Wem man nicht zutraut, sein eigenes Leben ohne Lenkung und Aufsicht zu führen, dem wird sehr schnell die Fähigkeit abgesprochen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Wenn den Menschen die Vernunft und Erkenntnisfähigkeit darüber abgesprochen wird, ob, was und wie viel sie essen, trinken oder rauchen können, wie sie ihre Kinder erziehen sollen, ob sie Verträge frei zu gestalten vermögen, dann ist es nur ein kleiner Schritt, ihnen die Fähigkeit abzusprechen, in einer Demokratie mitzuentscheiden.
Das führt uns zum Trend des Demokratieabbaus. Dieser folgt daraus, dass eine politische Klasse, die sich ohnehin bereits jahrzehntelang in entrückten Parallelwelten eingerichtet hat, nicht mehr von einer mündigen Bürgerschaft ausgeht, die ihre Repräsentanten politisch zur Rechenschaft zieht. Stattdessen sieht unsere politische Klasse in den Bürgern eine ihr untergeordnete, diffuse Verwaltungsmasse, die sogar in Fragen der persönlichen Lebensführung erzieherisch anzuleiten sei. Nicht mehr die staatlichen und politischen Autoritäten müssen sich gegenüber dem Bürger rechtfertigen. Vielmehr greift mehr und mehr die Vorstellung um sich, dass es genau umgekehrt sein sollte und dass eine Bürgerschaft, die man als kognitiv und charakterlich ungeeignet erachtet, vom eigentlichen politischen Willensbildungsprozess tunlichst auf Abstand zu halten sei.
Was den Demokratieabbau zusätzlich antreibt, ist der folgende, bereits oben angesprochene Umstand: Eine politische Führungsschicht, welcher der Glaube an eine bessere Zukunft abhanden gekommen ist und die nicht willens und in der Lage ist, Perspektiven für mehr Wohlstand, Mobilität und damit Freiheit für alle Bürger zu erarbeiten, verliert ihre Legitimität und vermag niemanden mehr zu inspirieren. Das steigert ihr Verlangen, ihre politische Verantwortung zu delegieren und ihre Distanz zu den Bürgern auch institutionell zu vergrößern – und politische Entscheidungsprozesse auf supranationale und sonstige Gremien auszulagern.
Bedeutungszuwachs von Expertenräten und Kommissionen
Dies drückt sich auch im Machtzuwachs aus, den die Europäische Union seit Jahrzehnten zu verzeichnen hat. Der Prozess der europäischen Einigung gründet letztlich auf der Vorstellung, dass durch dunkle Leidenschaften getriebene Volksmassen in Nationalstaaten zu einer tödlichen (Kriegs-)Gefahr werden, wenn man sie nicht genügend einhegt. In der EU ist der Prozess der Setzung allgemeinverbindlicher Normen vom Mehrheitswillen einer wie auch immer gearteten demokratischen Öffentlichkeit abgekoppelt. Sie wird von keiner Regierung verkörpert, die auf Grundlage von Parlamentswahlen eine Stimmenmehrheit eines europäischen Staatsvolkes errungen hat. Im Rahmen der EU gibt es keine Rechenschaftspflicht einer wie auch immer gearteten europäischen Regierung gegenüber einem wie auch immer gearteten europäischen Staatsvolk.
Auch der Bedeutungszuwachs von Expertenräten und Kommissionen führt zu einer Abschirmung des politischen Deliberationsprozesses. Beispiele hierfür gibt es mittlerweile zuhauf – etwa die Kohlekommission, die den politischen Entscheidungsprozess für den folgenschweren Kohleausstieg vorbereitete, die Ethikkommission, die im Zuge des Fukushima-Unglücks die Abschaltung der Atomkraftwerke einleitete, oder in der Ära Schröder die Hartz-Kommission. Auch hier wird dem Wähler seit Langem immer wieder der Eindruck vermittelt, dass er, egal, wen er wählt, ohnehin keinen Einfluss auf die Politik ausübt. Er bekommt den Eindruck, dass es keine Wahl zwischen verschiedenen Optionen gibt, sondern dass ohnehin alles Notwendigkeiten folgt, die nur noch von Experten erkannt und formuliert werden müssen.
