Die Kandidatenwechsel-Affäre mittels falscher Anschuldigungen bei den Grünen in Berlin bleibt ein Aufreger. War es eine Intrige, und wer hat sie gesponnen? Nutznießer ist bekanntlich Andreas Audretsch, der Wahlkampfleiter von Robert Habeck.
Das grüne Schmierentheater um die gezielt platzierten gefälschten Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen den grünen Noch-Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar findet kein Ende. Möglicherweise haben diejenigen, die diese Aufführung in die Medien brachten, damit gerechnet, dass diese sich zwar als unschöne Schmuddelgeschichte nutzen lässt, aber dennoch auf regionale Aufmerksamkeit begrenzt bleibt. Wer merkt schon überregional auf, wenn ein zwar beim Wähler, aber nicht unbedingt als Strippenzieher im eigenen Parteiapparat erfolgreicher grüner Bundestagsabgeordneter wegen des ungeklärten Vorwurfs sexueller Übergriffe als Bundestagskandidat das Feld räumen muss? Selbst wenn es sich um den Wahlkreis Berlin-Pankow handelt, also einen hellen Stern im grünen Universum, wäre das Interesse in anderen Teilen des Landes normalerweise begrenzt. Doch jetzt müssen sich die Parteispitze und die Spitzenkandidaten immer wieder äußern. Sie sehen sich genötigt, eine Art Schutzwall um den Hauptprofiteur dieser Aktion zu errichten.
„Die Vorgänge im Berliner Landesverband sind gravierend und auch schockierend. Es muss unbedingt schnell und rücksichtslos aufgeklärt werden, was da eigentlich passiert ist und auch die Konsequenzen gezogen werden“, meldete sich Robert Habeck, Kanzlerkandidat und Möchtegern-Bündniskanzler am Montag zu dem Fall zu Wort. Aber schon ohne jegliche Aufklärung weiß die Grünen-Spitze ganz gewiss, dass sie selbst ihre Hände in Unschuld waschen kann und: „Der Wahlkampfmanager hat damit auch nichts zu tun“, wie Annalena Baerbock nicht müde wird zu betonen.
Dummerweise ist Habecks Wahlkampfmanager, Andreas Audretsch, der Nutznießer der Affäre. Das muss selbstverständlich nicht zwingend heißen, dass er auch an ihr mitgewirkt hat. Und auch nicht, dass, wenn es so gewesen wäre, sein Chef etwas davon gewusst hätte. Aber entsprechende Fragen drängen sich natürlich auf. Und der demonstrative verbale Schutzwall, den die Spitzenkräfte errichten, haben nicht unbedingt den Effekt, einen solchen Verdacht zu zerstreuen.
Blöd für die Grünen ist auch, dass diese Intrige nicht gerade meisterhaft gesponnen wurde. Eine professionell aufgebaute Intrige gibt nicht so schnell preis, dass sie eine ist. Diese ist recht schnell in sich zusammengefallen, allerdings nicht schnell genug, um das Opfer zu retten.
Für all jene, die diese Geschichte zunächst nur oberflächlich verfolgt haben, sollten wir vielleicht noch einmal einen Rückblick auf den Anfang des Schmierenstücks werfen.
Kandidat mit 98,4 Prozent Zustimmung
Den ersten Auftritt hat der grüne Lokalmatador Stefan Gelbhaar, Jahrgang 1976, der 2021 in diesem Wahlkreis erstmals für die Grünen ein Direktmandat gewann. Zudem hatte er bei den letzten beiden Bundestagswahlen den zweiten Platz auf der Berliner Landesliste besetzt, mit dem man ohnehin sicher in den Bundestag einzieht. So sollte es zur Wahl 2025 wieder sein.
Mitte November des letzten Jahres war diesbezüglich die Welt noch in Ordnung. Auf einer Wahlversammlung der Grünen in Berlin-Pankow wurde Gelbhaar mit einer fast schon unanständig eindeutigen Mehrheit von 98,4 Prozent erwartungsgemäß zum Direktkandidaten gewählt. Sein bisheriger Erfolg überzeugte die Parteibasis. Am 14. Dezember stand dann die Wahl der Berliner Landesliste an, und der Rechtsanwalt und Strafverteidiger Gelbhaar wollte wieder für Platz zwei der Landesliste kandidieren. Auch hier standen seine Chancen recht gut, auch wenn es einen Gegenkandidaten geben würde: Andreas Audretsch.
