ein Scheinriese.
Die SPD wurde im Bundestagswahlkampf 1998 von zwei Lokführern gesteuert. In der Mitte der Fahrerkabine thronte Gerhard Schröder, zu seiner Linken hantierte Oskar Lafontaine mit dem ideologischen Sanitätskasten. Bildlich gesprochen. Für die Öffentlichkeit ergab das einen interessanten Spannungsbogen, der ein Maximum an Wählerbreite sicherte. Für die kommende Regierung war allerdings die Eskalation der unterschiedlichen Positionen vorhersehbar. Einer von beiden würde gehen müssen. Selbstverständlich würde das der real machtlosere SPD-Linke sein. Ich schätzte damals, Gerhard Schröder würde 70 Prozent der SPD-Wähler anziehen, Oskar Lafontaine würde von 30 Prozent der SPD-Wähler bevorzugt werden. So ähnlich war es dann auch. Den Klärungsprozess schob Gerhard Schröder am 8. Juni 1999 zusammen mit Tony Blair im „Schröder-Blair-Papier: ,Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten'" von seiner Seite aufs Gleis. Die SPD bebte.
Wegen der SPD: Grüne nun in allen Bereichen
Schröder konnte immer mit den Grünen, groß machen wollte er sie nie. Das galt auch für die Bundestagswahl 1998. Praktisch wäre ihm und vielen Seeheimern eine Große Koalition unter seiner Führung mit CDU/CSU lieber gewesen. Deutschland steckte bereits Jahre fest und bedurfte großer Anstrengungen aus der Mitte, um notwendige Reformen aufs Gleis zu bringen. Das Wahlergebnis mit knapp 40,9 Prozent für die SPD und 6,7 Prozent für die Grünen ließen ihm keine Wahl. Der linke Parteiflügel um Lafontaine hätte eine Koalition mit der Union verhindert. Mit der rot-grünen Koalition zog die grüne Sekte dank der SPD unumkehrbar in alle Bereiche der Bundesrepublik ein. Der Zustand Deutschlands 2023 ist ohne die tragische Weichenstellung zu SPD/Grüne 1998 nicht denkbar. Auch der Tod auf Raten des Transrapid ist eine Folge dieser Koalition.
Ob und wie Gerhard Schröder Wladimir Putin jemals in demokratietheoretischen Zusammenhängen betrachtete, ist nicht klärbar. Dass Russland gefährlich war und noch gefährlicher werden könnte, solche Überlegungen scheinen in Schröders Oberstube nicht gelaufen zu sein. Zudem wird er Helmut Schmidts Satz über die Sowjetunion als „Obervolta mit Atomwaffen“ verinnerlicht haben. Ein russischer Staat, auf riesigen Energieressourcen sitzend, der wirtschaftlich und sozial nicht in der Lage schien, ebenbürtig zu werden, wie sollte der zu einer Gefahr werden können? Da der Bundespolitiker Gerhard Schröder den deutschen Energiemix nie einseitig von Gas, egal woher, abhängig machen wollte, sah er keine Gefahr mit dem Bau von Nordstream I am Horizont aufkommen. Die Sorgen der Polen und aller Staaten zwischen Deutschland und Russland waren dem Moskauliebhaber ohnehin schon immer so lästig wie egal. Was vor ihm schon Bismarck unschön auszeichnete. Putins Strategie der Energie als Waffe dürfte Gerhard Schröder als Verschwörungstheorie abgetan haben.
Die Autoren nehmen sich auch Putins Werdegang an. Seine Doktorarbeit von 1997, die wegen Plagiatsvorwürfen unter Verschluss ist, misst dem Export von Gas und Öl strategische Bedeutung zur Erreichung außenpolitischer Ziele zu. Dazu müsse der Energiesektor weitgehend unter staatliche Kontrolle gebracht werden. Putin setzte das ab Mitte 1998 als Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB und wenige Jahre später als Präsident Russlands in die Tat um (S.37). Gerhard Schröder wird das alles nicht gelesen haben, er hätte es aber als mögliche Gefahr für Deutschland ohnehin nicht ernst genommen. Dass Bücher und Konzeptionen von gefährlichen Zeitgenossen nicht ernst genommen werden, ist in der Geschichte nicht neu.
Von Anfang an setzt Putin auf Krieg. In Tschetschenien läuft alles ab wie später in Syrien und der Ukraine. Mord, Folter, Filtrationslager (S. 51). Gerhard Schröder wollte das alles anscheinend bewusst nicht wahrnehmen. Vielen Bundestagsabgeordneten war nicht wohl dabei. Für sie schied Russland als demokratischer Partner immer deutlicher aus. Zunehmend wurde es als wohltuend angesehen, zwischen Deutschland und Russland Polen zu wissen. Russland stand nicht mit seinen Truppen in Deutschland. Diese Truppen standen hinter der polnisch-russischen Grenze. Das würde sich dank der NATO-Mitgliedschaft auch nicht mehr ändern. Zudem kamen mit vielen ehemaligen Ostblockstaaten weitere Kenner russisch-sowjetischer Geschichte in die NATO.
