Das Schauspiel der deutschen Regierungsbildung bietet zahlreiche Facetten: Es ist mal Komödie, mal Lustspiel, mal Kriminalstück, auch Operette, immer nah an der Farce, aber niemals Tragödie. Warum?
Das Schauspiel der deutschen Regierungsbildung bietet dem Beobachter zahlreiche unterhaltsame Facetten: mal als Komödie, mal als Lustspiel, mal als Kriminalstück, auch als Operette, zwar immer nah an der Farce, aber niemals als Tragödie. Warum? Einfach, auf der politischen Bühne stand niemals ein tragischer Held im Mittelpunkt, und wem das nicht reicht, auch keine Heldin. Weshalb eigentlich? Mangelt es Deutschland an Dramen? An dramatischem Material durchaus nicht, aber an den dafür erforderlichen Charaktereigenschaften der Akteure. An dieser Einsicht angelangt, drängte sich mir eine Erinnerung auf. Vor vielen Jahren hatte ich ein Buch gelesen, in dem in einer Passage die Charaktereigenschaften deutscher Politiker drastisch beschrieben wurden:
„Es ist vollkommen unheimlich, wie porträtgetreu alles damals schon war – die schreckliche Mittelmäßigkeit der Politiker, der kleinkarierte, pedantische Stil, die phrasendreschende Wichtigtuerei, die Freude an der Rechtsfiktion als Mittel der Politik, die ständige Bereitschaft, ein Haus anzuzünden, um eine Suppe darin zu kochen, die Realitätsblindheit, die selbstverständliche und ungraziöse Korruption, die großen Worte für kleinste und kleinliche Interessen …“
Das “damals“ weist auf die Vergangenheit hin, aber ich löse das Rätsel noch nicht auf, zu unmittelbar ist der Bezug zur Gegenwart. Bekanntlich wird Olaf Scholz der erste Bundeskanzler sein, den seine eigene Partei nicht als Vorsitzenden haben wollte. Im Sieg jedoch hielt die Partei zusammen, jetzt, wo es darangeht, die Beute aufzuteilen, wird sie es nicht mehr. Zudem verfügt seine Partei erstmalig über weniger Sitze, als die seiner zwei Koalitionäre zusammen. Um die Diskussionen in der künftigen Regierung zu vernehmen, werden wir keine Hörgeräte mehr benötigen. Als zu lösende Probleme werden immer wieder dieselben genannt, aber ein Zustand ist neu. Gemessen an der Deckung unseres Energiebedarfs werden wir zukünftig nicht nur das westliche Polen und das nördliche Frankreich sein, sondern auch das östliche Holland und das südliche Dänemark. Der größte Industriestaat Europas muss in alle Himmelsrichtungen um Energie betteln.
Die lange Tradition der Kleingeistigkeit
Wenn die gegenwärtigen Akteure auf der politischen Bühne so ziemlich erbärmlich agieren, drängt sich die Frage auf, ob es zu früheren Zeiten besser gewesen war, doch die Antwort fällt betrüblich aus.
Die Klage über die Kleingeistigkeit unserer gegenwärtigen Politiker verkennt zwei Eigenschaften der Deutschen. Zum einen: Das ist eine lange Tradition. Zum anderen: Wir hatten kaum große Staatsmänner. Seit der obigen Charakteristik hatte Deutschland zwei hervorgebracht, aber beide waren Preußen: Friedrich II. und Bismarck. Heute ist der eine mehr durch seinen Rohrstock der andere mehr durch seinen Hering bekannt, in Kombination eigentlich nicht so arg schlecht für das deutsche Nationalbewusstsein.
Indessen, wie sah es in der jüngeren Vergangenheit aus? Adenauer bietet sich an. Listig war er schon, aber er regierte einen neu gegründeten Staat mit eingeschränkter Souveränität. Alsbald stieg der Stern von Willy Brandt auf: Die Ostverträge! Leider mit einem Makel behaftet, dass die Regierung Brandt vielleicht nur dank hinterhältiger Geldbewegungen der DDR ein Misstrauensvotum im Bundestag überstand. Und überhaupt war das Festhalten an den Grenzen von 1937 nicht nur allein eine Fiktion, es war eine absurd irreale Politik gewesen. Brandt leitete die Politik der friedlichen Koexistenz ein, gleichfalls absolut irreal, die 1989 zusammenbrach. Dann doch gewiss Helmut Kohl mit der Wiedervereinigung? Zweifellos! Aber kam danach nicht der Vorwurf, zwei Kardinalproblemen ausgewichen zu sein? Das Verbot der SED und nicht Klartext über den Bankrott der DDR geredet zu haben? Die Entschuldigung dazu: Die Wahl Ende 1990 musste gewonnen werden. Über den Euro und die Verschuldung in der EU – besser nicht weiterreden! Ja, fast vergessen, die Spendenaffäre! Aber trotzdem: Ein lichter Moment – einmal tatkräftig zugepackt – einmal Geschichte geschrieben, aber in den Geschichtsbüchern steht auch alles andere. Größe? Ja, auf engem Raum.