Einen Tag vor dem Berliner Wahlparteitag meldete sich die Ombudsstelle der Grünen bei Gelbhaar, um ihm mitzuteilen, dass es schwere Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen ihn gäbe. Das war sicher ein Schock, denn in solchen Fragen wird in politischen Gremien heutzutage auf solche Vorwürfe de facto nicht mit einer Unschuldsvermutung bis zur Klärung, sondern mit einer Schuldvermutung reagiert. Gelbhaar beschreibt es auf seiner Website so:
„Am 13.12. hat mich die Ombudsstelle über Meldungen gegen meine Person informiert. Das hat mich wie ich Euch mitgeteilt habe aus der Bahn geworfen und stark beschäftigt. Konkretes dazu, wann ich wo was getan haben soll, wurde mir nicht gegeben. Ich wurde dazu gedrängt, nicht auf der Liste am Folgetag anzutreten.“
Diesem Drängen gab er nach, und Andreas Audretsch bekam den sicheren zweiten Listenplatz in Berlin. Sollte es nur darum gegangen sein, dann hätte die Geschichte doch an dieser Stelle zu Ende sein können, oder? Aber – ob einem Drehbuch folgend oder nicht – am Folgetag berichtete der RBB darüber, dass sich Gelbhaar vom Kampf um den Listenplatz zurückgezogen hatte und warum. Und ganz schnell waren auch die Stimmen zur Hand, die mehr forderten, als nur die Aufgabe eines Listenplatzes. Beim RBB hörte sich das so an:
„Leonie Wingerath, Co-Sprecherin der Grünen Jugend, sagte dem rbb: ‚Es hat jetzt oberste Priorität, sich um die Betroffenen zu kümmern und diese Fälle aufzuarbeiten. Und das wird unsere Partei jetzt auch tun.‘
Es sei wichtig, den Betroffenen erstmal Glauben zu schenken und sich darum professionell zu kümmern. Wingerath finde es wichtig, dass Gelbhaar nicht auf die Landesliste kandidiere und sie forderte Gelbhaar auf, auch seine Direktkandidatur im Wahlkreis Pankow zurückzuziehen.“
„Das hat nichts mehr mit Politik zu tun“
Den „Betroffenen“, also den Anklägern, sollte man glauben, und der Angeklagte soll schon einmal prophylaktisch Buße tun? Gelbhaar wollte dieses Spiel nicht mitspielen und die Vorwürfe auch nicht auf sich sitzenlassen. Er wusste nur zunächst gar nicht, wogegen er sich wie wehren sollte. Er schrieb:
„Die Ombudsgespräche sind vertraulich, diesem Vorgehen habe ich mich unterworfen – was auch Vertraulichkeit von meiner Seite voraussetzt. Im Wissen um die Vertraulichkeitszusage und im Unwissen über konkrete Vorwürfe konnte ich nicht Stellung nehmen – auch nicht in die Partei hinein.
In dieser Situation informierte ich über grüne Verteiler über meine Wahrnehmung und schilderte das. Es liegen keine Strafanzeigen gegen mich vor, darüber habe ich informiert, und auch, dass ich gegen Falschbehauptungen vorgehe.“
Der politisch tödliche Ruf eines sexuell Übergriffigen war nun in der Welt, allerdings gab es wenig Konkretes. Nach eigenen Angaben bekam Gelbhaar erst nach den Weihnachtsfeiertagen genauere Kenntnis:
„Am 27.12. wurden mir fünf konkretere Vorgänge (teils mit Datum und Hergang) von Journalist*innen (also nicht von der Ombudsstelle) übermittelt. Die Vorwürfe sind gelogen.
Ich habe sodann – mit Unterstützung – intensiv recherchiert, um die Vorwürfe nicht nur zu bestreiten, sondern um sie zu widerlegen.
Trotz der Lügen: ich konnte mich jetzt erstmals mit etwas halbwegs konkretem auseinandersetzen. Ich habe um konkretere Informationen gebeten, die allerdings nicht kamen.
Ich weiß seitdem, dass es sich bei diesem Vorgang um eine in Teilen geplante Aktion handeln muss. Das Ziel ist mich massiv zu diskreditieren, überdies Teile der Partei in Aufruhr zu versetzen, und der Partei zu schaden. Das hat nichts mehr mit Politik oder einer harten Auseinandersetzung zu tun. Das ist schlichtweg kriminell.“
Der Verdacht einer „in Teilen geplanten Aktion“ ist mehr als plausibel, weniger zutreffend dürfte der Teil mit dem Ziel der Parteischädigung sein. Da ist eine innerparteiliche Intrige schon wahrscheinlicher.
