Pascal Cames, Gastautor / 23.12.2022 / 16:00 / Foto: Pixabay / 3 / Seite ausdrucken

„Schalom allerseits!”: André Kaminski und die späte Bundesrepublik

Von Pascal Cames.

In seinem Buch „Schalom allerseits!" erzählte André Kaminski Ende der 1980er Jahre von seiner Lesereise durch Deutschland. Eine gelungene Beschreibung der Spätphase der Bundesrepublik, von der damals keiner wusste, dass es die Spätphase war.

„Wir Juden erwarten ein Lächeln von den Deutschen. Das ist in Ordnung. Aber die Deutschen erwarten auch ein Lächeln von uns.“ (André Kaminski)

Wo heute der Zeitgeist hell lodert, liegt die Asche von morgen. Der Schweizer Schriftsteller mit polnisch-jüdischen Wurzeln André Kaminski (1923–1991) war in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Star. Heute ist er so gut wie vergessen. Zum Schreiben kam er spät. Davor arbeitete er als überzeugter Kommunist beim Rundfunk in Polen, war für ein Jahr beim Fernsehen in Israel, war Reporter in Afrika und, wenn man so will, Entwicklungshelfer. In Algerien half er nach dem Abzug der Franzosen, das Fernsehen wiederaufzubauen. Wahrscheinlich hatte er ein wildes Leben, bevor er sich, vom Kommunismus geheilt, wieder in der Schweiz installierte und Schriftsteller wurde. Seine brillanten Erzählungen „Die Gärten des Mulay Abdallah“ (1963) geben Zeugnis davon.

Sein Roman „Nächstes Jahr in Jerusalem“ (1986) wurde zum Bestseller und Anlass für eine Lesereise kreuz und quer durch die Bundesrepublik. 102 Städte! Die Menschen waren begeistert, aber die Kritiker nicht. Der Spiegel maulte ein „wie ein Verschnitt aus ‚Anatevka‘, Isaac Bashevis Singer und Ephraim Kishon.“ Das damalige Nebenprodukt (das Buch zur Lesung zum Buch), ist heute eine interessante Ausgrabungsstätte, die mehr mit der heutigen Zeit zu tun hat, als man glauben mag, oder einem lieb ist.

André Kaminskis Tagebuch einer Deutschlandreise „Schalom Allerseits“ leuchtet in die Spätphase der Bundesrepublik, von der damals keiner wusste, dass es die Spätphase war. Der Zeitpunkt war ein besonderer. Viele der NS-Täter und -Mitläufer lebten noch. Wer bei Kriegsende 25 Jahre jung war, stand kurz vor der Rente, und die Entscheider von damals waren immer noch lebendig. Vielleicht saßen sie im Publikum? „Werden sie mich verprügeln, wenn ich aus meinem Roman vorlese? Ronald Reagan und Michail Gorbatschow polarisierten die Menschen, die Angst vor dem Dritten Weltkrieg grassierte genauso wie die vor der Atomkraft (Tschernobyl platzte in die Lesereise), und Staaten wie Libyen verbreiteten Furcht. Während im Westen Kohl und Strauß dominierten, saßen im Osten Honecker und Co. fest im Sattel.

Das ganze Leben ist ein schlechtes Geschäft 

Bevor der in Zürich lebende André Kaminski sich aufmachte, zum ersten Mal in seinem Leben (!) nach Deutschland zu reisen, konsultierte er einen Wahrsager. Dieser sagte: „Schreib die Wahrheit, aber auffressen werden sie dich trotzdem.“ Sie haben es nicht getan. Möglicherweise hat ihn sein bissiger Humor geschützt. „Das ganze Leben ist ein schlechtes Geschäft. Aber sterben will niemand.“ Er ist also nicht gestorben. Was lässt sich mit seinem Tagebuch anstellen?

Buchhändler werden sich an der Typisierung der deutschen Buchhändler und der -Szene 1986 freuen. Das Fernsehen war als seicht verschrien, aber Bücher galten tatsächlich noch als Gegenmittel. Goldene Zeiten. Gelesen wurde nicht nur in Mössingen und anderswo in der Provinz, bei der VHS oder in jener Buchhandlung, die nur Bücher verkauft, die der Chef auch gelesen hat (also 300 Bücher!), sondern auch beim Hochadel in Königstein bei Frankfurt. Dort bricht der meistens lockere Kaminski das Eis mit Grüezi, Frau Bismarck und einem Schalom Allerseits!