Im November 2004 erklärte Gerhard Schröder Putin zum „lupenreinen Demokraten". Das Kopfschütteln in den Reihen der Bundestagskollegen war groß. Meinte er das tatsächlich ernst? Es schien so. Für den Bundeskanzler Gerhard Schröder ging es bis zu seiner Abwahl im Herbst 2005, das nehme ich auch heute noch an, um die Energiesicherheit Deutschlands und um die Einbindung Russlands in Wandel und Handel, sei es auf Kosten Polens und des Baltikums. Verraten und verkauft hat er Deutschland, so meine Annahme, erst nach seiner Zeit als Bundeskanzler. Dazu komme ich noch.
„Mit SED-Partnern viel zu weit gegangen“
Die Autoren nehmen den Mythos Ostpolitik auseinander. Auch für mich war es die Schmidtsche Gleichgewichtspolitik, wenn überhaupt, die primär erfolgreich war. Dazu bedurfte es zwingend keiner eher nachgiebigen Ostpolitik. Die KSZE-Akte war auch nur das wert, was an Abschreckung dahinterstand. Weiche Kontrahenten wurden von Moskau noch nie ernstgenommen. 2014 bewies Putin, was KSZE/Korb 3 und Budapester Memorandum wert waren – für ihn nichts. Wer solche Verträge nicht durch eigene Kraft absichert, hat am Ende einen wertlosen Fetzen Papier in der Hand.
„Im Glaubensbekenntnis der deutschen Sozialdemokratie steht die Entspannungspolitik weit oben. Sie gilt als Grundfrage sozialdemokratischer Außenpolitik – und Kritik an ihr als Angriff auf das Allerheiligste der Partei.“ (S.58).
1982 entzog die SPD ihrem Kanzler Helmut Schmidt die Loyalität. Schmidts Realpolitik und seine Doppelte Nulllösung stießen auf den energischen Widerstand der SPD-Linken. Brandt blieb, Schmidt wurde in der SPD zielstrebig verblasst. Damit obsiegte die Brandtsche Entspannungspolitik in der SPD über die Schmidtsche Gleichgewichtspolitik. Fünf Jahre später in Washington 1987 bekam aber Helmut Schmidt die historische Bestätigung der Richtigkeit seiner Sicherheitspolitik. Der INF-Vertrag über die Abrüstung der atomaren Mittelstreckenraketen war Ergebnis seiner Idee.
Die SPD hätte das Ereignis glanzvoll abfeiern können. Doch die fand zu dem Zeitpunkt auf der Weltbühne längst nicht mehr statt. Als Ersatzhandlung suchte sie zur gleichen Zeit, die Öffentlichkeit mit dem SPD-SED-Papier zu dominieren. Der Versuch misslang ihr gründlich. Der INF-Vertrag wurde Weltgeschichte, das Gemeinsame Papier SPD-SED war sozialistische Volkskunst. Eine auch nur annähernde Gleichbehandlung in der Rolle von der Bedeutung von INF-Vertrag und Gemeinsamem Papier konnte der SPD nicht gelingen. Der Rohrkrepierer Gemeinsames Papier wurde durch die SPD unermüdlich als Erfolg beschrieben. Christian von Ditfurth sezierte das alles in seinem Spiegel-Artikel „Angst vor den Akten" von 1992. Zitat:
„Offensichtlich meinen manche Sozialdemokraten nur die Vergangenheit der anderen Parteien, wenn sie von Geschichtsaufarbeitung sprechen. Der Grund dafür: Sie wissen, dass sie in Gesprächen mit ihren SED-Partnern viel zu weit gegangen sind.“
Helmut Kohl konnte die Meriten, völlig zu Recht, einheimsen. Als ich ab 1990 in der SPD Helmut Schmidt bei vielen Gelegenheiten hochleben ließ, hatte ich das Gefühl, der vormalige SPD-Kanzler war in seiner Partei eine Unperson geworden. Ihm näherte man sich nicht, wollte man nicht aussätzig sein. Was sicherlich auch ein Ergebnis des unseligen Gemeinsamen Papieres von SPD und SED war. Die SPD verlor 1982 nicht nur den Kanzler, sondern auch quasi regierungsamtliche Mitbestimmung in außenpolitischen Fragen. Eine Oppositionspartei wird vom Ausland nicht so wahrgenommen wie eine Regierungspartei. So verstieg sich der linke SPD-Teil zu einer Nebenaußenpolitik und machte es sich im kommunistischen Herrschaftsbereich endgültig heimisch.
„Die Entspannungspolitik erreicht also nicht die Ziele, die sie verfolgt hat. Zwar findet ein Dialog mit den kommunistischen Regimen statt, aber keine Reform der dortigen politischen Systeme. Vielmehr beginnt eine neue Phase des Kalten Krieges, mit von Moskau initiierten und unterstützten Umstürzen in afrikanischen Ländern wie Angola und Mosambik und dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Jahr 1979.“ (S. 62).
Lesen Sie morgen Teil 3:
Teil 1 findet sich hier.
Reinhard Bingener, Markus Wehner, Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit, München 2023. 304 S., ISBN 978-3-406-79941-9, Weitere Informationen finden Sie hier.
Gunter Weißgerber war Gründungsmitglied der Leipziger SDP. Für die SDP/SPD sprach er regelmäßige als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90. Er war von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005). Heute sieht er sich, wie schon mal bis 1989, wieder als „Sozialdemokrat ohne Parteibuch“. Weißgerber ist studierter Ingenieur für Tiefbohr-Technologie.