Rainer Grell / 04.04.2020 / 15:00 / 14 / Seite ausdrucken

Schnell und unbürokratisch

Eine Formel hat in diesen Tagen Hochkonjunktur: „Schnell und unbürokratisch“. Eine Zauberformel. Nur – wer glaubt heutzutage noch an Zauberei?

Wer – wie der Verfasser – 40 Jahre in zwölf verschiedenen Jobs im Inneren der staatlichen Bürokratie gearbeitet hat, kann eine gehörige Portion Skepsis einfach nicht überwinden, wenn er diese Formel aus dem Mund von Politikern hört. Dabei unterstelle ich ihnen keineswegs, dass sie es nicht ernst meinen. Doch sie wissen bestenfalls einfach nicht, wovon sie reden.

Als junger Oberregierungsrat im Innenministerium Baden-Württemberg hatte ich die Ehre, mit der Leitung einer Arbeitsgruppe junger Beamter betraut zu werden, die Vorschläge für einer bürgerfreundliche und effektive Verwaltung entwickeln sollten. Das Einzigartige an diesem Auftrag war, dass ich dafür (als einziges Mitglied) von sämtlichen sonstigen Aufgaben freigestellt und dem Minister unmittelbar unterstellt war – eine Konstellation, die es weder vorher noch nachher je gegeben hat. Innenminister im damaligen Kabinett Filbinger III (von 1972–1976) war der frühere Landrat von Überlingen, Karl Schiess. Arbeitsgruppenmitglieder waren unter anderem der spätere langjährige Oberbürgermeister von Weinstadt, Jürgen Hofer (damals SPD, später FDP), und der spätere Landrat des Bodenseekreises und Oberbürgermeister von Friedrichshafen, Dr. Bernd Wiedmann (CDU). 

Die Arbeitsgruppe legte ihren Bericht mit 200 Vorschlägen (die unter Beteiligung von Bürgern, Behörden und Journalisten entstanden waren) nach knapp einem Jahr im Oktober 1975 vor. Er erregte großes öffentliches Aufsehen (das mir als parteilosem Beamten persönlich übrigens eher geschadet als genutzt hat). In der Schlussbetrachtung schrieb ich damals (als 34-Jähriger):

„Gerade gegenüber der Realisierung [dieser Vorschläge] – und merkwürdigerweise nicht gegenüber der Brauchbarkeit unserer Überlegungen – ist ... immer wieder Skepsis geäußert worden. Von Bürgern, Behördenchefs und Journalisten.

Stellvertretend für viele Stimmen sei eine Äußerung des Schwäbischen Tagblatts vom 27. März 1974 zitiert. Für dieses erweckten die Mitglieder der Arbeitsgruppe – nach einer Diskussion im Tübinger Presseclub – ‚durchaus den Eindruck, als glaubten sie an die Möglichkeit, die überkommenen Denkschablonen, die Krusten einer hierarchisch geordneten und entscheidenden Bürokratie aufbrechen zu können. Wohl ihnen. Aber für den außenstehenden Betrachter schleicht sich dennoch die Skepsis ein, daß am Ende außer einer feierlichen Pressekonferenz des Innenministers voll wohlklingender Absichtserklärungen wenig bleibt vom gutgemeinten Unternehmen ‚mehr Bürgerfreundlichkeit‘.‘.

Die Arbeitsgruppe teilt diese Skepsis nicht. Sie ist in der Tat der Überzeugung, daß hier nicht etwa ‚eine bloße Good-will-Show ohne ernsthafte Reformabsichten abgezogen‘ wird, sondern daß es sowohl dem Innenminister wie auch anderen Politikern und Verwaltungschefs bitter ernst ist mit der inneren Reform der Verwaltung. Wir glauben auch nicht, daß Innenminister Schiess so ‚ahnungslos‘ ist, wie die Badischen Neuesten Nachrichten (vom 5. Oktober 1973) vermuten: Er hat mit Sicherheit schon bemerkt, ‚daß er, der Minister, in der Hand der allmächtigen Bürokratie ist, mithin in der Hand derer, die er in die Hand nehmen will‘. Dieser Zustand ist jedoch weder gottgewollt noch unabänderlich!“

Eine deprimierende Lektüre

Wie gesagt: Ich war damals 34. Als 75-Jähriger schrieb ich auf der Achse eine sechsteilige Serie mit dem Titel „Bürokratie, der Krake, der ohne Wasser leben kann“. Eine deprimierende Lektüre, die sich in diesen Tagen nur sehr gefestigte Charaktere zumuten sollten. Denn das Ergebnis meines langen Beamtenlebens lautete: Bürokratie ist ab einer bestimmten Größe das unabänderliche Schicksal jeder Organisation.

Wenn demgegenüber ein Politiker wie der seinerzeitige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel, auf die Frage: „Wollen oder können die Politiker den Gordischen Knoten der Überbürokratisierung nicht durchhauen?“ antwortete: „Wir wollen und wir können!“, dann offenbarte diese Äußerung entweder eine totale Ahnungslosigkeit, oder sie geschah wider besseres Wissen. Zwar mag es tatsächlich möglich sein. Aber dazu bräuchte man einen ganz Großen, einen Alexander eben oder einen Herakles/Herkules (der den Augiasstall mit seinen zahllosen Rindern, der seit Jahren nicht mehr gereinigt worden war, binnen eines Tages ausmistete). Doch weder der eine noch der andere ist weit und breit in Sicht.