Im Zuge der Corona-Krise erleben wir einen weiteren drastisch forcierten Trend – nämlich hin zu einer Politik des permanenten Ausnahmezustandes, die den Demokratieabbau weiter vorantreibt. Beispielhaft hierfür ist die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes, das dem Bundesgesundheitsminister außergewöhnliche exekutive, aber auch gesetzgeberische Kompetenzen für den Ausnahmezustand an die Hand gibt. So hat der Bundestag auf der neu geschaffenen Grundlage des Paragraphen 5 Absatz 1 dieses Gesetzes eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ festgestellt, die so lange fortbesteht, bis der Bundestag den Ausnahmezustand wieder beendet.
Allgemeinverbindliche Normen vom Mehrheitswillen abgekoppelt
Für diesen Zeitraum gibt Absatz 2 dieses Paragraphen 5 dem Bundesgesundheitsminister die Befugnis, mittels Rechtsverordnung auf der Grundlage einer denkbar weit auslegbaren gesetzlichen Ermächtigung weite Teile des Infektionsschutzgesetzes selbst, aber auch Vorschriften des Arzneimittelgesetzes, des Betäubungsmittelgesetzes, des Apothekengesetzes und anderer Gesetze außer Kraft zu setzen und durch neue Inhalte zu ersetzen. Auf diese Weise wechselt der gesetzgeberische Betrieb in den Modus des Ausnahmezustandes und ist nicht mehr den parlamentarisch vermittelten Anforderungen mehrerer Lesungen und ausführlicher Diskussionen im Parlament unterworfen.
Wir haben uns mittlerweile auch auf anderen Politikfeldern an eine Politik gewöhnt, die unter dem Eindruck eines angeblichen oder tatsächlichen Notstandes ein Klima erzeugt, in dem demokratische Deliberation mehr und mehr ausgehebelt wird. In diesem Prozess gewinnt die Exekutive des Staates zusätzlich an Macht und Entscheidungsbefugnissen. Regierung, Ministerialverwaltung, Polizei, Militär und natürlich Geheimdienste, aber auch Zentralbanken erfahren in diesem Prozess einen weiteren Bedeutungszuwachs. Von dieser Entwicklung zeugt nicht nur die Antiterrorpolitik nach 9/11, nicht nur die einschneidenden „Rettungsgipfel“ im Zuge der Euro-Rettung, sondern eben in besonders auffälliger Weise die politischen Schritte bei der Corona-Bekämpfung.
Präventiver Sicherheitsstaat
Die Corona-Pandemie forciert vor allem einen präventiven Sicherheitsstaat, der menschliche Risiken schon im Vorfeld eindämmen will. Konfrontiert mit einem als „neuartig“ ausgerufenen Viren-Phänomen, dem man das Potenzial einer durch diskussionsbedürftige epidemiologische Prognosen vorhergesagten Gesundheitskatastrophe mit zig Millionen Toten zuschrieb, trieb man eine bis dato beispiellose Politik der Risikoprävention voran. Diese Politik gefährdet oder vernichtet bis heute die beruflichen, kulturellen und politischen Lebensperspektiven zahlloser Bürger – mit Verweis auf ein hypothetisches Szenario.
Die Maßnahmen gegen Corona entfalten in radikaler Weise ein Denken, das, so es nicht grundsätzlich herausgefordert wird, Bürgerrechte de facto suspendiert. Es entsteht ein Staat, der sich autokratisch damit rechtfertigt, dass die von ihm verfügten Freiheitseinschränkungen den Eintritt der von ihm in einer noch unbestimmten Zukunft prognostizierten Schadensfälle verhindert hätten. Dieses Denken, das sich der Risikoaversion verschrieben hat, resultiert aus einer Wahrnehmung, die im Weltgeschehen nur noch eine Gemengelage mannigfaltiger Gefahrenquellen sieht.
