In Washington diskutierten der britische Premierminister Keir Starmer und US-Präsident Joe Biden, ob der Ukraine der Einsatz westlicher Langstreckenraketen gegen Russland erlaubt werden soll – was bedeutet das?
Der 11. September könnte eine neue Bedeutung gewinnen: Der britische Premier Keir Starmer und US-Präsident Joe Biden berieten in Washington über den potenziellen Einsatz von Langstreckenraketen gegen Russland.
Es wurde spekuliert, dass Starmer Biden davon überzeugen wollte, der Ukraine den Einsatz britischer Raketen gegen russisches Territorium zu erlauben. Bidens Haltung dazu blieb jedoch unklar. Die USA lieferten ihre Waffen bisher unter der Auflage, sie nicht gegen Russland einzusetzen, um eine Eskalation zu vermeiden.
Erst nach der erneuten russischen Invasion in der Region Charkiw lockerten die USA ihre Beschränkungen und erlaubten der Ukraine, russische Ziele nahe der Grenze anzugreifen. Mittlerweile steht die vollständige Aufhebung dieser Vorgabe zur Diskussion. Es ist eine Entscheidung, die das Potenzial hat, die Dynamik des Krieges grundlegend zu verändern.
Ein Bericht der New York Times legt nahe, dass Biden sich in einer schwierigen Lage befindet. Einerseits hat er stets betont, eine Eskalation des Krieges verhindern zu wollen. Andererseits wächst der Druck auf ihn, da Großbritannien und Frankreich den Einsatz von Langstreckenraketen wie den Storm-Shadow nicht länger nur befürworten, sondern nun aktiv fordern.
Direkte Beteiligung der NATO am Konflikt?
Starmer signalisierte die Bereitschaft, Raketen einzusetzen, sofern Washington zustimmt. Berichten zufolge könnte Biden dies erlauben, solange es sich um nicht-amerikanische Waffen handelt. Dies würde eine symbolische Solidarität mit den europäischen Partnern ausdrücken, insbesondere gegenüber Großbritannien und Frankreich.
Die britische Regierung hat ihre Begründung für den Einsatz von Storm-Shadow-Raketen gegen Ziele tief in Russland dargelegt. Und zwar können die Marschflugkörper, welche eine Reichweite von bis zu 250 Kilometern haben, von ukrainischen Su-24-Bombern abgefeuert werden. Die antiquierten Flugzeuge erhalten dadurch eine neue strategische Bedeutung.
Für Russland würde der Einsatz dieser Waffen gegen Ziele im eigenen Inland ein erhebliches Problem darstellen. Die Storm-Shadow-Raketen sind für ihre hohe Präzision und enorme Durchschlagskraft bekannt, insbesondere gegen stark gesicherte militärische Anlagen. Kiew hat sie bereits mehrfach gegen die russische Schwarzmeerflotte eingesetzt.
Der Kreml hat deshalb wiederholt betont, dass der Einsatz westlicher Langstreckenraketen auf seinem Territorium als direkte Beteiligung der NATO am Konflikt betrachtet werden würde. Präsident Wladimir Putin warnte davor, dass solche Angriffe zu schwerwiegenden Gegenmaßnahmen führen würden.
Einsatz "verheerender" Waffen
Am 12. September hob der russische Präsident auf einer Pressekonferenz in Moskau hervor, dass die Ukraine nicht in der Lage sei, diese Waffen ohne westliche Unterstützung effizient einzusetzen, und behauptete, dass NATO-Soldaten militärische Entscheidungen wie Flugpläne und Zielauswahl treffen würden. Im Rahmen seiner Analyse stellte Putin heraus:
„Es geht nicht nur darum, ob die Ukraine Raketen einsetzen darf, sondern ob die NATO direkt in den Konflikt eingreift [...] Das würde bedeuten, dass die NATO-Staaten, die USA und die europäischen Länder gegen Russland Krieg führen. Sollte dies der Fall sein, werden wir, angesichts der veränderten Natur des Konflikts, entsprechende Entscheidungen treffen.“
Wjatscheslaw Wolodin, Sprecher der russischen Staatsduma, warnte, dass Moskau verheerendere Waffen einsetzen werde, um seine Interessen zu verteidigen, falls der Westen der Lieferung von Langstreckenwaffen an die ukrainischen Streitkräfte für Angriffe auf Russland zustimmt.