Die so treffende Beschreibung der charakterlichen Verfassung deutscher Mehrheitspolitiker stammt vom Ende der 60er Jahre, aber sie bezog sich nicht auf die damalige Situation, sondern auf die Verhältnisse während des Dreißigjährigen Krieges, und sie stammt aus der Besprechung eines Buches über diesen Krieg. Fast vierhundert Jahre deutsche Geschichte – und es hat sich nur peripher etwas verändert! Der Autor dieser Passage ist ein heute weitgehend vergessener Publizist, der jedoch von den 1950ern bis Ende der 1970er die intellektuellen Diskussionen in der Bundesrepublik aufwirbelte.
Selbst im Irrtum war er redlich
Die Wirkung seiner Auftritte im frühen Fernsehen waren nur mit den späteren von Reich-Ranicki zu vergleichen: knarrender Tonfall, überragende historische Kenntnisse und stets eine präzise Meinung, quasi zum Mitschreiben. Sebastian Haffner war eine einmalige Erscheinung in der deutschen Publizistik und Geschichtsschreibung. Bis heute kann ihm keiner das Wasser reichen. Sein Schreibstil überragte den aller seiner Opponenten, und in seinen zwei wichtigsten historischen Werken ist er auch vierzig Jahre danach unerreicht geblieben. Haffner starb zwar erst 1999, weshalb er mit schneidender Stimme und unnachahmlicher Eloquenz so manches zur Wiedervereinigung hätte sagen können, aber er verstummte, wahrscheinlich, weil er sich in seiner Ansicht über die Stabilität der DDR so gründlich geirrt hatte, dass er nicht mehr darüber hinwegkam. Überhaupt hatte er sich häufig geirrt. Adenauer warf er vor, die Einheit Deutschlands leichtfertig verspielt zu haben. Da wurde er als Kalter Krieger abgestempelt. Ulbricht war ihm mit seinen Persönlichkeitseigenschaften zwar eine unscheinbare Erscheinung, aber er hätte eine historische Leistung vollbracht, einen stabilen sozialistischen Staat geschaffen zu haben. Auch der Sowjetunion koinzidierte er ein System, an das sich einst westliche Staaten anlehnen würden.
Da war er ein Linker, obgleich ihm der Marxismus als einer Form des Glaubens (Verheißung!) stets zuwider war. Wie fast allen Linken blieb ihm die Wirtschaft lebenslang fremd. Er erfasste nicht, dass der Sozialismus keine Bedürfnisse befriedigen kann und meinte, die Entwicklungsländer würden durch ihre Einbindung in den Welthandel ärmer werden: „Industrialisierung ist zunächst immer Unglück.“ Die deutsche Linke von heute hat kein besseres Konzept anzubieten, und der Wohlfahrtsstaat ist dabei, die Grundlagen der Wohlfahrt zu vernichten.
Der unnachahmliche Stilist hatte zu viele Wandlungen vollzogen, als dass ihm die letzte noch sympathisch gewesen wäre. Eine der sehr wenigen großen Gestalten in der bundesdeutschen Publizistik irrt sich gravierend, sein historischer Instinkt lässt ihn im Stich und er zerbricht darüber. Sind Joschka Fischer und Oskar Lafontaine über ihre Ablehnung der deutschen Einheit zerbrochen? Selbst im Irrtum war Haffner redlich.
Indessen: Was sind seine Irrtümer gegenüber seinen Leistungen! Zwei dünne Bücher, Biographien über Churchill und Hitler, durchbohrten die knöchernen Gerippe professioneller deutscher Historiker. Auf den ersten Blick mag dies als arg wenig erscheinen, aber bei Haffner trügt der Schein, im Irrtum wie im Recht. Beide schmalen Biographien, fast mehr essayhaft als biographisch, haben weitaus nachhaltiger (da passt dieses gegenwärtige Dauerbrennerwort einmal) unser Wissen über historische Zusammenhänge und die in ihr agierenden Gestalten geprägt als all die gelehrten Wälzer.