Dass unser Staat möglichst schlagkräftig und wachsam sein muss, um immer wieder unvermittelt auf die aus menschlichem Unvermögen quellenden Risiken reagieren zu können, ist zu einem unausgesprochenen Credo geworden. Das ist der Hintergrund für den in Bürgerrechtskreisen vielfach thematisierten „präventiven Sicherheitsstaat“. Obwohl verfassungsgerichtlich angefochten und abgebremst, obwohl aufgrund oft beklagter personeller Engpässe scheinbar zu einem Papiertiger verkümmert, hat er in den letzten Jahrzehnten dennoch mehr und mehr an Kontur gewonnen.
Menschliche Risiken schon im Vorfeld eindämmen
Der präventive Sicherheitsstaat greift bereits dann einschneidend in das Leben der Bürger ein, wenn diese noch keine Straftat begangen oder wenn noch keine konkrete Gefahr für schützenswerte Rechtsgüter wie Leben, Leib oder Eigentum vorliegt. Es muss nur die Vermutung bestehen, dass irgendwann in der Zukunft eine bestimmte Person, eine Personengruppe oder eine Masse von Menschen zu einer Gefahr werden könnten. Wie der Bürgerrechtler Rolf Gössner sagt, mutiert der Mensch hier zu einem potenziellen Sicherheitsrisiko: Er muss – unter Umkehr der Beweislast – im Zweifel seine Unschuld oder Ungefährlichkeit beweisen.
So sehen mittlerweile beispielsweise das bayerische oder das niedersächsische Polizeigesetz für so genannte Gefährder die Möglichkeit von Aufenthalts- und Kontaktverboten oder – zur Überwachung – von elektronischen Fußfesseln vor. Zur Verhängung dieser Maßnahmen ist es nicht nötig, dass sie Straftaten begangen haben. Die Polizei braucht ihnen nur zuzutrauen, solche Straftaten künftig zu begehen. Mehr noch: So genannte Gefährder sollen bis zu 35 Tage in eine polizeiliche Präventivhaft gesperrt werden können – auf bloßen Verdacht, ohne Anklage, ohne regulären Strafprozess.
Zwar hatte eine nicht enden wollende Abfolge höchstgerichtlicher Urteile auf nationaler und europäischer Ebene, die sich beispielsweise gegen eine zu weit gehende Vorratsdatenspeicherung, gegen den Abschuss von Passagierflugzeugen, gegen unbegrenzte Lauschangriffe und Online-Durchsuchungen richteten, den Marsch in den autoritären Sicherheitsstaat vorübergehend gebremst. Das ändert jedoch nichts daran, dass mittlerweile aufgrund des weit ausufernden Gedankens der Gefahrenabwehr – siehe Corona – nicht „nur“ die Freiheit und Lebensperspektiven sonderbarer Randgruppen in unserer Gesellschaft drastisch beschnitten werden, sondern millionenfach bereits vor einer irgendwann einmal abgeschlossenen gerichtlichen Klärung vollendete Tatsachen geschaffen werden.
Überwachung und Militarisieren
Allein die nach wie vor nicht ganz geklärten Vorwürfe gegen NSA & Co. werfen die Frage auf, ob der Verlust bürgerlicher Freiheitsrechte angesichts einer verfassungsrechtliche Beschränkungen umgehenden internationalen geheimdienstlichen Sicherheitsinfrastruktur nicht weiter fortgeschritten ist, als gemeinhin angenommen. Was nämlich sehr selten thematisiert wird: Amerikanische und deutsche Geheimdienste haben seit den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland eine symbiotische und intime Zusammenarbeit auf dem Boden Deutschlands etabliert, die bis zum heutigen Tage mit Wissen und Segen der deutschen Bundesregierung fortdauert.
