Die Thüringer Landesregierung ist ohne eigene Mehrheit mit dem Versprechen von Neuwahlen ins Amt gekommen. Doch die nötige Mehrheit im Landtag könnte die falsche sein, weshalb nun nicht gewählt wird.
Vielleicht ist Thüringen so etwas wie das Versuchslabor für eine Demokratie neuen Typs, mit einem – sagen wir es mal ganz höflich – sehr flexiblen Umgang mit Wahlen und Mehrheiten? Wenn man sich das absurde Theaterstück anschaut, das in und um die Landespolitik in dem kleinen mitteldeutschen Freistaat seit Anfang Februar 2020 aufgeführt wird, kann man kaum glauben, dass das Realität ist.
Da wählt der Thüringer Landtag mit einer Mehrheit den FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten, doch nachdem die Kanzlerin geäußert hat, dass diese Wahl rückgängig gemacht werden müsse, wird der Mann zum Rücktritt gedrängt. Dann wird wieder der Genosse Bodo Ramelow von den SED-Erben ins Regierungsamt gewählt, obwohl er eigentlich keine Mehrheit hat. Die oppositionelle CDU ermöglicht diese Wahl. Grundlage ist eine Vereinbarung mit der linksgrünen Minderheitsregierung, wonach es spätestens nach einem Jahr Neuwahlen geben solle.
Die Thüringer Bürger wurden beschwichtigt, dass das Land jetzt nicht unregierbar werden dürfe, aber bald könnten sie ja abstimmen, um vielleicht für die demokratische Legitimation einer neuen (oder alten) Regierungsmehrheit zu sorgen. Als das Jahr vorbei war, durften sie dann doch nicht an die Wahlurne, weil der Corona-Ausnahmezustand herrschte. Angesichts der ganzen Grundrechte, die für die Thüringer – ebenso wie für alle Deutschen – außer Kraft gesetzt waren, fiel die verschobene Landtags-Neuwahl kaum ins Gewicht. Außerdem versprachen alle Parteien, die 2020 Neuwahlen zugesagt hatten, dass die Thüringer nun zusammen mit der Bundestagswahl auch über die Zusammensetzung des Landtags abstimmen dürften. Dass selbiges Parlament fristgerecht für die Selbstauflösung und Neuwahl stimmen würde, galt als Formsache.
Drohung höchstmoralischer Verdammnis
Das hätte es auch sein können, denn eigentlich gäbe es eine Mehrheit im Landtag für Neuwahlen. Trotzdem haben Grüne und Linke jetzt dafür gesorgt, dass der linksrotgrüne Auflösungs-Antrag zurückgezogen wurde und nun nicht mehr fristgerecht abgestimmt werden kann. Der Grund, kurzgefasst: Diese Mehrheit könnte Stimmen der AfD enthalten. Vier CDU-Abgeordnete hatten zuvor bekundet, sie würden nicht für die Auflösung des Landtags stimmen. Weil die Christdemokraten nun bei der Mehrheitsbeschaffung schwächelten, könnte es sein, dass die Stimmen der AfD wichtig würden. Und weil das geschehen könnte, gab es auch unter den Linken Parlamentarier, die eine solche Mehrheit nicht wollten. Und da es bekanntlich zum guten Ton gehört, sich im Abgrenzungswettbewerb zur AfD zu überbieten, egal um welche Inhalte es konkret geht, und vor der Abstimmung keiner weiß, wer wie abgestimmt haben wird, haben Linke und Grüne lieber ganz auf die Abstimmung verzichtet.
Zusammengefasst: Nachdem ein mit parlamentarischer Mehrheit gewählter Ministerpräsident zum Rücktritt genötigt wurde, kam ein Ministerpräsident wieder ins Amt, der nur deshalb eine parlamentarische Mehrheit bekam, weil er Neuwahlen zusagte. Die Neuwahlen haben im Landtag höchstwahrscheinlich eine parlamentarische Mehrheit, doch es wird nicht abgestimmt, weil die AfD vielleicht notwendiger Teil dieser Mehrheit sein könnte. Deshalb dürfen die Bürger nicht wählen und eine Regierung ohne parlamentarische Mehrheit regiert weiter. Und was passiert, wenn die AfD dieser Minderheitsregierung in irgendeinem Punkt mal zur nötigen Landtagsmehrheit verhilft? Wird dieses Abstimmungsergebnis dann auch automatisch rückgängig gemacht, so wie wir es aus dem Februar kennen?
Jetzt bietet sich das Bonmot an, die AfD-Fraktion in Thüringen möge bitte für alle linksrotgrünen Projekte stimmen, die man gern verhindert sähe, nur damit sie dann aus Gründen der Abstimmungshygiene so verbrannt sind, dass sie niemals umgesetzt werden können. Aber das ist natürlich billig. Allein schon deshalb, weil die Linksrotgrünen keinerlei Skrupel haben werden, wenn es ihnen nützt, genau das zu tun, wovon sie CDU und FDP bislang mit der Drohung höchstmoralischer Verdammnis weitestgehend erfolgreich abhalten.
Schöner regieren ohne lästige Rücksicht auf Mehrheiten und Wahlergebnisse
Aber, um dennoch einen halbwegs geistreichen Abschluss zu finden, vielleicht ist Thüringen nur Vorreiter eines neuen Typs von Demokratie, der ja auch ganz gut in die „neue Normalität“ mit von der Obrigkeit nur vorsichtig und sorgsam zugeteilten Grundrechten passt. Es lässt sich ohne die lästige Rücksicht auf Mehrheiten und Wahlergebnisse verständlicherweise auch schöner regieren. Diese Erfahrung haben sicher manche politischen Funktionsträger liebgewonnen.
Da die Thüringer linksrotgrüne Minderheitsregierung im Amt ist und nicht mehr gewählt werden muss, kann ihr eigentlich nichts passieren. Die Oppositionsmehrheit im Landtag darf sich ja nie gegen sie wenden, denn das würde ein gemeinsames Stimmverhalten mit der AfD erfordern. Und die Thüringer dürfen sich eine ganze Legislaturperiode lang einer Regierung „erfreuen“, die sie nicht gewählt, also nicht mit einer Mehrheit ausgestattet haben. CDU und FDP sitzen in einer Sackgasse fest, und das dürfte für potenzielle Wähler wiederum kaum attraktiv sein.
Das Thüringer Dilemma war bereits am Wahlabend absehbar: Die demokratischen Parteien der alten Bundesrepublik hatten keine Mehrheit mehr. Die Mehrheit der Thüringer Wähler hatte Linke und AfD gewählt. Welchen Kurs gerade die bürgerlichen Parteien zwischen diesen Polen nehmen sollten, hätte nach konkreten Positionslichtern bestimmt werden müssen. Doch nach dem Februar 2020 war die FDP orientierungslos, und die CDU begab sich in die Arme der Linken, aus denen sie nicht mehr herauskommt. Die Neuwahlen, die sie vielleicht hätten befreien können, finden nun nicht statt. Ministerpräsident Bodo Ramelow hat schon erklärt, er hoffe auf Unterstützung für eine Mehrheit zum Beschluss des Haushalts 2022.