Klägliche Revolutionäre
Dann 1982 noch einmal ein großer Wurf, sogar mehr für die Gegenwart als für die damalige Diskussion. Er publizierte das Buch “Zur Zeitgeschichte“. Dafür hatte er 36 Buchbesprechungen aus den Jahren 1963 bis 1971 zu Essays umgearbeitet. Aus einem stammt die eingangs angeführte Passage. Die Mehrheit der Essays betreffen Bücher (damals) linker Autoren: Freimut Duve, Ekkehart Krippendorf, Fritz Vilmar, Renate Riemek, Arnulf Baring, Gerhard Zwerenz u.a. Ihre Namen sind verblichen und keine dieser linken Analyse ist in der Erinnerung verblieben. Ist dies den sechs vergangenen Jahrzehnten geschuldet? Indessen, Haffners Büchlein “Anmerkungen zu Hitler“ ist unvergessen. Jedes dieser Bücher lebt von der Auseinandersetzung mit dem bösen Kapitalismus und schwelgt in der Hoffnung des kommenden guten Sozialismus. Sie sind Makulatur, wie übrigens auch die besprochenen der selbsternannten Zukunftsforscher von Robert Jungk bis zu Karl Steinbuch.
In einem Gespräch mit Joachim Fest erwiderte Haffner auf dessen Hinweis, nach 1933 hätten alle politischen Gegenmächte von rechts bis links versagt, dass die Linke vier Generationen lang ein wildes Kampfgeschrei angestimmt habe, aber als Hitler auftrat, war es plötzlich aus damit. Er hat aller Welt offenbar gemacht, dass die Rhetorik von den „Völkersignalen“ und dem „Letzten Gefecht“ nur ein „Maulheldentum“ war, das „schon von Marx herkam“. Für Hitler sei die ganze Weltrevolution nicht mehr als ein „Polizeiproblem“ gewesen. Das sei doch wohl ein bisschen kläglich für die Revolutionäre. Waren die Revolutionäre unter den 68ern mehr als nur Maulhelden? (Die Mörder unter ihnen sind kaum als Revolutionäre zu bezeichnen.) Was strebten die Fischers und Trittins von damals an und heute die Habecks und Baerbocks? Beamtenpensionen und Beraterverträge mit Konzernen.
Das führt zur Eingangspassage zurück. 1630 war das Volk einflusslos und die Fürsten regierten keinen Nationalstaat. Heute haben wir eine Demokratie und noch immer keinen Nationalstaat. Der Charakter unserer Demokratie spiegelt sich in einem Ereignis wider. Die intellektuellen Unzulänglichkeiten von Frau Baerbock waren vor dem Wahlkampf wohl bekannt. Warum also wurde sie in den Medien nach der Bekanntgabe ihrer Kanzlerkandidatur so ungemein hoffnungsvoll bewertet? Wann und bei welcher Person werden aus Täuschungen zur eigenen Person veritable Lügen?
Kein Problem gelöst, aber viele geschaffen
Das heutige Problem ist nicht Passivität des Volkes und auch nicht allein die Unbedarftheit der Politiker. Die Masse des Volkes bleibt immer dieselbe: Mitläufer. Es ist das Versagen einer breiten Elite: Politiker, Unternehmer, Manager, Journalisten, Publizisten, Künstler, Beamte, Lehrer. Allerdings führt die Frage nach dem Warum, Wieso und Weshalb über Deutschland hinaus. Wer von den letzten vier französischen Präsidenten hat auch nur eines von den wichtigen Problemen Frankreichs gelöst? Welches Problem Österreichs hat Kurz gelöst und welches seine fünf oder sechs Vorgänger? Warum ist die holländische und schwedische Lieblichkeit unter der Angst vor Drogenbanden verschwunden? Wie hieß der letzte große amerikanische Präsident? Ronald Reagan?
An manchen Äußerungen von FDP und Grünen ist die Einsicht herauszuhören, dass die Merkel-Union zusammen mit der SPD keine Probleme gelöst, aber etliche neue geschaffen hat, und einer, der daran maßgeblich mitgewirkt hat, soll nun neuer Bundeskanzler werden. Wird das Licht im Bundeskanzleramt ausgehen oder angehen?
Literaturhinweis: Sebastian Haffner: Zur Zeitgeschichte, rowohlt 1982