Diesen Sachverhalt bestätigt der Historiker Josef Foschepoth. Danach können amerikanische und deutsche Geheimdienste auf der Grundlage von zum Teil geheimen Vereinbarungen, die mitunter nach wie vor gültig sind, unser Land im Prinzip ohne Grenzen überwachen. So gibt es einen Passus im Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, der 1963 in Kraft trat. Darin verpflichten sich die Vertragspartner zu engster Zusammenarbeit. Und um diese zu gewährleisten, verpflichtete man sich, weitere Verwaltungsabkommen und geheime Vereinbarungen abzuschließen. Auf dieser Grundlage, so Foschepoth, gebe es heutzutage eine „beispiellose Vernetzung“ sowie „immer gewaltigere technische und finanzielle Möglichkeiten“, die den Geheimdiensten zur Verfügung stünden.
Und man mache sich nichts vor: Unter dem Radar einer größeren Öffentlichkeit laufen Wegbereitungen einer Militarisierung der inneren Sicherheit ab. Zwar sieht die deutsche Verfassung den Einsatz der Bundeswehr im Inneren nach wie vor nur als hilfsweisen Ausnahmefall zwecks ergänzender Unterstützung bei Naturkatastrophen und dergleichen vor. Wie jedoch Clemens Schrenk in diesem Buch detailliert ausführt, vollzieht sich eine Militarisierung der inneren Sicherheit zum einen dadurch, dass die Polizei – die in einem freiheitlichen Staat eigentlich eine vorrangig zivile, freiheitssichernde, deeskalierende und Grundrechte schonende Rolle einzunehmen hat – in den letzten Jahren nach und nach mit martialischer Schutzausrüstung, gepanzerten Fahrzeugen und kriegstauglichen Waffen ausgestattet worden ist.
Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit durchbrochen
Schon das vermittelt angesichts bereits vermehrter militaristisch anmutender Einsätze in „Problembezirken“ den Eindruck, es herrschten in unserem Land keine zivilen Zustände mehr. Gleichzeitig sorgt die schrittweise Einschränkung des Waffenrechtes, auf die die Waffenrechtsaktivistin Katja Triebel in diesem Buch aufmerksam macht, dazu, dass den zunehmend militarisierten Sicherheitskräften zunehmend entwaffnete und machtlose Bürger gegenüberstehen. Das Machtgefälle wird umso größer, wie sich seit Jahren Ansätze und Diskussionen darüber häufen, die bereits zu einer weltweiten Interventionsarmee umgestaltete Bundeswehr im Inland leichter einsetzen zu können. Die durch das Grundgesetz vorgeschriebene Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen Militär und Polizei, wird so zusehends durchbrochen.
Davon zeugen folgende Entwicklungen, auf die der Bürgerrechtler Rolf Gössner seit Längerem hinweist: Die in Art. 222 des Lissabon-Vertrages verankerte Solidaritätsklausel legitimiert Militäreinsätze im Inneren der EU-Staaten bei – großzügig definierten – Katastrophenlagen und Terrorgefahren. Zudem hat man sich hierzulande schon längst an heimische Militäreinsätze gewöhnt – beispielsweise anlässlich der Fußball-WM 2006, des G8-Gipfels 2007, des NATO-Gipfels 2009 oder im Jahre 2015 beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau. Doch besonders bezeichnend erscheint, dass mittlerweile im Gefechtsübungszentrum des Heeres in der Colbitz-Letzlinger Heide (Sachsen-Anhalt) eine sechs Quadratkilometer große militärische Übungsstadt namens „Schnöggersburg“ entstanden ist. Rolf Gössner machte bereits in der Zeit der Entstehungsphase dieser Übungsstadt darauf aufmerksam, dass hier realitätsnah die militärische Konfrontation mit so genannten „urbanen Krisensituationen“ eingeübt werden soll.