Mindestbestand an Beweistatsachen fehlt
Ebenfalls Ende Dezember begann auch die detailliertere Berichterstattung über die angeblichen Vergehen Gelbhaars. Zuerst berichtete der RBB unter Berufung auf eine angeblich Betroffene, von der man seit letzter Woche weiß, dass sowohl die Person als auch die Geschichte erfunden worden waren. Andere Medien setzten sich drauf. Zusammengefasst sind die Vorwürfe in einer Mitteilung von Gelbhaars Rechtsanwälten über ihre erfolgreichen Klagen dagegen:
„Das LG Frankfurt am Main hat Axel Springer Deutschland GmbH mit heutigem Beschluss (Az. 2-03 10/25) per einstweiliger Verfügung untersagt, den Verdacht zu erwecken, Herr Gelbhaar, hätte am 06. November 2023 eine junge Frau mithilfe von K.O.-Tropfen betäubt oder betäuben lassen, um es ihm zu ermöglichen, sie unter Gewalteinwirkung und gegen ihren Willen zu küssen, nackt auszuziehen und sexuelle Handlungen an ihr vorzunehmen, wie in dem angegriffenen Beitrag der BILD unter der Überschrift „Sexuelle Belästigung Was ist dran an den Belästigungsvorwürfen gegen Grünen-Politiker?“ geschehen.
Das Landgericht Frankfurt am Main untersagt damit den von BILD und BZ betitelten „Haupt-Vorwurf“ gegen unseren Mandanten. Es folgt dabei vollumfänglich unserer Auffassung, wonach es für den erweckten Verdacht schon an einem Mindestbestand an Beweistatsachen fehlt.
Parallel gehen wir für unseren Mandanten vor dem Landgericht Hamburg gegen weitere, andere Kernvorwürfe vor, die von angeblichen Betroffenen erhoben worden seien und vom RBB verbreitet werden. Auch insoweit mangelt es an jeglichem Beweis für die Richtigkeit der erhobenen Vorwürfe.
Unser Mandant weist jegliche Anschuldigungen von sich. Wir werden für ihn gegen jede Art von verleumderischer Darstellung vorgehen.
Derweil richtet unser Mandant seinen Blick voll auf seine politischen Aufgaben. An seiner Kandidatur für das Direktmandat des Deutschen Bundestages hält er fest und wird sich am 08.01.2025 zur parteiinternen Wahl stellen.“
Absturz in der zweiten Runde
Obwohl Gelbhaar seine Direktkandidatur mit sagenhaften 98,4 Prozent im November gewonnen hatte, strengte der Kreisverband der Grünen eine neue Abstimmung an und legte als Termin den 8. Januar 2025 fest. Gelbhaars Versuche, wenigstens eine Verschiebung zu erreichen, damit sich bis dahin einige Vorwürfe vielleicht widerlegen ließen und er damit überhaupt eine faire Chance bekäme, scheiterten. So wie er erwartungsgemäß bei dieser Abstimmung unterlag. Wie recht er damit hatte, dass nur wenige Tage später die Welt für ihn wieder völlig anders aussehen würde, zeigte sich in der letzten Woche.
Das Kartenhaus der Vorwürfe brach in wesentlichen Teilen zusammen. Der RBB musste kleinlaut gestehen, dass es weder die Betroffene gab noch die Geschichten, über die er berichtet hatte. Jetzt geben sich die Staatsvertragsfunker zerknirscht. „Journalistische Standards sind nicht vollumfänglich eingehalten worden“, schwurbelte RBB-Chefredakteur David Biesinger den journalistischen Skandal herunter. Immerhin hat es die verantwortliche Redaktion anscheinend nicht für nötig gehalten, Existenz und Identität einer Betroffenen mit einem quasi Kronzeuginnen-Prädikat für die Story zu prüfen, geschweige denn die Story selbst. Und dass, obwohl die Redakteure wussten, dass sie mit ihrer Berichterstattung eine Abstimmung beeinflussen, bei der es für Stefan Gelbhaar letztlich um die Politiker-Existenz ging.
Allerdings gab es eben auch Journalisten in der sonst oft recht gleichförmigen Hauptstadtpresse, die hinterfragten. Mögen die meisten Medienschaffenden auch grün sein, in einem Konflikt, in dem auf beiden Seiten Grüne stehen, schützt das offensichtlich nicht vor kritischer Recherche.