Werfen wir nochmal einen Blick auf die eingangs erwähnte Zauberformel. Wenn sie einen Sinn haben soll, ist sie absolut unsinnig. Wie das? Gegen Schnelligkeit der Bearbeitung ist natürlich nichts einzuwenden. Doch wie soll diese bewerkstelligt werden, wo die Bediensteten in den meisten Behörden nach jahrelanger personeller Ausdünnung ohnehin am Limit arbeiten. Okay, sie lassen alles andere liegen und konzentrieren ihre ganze Arbeitskraft auf die Anträge, um deren schnelle Bearbeitung es gerade geht. Natürlich auf Kosten derjenigen, deren Anträge jetzt noch länger liegen bleiben als gewöhnlich. Und was bedeutet unbürokratisch? Schludrig, ungenau, großzügig oder gar rechtswidrig? Um Gottes willen! Nach Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes ist die vollziehende Gewalt, und das ist jeder einzelne Beamte, an Gesetz und Recht gebunden. Jeder Beamte trägt für die Rechtmäßigkeit seiner dienstlichen Handlungen die volle persönliche Verantwortung (§ 63 Absatz 1 Bundesbeamtengesetz, § 36 Absatz 1 Beamtenstatusgesetz und die entsprechenden Bestimmungen der Landesbeamtengesetze). 

Fazit: Eine schnelle Bearbeitung ist nur bei entsprechender Personalausstattung der betreffenden Behörde oder auf Kosten anderer Antragsteller möglich. Unbürokratisch heißt nicht gesetzwidrig oder darf es jedenfalls nicht heißen. Eine gesetzmäßige Bearbeitung geht aber zwangsläufig auf Kosten der Bearbeitungsdauer. Meint man es also ernst mit der Zauberformel, muss der Gesetzgeber selbst eingreifen und die Regeln vereinfachen. Dazu fehlt aber entweder die Zeit oder der Wille. Ist letzterer doch vorhanden, ist das Ergebnis eventuell „mit heißer Nadel gestrickt“ wie das „Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht“ vom 27. März 2020, dessen Artikel 5 zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch dessen Artikel 240 in § 2 wie folgt fasst:

„(1) Der Vermieter kann ein Mietverhältnis über Grundstücke oder über Räume nicht allein aus dem Grund kündigen, dass der Mieter im Zeitraum vom 1. April 2020 bis 30. Juni 2020 trotz Fälligkeit die Miete nicht leistet, sofern die Nichtleistung auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht. Der Zusammenhang zwischen COVID-19-Pandemie und Nichtleistung ist glaubhaft zu machen. Sonstige Kündigungsrechte bleiben unberührt.

(2) Von Absatz 1 kann nicht zum Nachteil des Mieters abgewichen werden.

(3) Die Absätze 1 und 2 sind auf Pachtverhältnisse entsprechend anzuwenden.

(4) Die Absätze 1 bis 3 sind nur bis zum 30. Juni 2022 anzuwenden.“  

Das Versprechen einer schnellen und unbürokratischen Bearbeitung ist also zwiespältig. Entweder es ist eine hohle Formel oder es wird tatsächlich schnell und trotzdem gesetzmäßig gearbeitet. Dann fragt man sich allerdings, warum das nur in Ausnahmesituationen geschehen soll und nicht der Regelfall ist. Schließlich ist der Staat nach einem Wort von Pestalozzi für den Menschen da und nicht umgekehrt. Ich beende diesen Beitrag mit dem tröstlichen Schluss eines früheren Artikels vom 02.01.2019

Bleibt als Trost nur dieser Gedanke des deutsch-israelischen Journalisten und Religionswissenschaftlers Schalom Ben-Chorin (1913–1999, der Name bedeutet übrigens „Frieden, Sohn der Freiheit“):

„Würde ich alles und mich selbst immer ernst nehmen, so müsste ich an der Welt und an mir verzweifeln. Es gibt so vieles, das näher betrachtet, eine komische Seite hat, und auch die soll man sehen.“

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Leserpost

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Thomas Holzer, Österreich / 04.04.2020

Es fehlt schlicht und einfach der Wille! Würden Politiker die Entbürokratisierung vorantreiben, würden sie sich ihrer Macht begeben, da es niemals um den p.t. Untertan, sondern immer nur um die Partei, um Netzwerke, Politiker und Machterhalt geht. It’s so simple Trotzdem L’chaim

Frances Johnson / 04.04.2020

Sie sind ein Fossil, denn Sie sind einer der wenigen Menschen in Deutschland, die wissen, dass es der Krake heißt.

Marcel Seiler / 04.04.2020

Heute mal etwas Generelles: Über die einsichtsvollen Artikel von Rainer Grell freue ich mich eigentlich jedes Mal. Ich bewundere die Fähigkeit von Autor Grell, Verwaltung ernst zu nehmen, sie gleichzeitig aus kritische Distanz betrachten und dann noch in klarer, freundlicher Form darüber schreiben zu können. Mein Kompliment und vielen Dank!

Marcel Seiler / 04.04.2020

Ich gebe Autor Grell recht. Die Formel vom “unbürokratischen” Handeln hat mich schon oft geärgert. Bürokratie bedeutet Handeln, das an Recht und Gesetz gebunden ist und deswegen gewissen, manchmal auch zeitraubenden Formalien unterworfen ist. Unbürokratisch bedeutet dann Handeln, das sich um Recht und Gesetz nicht schert, also Willkür. “Unbürokratisch” will jeder, aber Willkür will keiner. Das eine aber impliziert das andere.

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