Spießer von rechts und von links 

Das Tagebuch lebt durch seine Beobachtungen, wie der Vergleich der Parkkultur in München und London. Dort feiert man das freie Wort, an der Isar die freie Körperkultur. Dazu gibt es Anekdoten wie über das Freudenhaus in Singen mit seinem jüdischen Besitzer („theoretisch ein Jude, praktisch ein Mensch“) oder die Erinnerung an den Tag, als er, der überzeugte Kommunist, in Schlesien von Arbeitern halbtot geschlagen wurde. Der Kommunismus ist ihm vergällt: „Realistische Beobachtung, unrealistische Schlussfolgerung“, bilanziert er über Friedrich Engels. Dieser war ja 1848 Barrikaden-Inspektor. Schon dieser Titel lässt Kaminski an Honecker denken. Der deutsche Parteienstaat (damals noch im Osten) kommt schlecht weg. Eine weitere Szene ist bemerkenswert. In Hamburg schaut er sich eine George-Grosz-Ausstellung an, die aber nicht jeder kapiert. (Triggerwarnungen waren noch unbekannt…) Grosz würde „Lustobjekte, Huren, Luxusweiber“ malen, steht im Gästebuch, eine Feministin schreibt, solche Ausstellungen müsse man verbieten. Kaminski zitiert die Antwort eines Schülers: „Nichts kapiert, dumme Ziege. Es ist zum Heulen. Spießer von rechts und von links, aber die von links sind noch schlimmer, weil humorlos.“

In einer Stadt entdeckt er ein „Kauft nicht bei Nazis!“ Für ihn sind das „alte Slogans mit neuen Vorzeichen.“ In Bühl (Baden), Tübingen und anderswo vermisst er auf den Gedenkplatten der abgefackelten Synagogen eine ehrliche Information. Die Inschrift „Hier befand sich von 1825 bis 1938 die jüdische Synagoge“ kommentiert er so: „Also muss man annehmen, dass sich die jüdische Synagoge 1938 in Luft aufgelöst hat.“ Wo es geht, nimmt er Kultur mit, er schaut Dürer und entdeckt Hans Burgkmaier, er beschäftigt sich mit Thomas Mann und Gotthold Ephraim Lessing. „Es gibt auch eine Aggressivität der Toleranz. Eine Selbstherrlichkeit der Nachsicht“, stellt er dabei fest.

Jeder Stuhl in Deutschland wird für Kaminski zum hot seat, denn er wird zum Fixpunkt der Fragen über Israel, die Juden über Hass, Vergebung, Wiedergutmachung. Die Schuld ist ein immer wiederkehrendes Thema, ob die Jungen Schuld haben oder nur die Älteren? Alle? Und wie kann es man wiedergutmachen? Wie kann man die nächsten Nazis verhindern? Ein Riese von Mann sieht im Umgang mit den „Asylsuchenden, die wir unbekümmert in die Hölle zurückschicken“ ein Anzeichen dafür, dass es schon wieder losgeht.

„Aber ich bin ratlos, Herr Kaminski“, sagt in Kronberg eine Frau. „Es gibt ja keine Juden mehr. Weit und breit keinen einzigen.“ Der Zwischenruf eines jungen Mädchens soll hier ganz wiedergegeben werden: „Es ist schon wahr, es gibt keine Juden mehr, an denen wir unsere Schande wiedergutmachen könnten. Wir haben sie alle ausgerottet, die armen Leute, oder nicht? Aber es gibt ja noch einige hunderttausend Türken, mit denen wir unser Brot teilen könnten. Was halten Sie davon?“ Der Mann, der in Nürnberg auf dem Stuhl saß, auf dem Thomas Mann 1932 auf seiner letzten Lesung in Deutschland thronte, hat vielleicht ohne es zu merken etwas Großes geschaffen. Was halten Sie davon?

André Kaminski: „Schalom Allerseits – Tagebuch einer Deutschlandreise“, 233 Seiten, Insel, antiquarisch erhältlich u.a. hier

 

Pascal Cames lebt in der Nähe von Straßburg, arbeitet als Redakteur in einer Agentur und freiberuflich als Journalist und Autor. Sein Blog Homme de Fer ist nach einem Tram-Knotenpunkt in Straßburg benannt und beschäftigt sich mit dem Leben am Oberrhein.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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W. Bergmann / 23.12.2022

Ich bin nachdenklich !

Ludwig Luhmann / 23.12.2022

“Nächstes Jahr in Jerusalem” habe ich vor 30 Jahren mit Vergnügen gelesen.

Franz Klar / 23.12.2022

Schalom und Frohe Weihnukka allerseits !

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