So wurde denn auch die Frau, die sich die Identität und die Geschichten, über die der RBB so unkritisch berichtete, ausgedacht und verbreitet hat, in der letzten Woche identifiziert: Shirin Kreße, eine Grüne vom linken Flügel der Partei und Fraktionsvorsitzende in der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Mitte. „Links“ und „chronisch wütend“ – so beschrieb sie sich selbst auf ihrem Instagram-Account. Die Partei hat sie schnell verlassen und sich nicht weiter geäußert. Der Tagesspiegel meldete am Wochenende:
„Die 27-Jährige hatte in der Gelbhaar-Affäre nachweislich von Beginn an eine aktive Rolle gespielt. Kurz bevor der Parteitag der Berliner Grünen Mitte Dezember die Landesliste für die Bundestagswahl bestimmte, hatte Kreße bei einer Runde der Parteilinken laut Teilnehmern die Belästigungsvorwürfe erhoben.“
Fortsetzung im Schmierentheater
Sie soll nun wohl den Sündenbock spielen. Aber es erscheint wenig plausibel, dass die junge Frau aus eigenem Antrieb diese Intrige gesponnen haben soll. Eher würde man glauben, dass sie sich hat instrumentalisieren lassen. Aber von wem?
Und da fallen viele Blicke natürlich unwillkürlich auf den Haupt-Nutznießer. Selbst wenn der Verdacht mangels Beweises ungern laut ausgesprochen wird.
Vielleicht gibt es ja auf die Frage nach dem Intrigen-Baumeister auch noch vor der Wahl eine belastbare Antwort. Wer immer es war, hat augenscheinlich nicht mit Intrigen-Profis gearbeitet. Wahrscheinlich herrscht selbst auf diesem Gebiet inzwischen Fachkräftemangel.
Werfen wir in voller Unschuldsvermutung einen kurzen Blick auf den Nutznießer: Jahrgang 1984, geboren in Stuttgart, Studium und Promotion zum Dr. rer. pol. bis 2010, Arbeit als Hörfunkjournalist in den Jahren 2007 bis 2015. Parallel dazu war er von 2009 bis 2015 Referent im Deutschen Bundestag; von 2015 bis 2020 Pressesprecher für das Bundeswirtschaftsministerium (bis 2017) und für das Bundesfamilienministerium (ab 2018) und arbeitete 2017 und 2018 in der Abteilung für „Grundsatzfragen der Kommunikation“ im Bundespräsidialamt. Seit 2021 ist er Bundestagsabgeordneter und seit 2022 stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Und nun auch noch der Wahlkampfmanager für Robert Habeck.
Das klingt nach einer dieser typischen blutleeren Politiker-Karrieren mit allenfalls minimalen Erfahrungen in einem Leben außerhalb des Politikbetriebs. Aber er hat auch Bücher geschrieben.
„Schleichend an die Macht“ hieß ein Werk aus dem Jahr 2020. Aber bevor Sie jetzt denken, dass er darin Intrigen in der eigenen politischen Heimat beschreibt: Es geht darum „Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erhalten“. Zwei Jahre später schrieb er „Zusammen wachsen – Eine neue progressive Bewegung entsteht“.
Nun wird er uns aller Voraussicht nach als Bundestagsabgeordneter erhalten bleiben. Stefan Gelbhaars politische Karriere ist hingegen vorbei, auch wenn er am Ende vielleicht vollständig rehabilitiert werden sollte.
Gegenwärtig gönnen ihm die Grünen-Chefs das noch nicht. Am Montag hieß es von den Grünen-Vorsitzenden Felix Banaszak und Franziska Brantner, dass es noch weitere Beschwerden gegen Gelbhaar bei der Ombudsstelle gäbe und sieben davon würden von denen, die sich beschwert haben, auch aufrechterhalten. Mehr könne man aber aus Vertraulichkeitsgründen nicht sagen, und obendrein sei die Ombudsstelle völlig unabhängig. Alles in allem war der Presseauftritt der beiden Vorsitzenden bei diesem Thema reich an nervös eierndem Gestammel (zu sehen hier). Aber ein Satz kam klar und deutlich: Robert Habeck hat mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun.
Unabhängig davon hat das Pankower Schmierentheater ja vielleicht noch ein paar interessante Fortsetzungen in den nächsten Wochen.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.