Seiner Aussage nach macht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit seiner Bitte an die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien um die Lieferung solcher Waffen diese Länder zu direkten Beteiligten des militärischen Konflikts. „Selenskyj denkt nicht an die Menschen in der Ukraine, sondern will lediglich an der Macht bleiben“, meint Wolodin und fügte hinzu, dass der ukrainische Präsident seine Eltern nach Israel gebracht habe und seine Familie in London lebe.
Sergej Karaganow, Ehrenvorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, äußerte, dass Russland die westlichen Länder angreifen solle, falls die Ukraine russisches Territorium beschieße. „Wenn wieder eine Drohne den Kreml trifft, warum nicht zunächst einen konventionellen Raketenangriff auf den Reichstag? Lasst ihn brennen“, sagte er.
Washington zögert nicht nur aus politischen Gründen
Trotz dieser scharfen Reaktionen aus Moskau haben 17 ehemalige US-Botschafter und Generäle in einem offenen Brief an die Biden-Regierung betont, dass eine Lockerung der Beschränkungen auf den Einsatz westlicher Waffen gegen russisches Territorium keine Eskalation zur Folge hätte.
Sie argumentieren, dass die Ukraine bereits Angriffe auf von Russland beanspruchte Gebiete wie die Krim und Kursk durchgeführt habe, ohne dass es zu einer wesentlichen Eskalation von russischer Seite gekommen sei. Dieser Punkt wird von den USA besonders aufmerksam beobachtet, da er als Indikator dafür gilt, wie Russland auf eine mögliche Ausweitung der Waffenlieferungen reagieren könnte.
Auch Polen drängt vehement darauf, diesem Anliegen nachzukommen. Außenminister Radek Sikorski forderte, der Ukraine den Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele tief im russischen Hinterland zu gestatten. Dies äußerte Sikorski am 12. September während eines Treffens mit US-Außenminister Antony Blinken in Warschau.
Ein weiterer Aspekt ist die Debatte um die ballistischen ATACMS-Raketen, die von der Ukraine gefordert werden. Diese Marschflugkörper haben eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern und eignen sich besonders für den Einsatz gegen weitläufige, weniger geschützte Ziele wie Militärlager und Flugplätze. Die Ukraine hofft, dieses Waffensystem zusätzlich zu den britischen Storm-Shadow-Raketen in ihr Arsenal aufnehmen zu können.
Washington zögert jedoch nicht nur aus politischen Gründen: Die Bestände an ATACMS-Raketen sind begrenzt, und die Produktion neuer Einheiten stockt. Lockheed Martin, der Hersteller der Raketen, produziert derzeit nur eine begrenzte Anzahl, und viele dieser Einheiten sind bereits für den Export an andere Verbündete vorgesehen. Gleichzeitig gibt es Berichte, dass die US-Armee ihre Bestände an ATACMS nicht aufstockt, was die zukünftige Verfügbarkeit dieser Raketen zusätzlich einschränkt.
Auch Moskau hat sich neue Waffen beschafft
Zusätzlich zu den militärischen Aspekten spielen auch geopolitische Faktoren eine Rolle. Die Fähigkeit der Ukraine, Langstreckenraketen einzusetzen, könnte den Kriegsverlauf zwar entscheidend beeinflussen, birgt jedoch weiterhin das Risiko, dass bei massiven Angriffen zur Überwindung der russischen Luftabwehr zivile Ziele getroffen werden. Ein solcher Vorfall würde nicht nur zu hohen zivilen Verlusten führen, sondern auch die ohnehin angespannten diplomatischen Beziehungen zwischen dem Westen und Russland weiter belasten.
Die USA sind sich dieser Risiken bewusst und prüfen daher sorgfältig, ob sie der Ukraine den Einsatz dieser Waffen erlauben sollen. Gleichzeitig besteht die Sorge, dass die ukrainischen Streitkräfte ihre Bestände an Raketen schneller verbrauchen könnten, als sie ersetzt werden können, was den westlichen Ländern zusätzliche Belastungen auferlegen würde.
Aber auch Moskau hat sich neue Waffen beschafft. Laut Antony Blinken hat der Iran Russland ballistische Kurzstreckenraketen des Typs Fath-360 geliefert. Mehr als 200 dieser Raketen sollen Anfang September über einen Hafen am Kaspischen Meer nach Russland transportiert worden sein. Satellitenaufnahmen zeigen offenbar das Schiff, das die Waffen in den südrussischen Hafen Olja brachte.
Die Fath-360 ist eine Kurzstreckenrakete, die militärische Ziele nahe der Frontlinie treffen kann. Experten vermuten, dass Russland damit teurere Raketen wie die Iskander schont. Neben militärischen Zielen könnten auch ukrainische Städte wie Charkiw und Sumy, die nahe der russischen Grenze liegen, ins Visier geraten.
Aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit und kurzen Reaktionszeit bieten die Fath-360 Raketen laut Experten einen Vorteil gegenüber Drohnen, wenn es darum geht, schnell auf erkannte Ziele zu reagieren. Ein Abfangen ist nahezu unmöglich.
Angesichts des wachsenden Drucks auf Washington ist es wahrscheinlich, dass der Einsatz von Langstreckenwaffen gegen russische Ziele genehmigt wird. Doch wie riskant wäre eine Ausweitung der militärischen Angriffe wirklich?
Ignorieren russischer Befindlichkeiten kein tragbares Konzept
Das hängt entscheidend davon ab, welche Fraktion im Kreml die Oberhand gewinnt. Nicht nur Wladimir Putin sieht in dem Konflikt in der Ukraine einen Krieg gegen die NATO. Auch der ehemalige FSB-Chef und Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, zählt zu denjenigen, die diese Ansicht teilen.
Patruschew behauptet, die NATO-Länder seien direkt in den Krieg verwickelt, indem sie Waffen liefern, Geheimdienstinformationen bereitstellen und ukrainische Soldaten ausbilden. Diese westliche Unterstützung, so Patruschew, ziele darauf ab, Russland militärisch zu besiegen und zu zerschlagen – eine Position, die ebenfalls von Dmitrij Medwedjew und anderen führenden Politikern vertreten wird.
Dies sollte im Westen ernst genommen werden. Die Reaktionen Moskaus auf die NATO-Erweiterungen in Osteuropa haben deutlich gemacht, dass das Ignorieren russischer Befindlichkeiten in den politischen Entscheidungen der USA und der EU kein tragbares Konzept ist. Entscheidend war nicht, ob die westlichen Partner tatsächlich feindliche Absichten gegenüber Russland hegten, sondern dass Moskau diese Wahrnehmung zur Grundlage seiner eigenen politischen Strategie machte.
Im Kontext des Ukrainekrieges könnte dies verheerende Konsequenzen nach sich ziehen, bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen. Gemäß der russischen Atomdoktrin ist der Einsatz von nuklearen Gefechtsfeldwaffen dann vorgesehen, wenn die territoriale Integrität und Sicherheit der Russischen Föderation bedroht wird. Ob Russland auf eine Ausweitung der Angriffe mit nuklearen Vergeltungsschlägen antwortet, bleibt offen – doch das Risiko wächst.
Es ist daher unerlässlich, dass militärische Entscheidungen nicht auf riskanten Kalkülen beruhen, sondern einer klar definierten Doktrin folgen, die klare Grenzen setzt. Bisher haben die westlichen Alliierten diese Linie beibehalten. Eine Genehmigung für Angriffe auf tief in Russland gelegene militärische Ziele würde diesen Grundsatz jedoch aufgeben.
Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.