Die in Schnöggersburg trainierten Taktiken lassen sich nicht nur in Krisengebieten, sondern ebenso zur Bekämpfung von Protesten und Aufständen im Inneren einsetzen. Ein Beispiel lieferten im Sommer die USA, in denen Donald Trump die amerikanischen Streitkräfte einzusetzen gedachte, um die Unruhen zu bekämpfen, die auf die mutmaßliche Ermordung eines Afroamerikaners durch einen Polizisten folgten. Und in Frankreich plante Präsident Emmanuel Macron im letzten Jahr, französische Streitkräfte gegen die Gelbwesten-Proteste einzusetzen.
Der Angriff auf die kollektiven und politischen Bürgerrechte
Die politischen Maßnahmen, die anlässlich der Corona-Pandemie eingeleitet wurden, bilden einen Frontalangriff auf die kollektiven und politischen Bürgerrechte. Indem sie das so genannte Social Distancing verordnen, greifen sie sogar das Menschsein an sich an. Wie der Historiker René Schlott in diesem Buch darlegt, ist der Mensch ein „zoon politicon“, also ein gemeinschaftsbildendes und gemeinschaftssuchendes Wesen. Die Mahnung, man solle sich „sozial distanzieren“ und im Falle einer unumgänglichen körperlichen Nähe in geschlossenen Räumen und woanders eine Maske tragen, raubt der menschlichen Interaktion viele Facetten der nichtverbalen Kommunikation – und entfremdet die Menschen voneinander.
Das verordnete „Social Distancing“, so es denn nie mehr wirklich aufgehoben wird und so es sich immer mal wieder verschärfen lässt, bedeutet einen gravierenden Einschnitt in unser aller Zusammenleben. Es bringt unser soziales Arrangement aus dem Gleichgewicht, in dessen Rahmen der bisherige kulturelle, religiöse, wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Prozess der Sinngebung und Wertschöpfung ablief. Zentral waren bislang die Direktheit, Spontanität und Ungezwungenheit des Austausches körperlich aufeinander bezogener Menschen. Es gibt nichts, das diese direkte Form des Kontaktes ersetzen kann.
Ohne diesen direkten Austausch können jene zahllosen Interessen, Wünsche, Eingebungen und Bestrebungen, die innerhalb der Bürgerschaft im Rahmen einer freien öffentlichen und einer privaten Sphäre zum Ausdruck kommen, nicht mehr wie früher die eigentliche Lebensquelle unseres Gemeinwesens bilden. Erst unter diesen Voraussetzungen kann ein so schwer zu definierendes Gemeinwesen namens „Nation“ entstehen, in der (zumeist) eine gemeinsame Sprache und unausgesprochene, nur durch direkten Austausch vermittelbare Übereinkünfte und Konventionen dafür sorgen, dass sich so etwas wie eine demokratische Öffentlichkeit und ein flüssiger Verständigungsprozess in Staat, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft ergeben können.
Schon vor der Corona-Krise bereitete die spontane und unregulierte Zusammenkunft vieler Menschen auf Demonstrationen, Kundgebungen oder auch in Kneipen der politischen Klasse ein Unbehagen. Der Grund für dieses Unbehagen liegt darin, dass aus derartigen Zusammenkünften eine nicht durch externe Regulierung fassende Unabhängigkeit der Bürger erwächst, die sich von den politischen Entscheidungsträgern längst entfremdet haben. Nun aber, in Zeiten von Corona, erscheint die Demonstrationsfreiheit von Bürgern, die unabhängig von kontrollierten Instanzen und elektronischen Medien spontan und direkt aufeinander bezogen agieren, auch noch als Quelle brandgefährlicher Virusinfektionen.
Dabei zeigt sich wieder einmal die Geringschätzung der intellektuellen Fähigkeit der Bürger, denen man unterstellt, nicht in der Lage zu sein, sich ein fundiertes Urteil zu bilden und deshalb der erstbesten Verschwörungstheorie hinterherzurennen, sobald sie damit in Kontakt kommen. So warnten Politiker wie Wolfgang Schäuble allen Ernstes vor einer Ansteckung von Teilnehmern der Corona-Demonstrationen mit dem Virus der „Verschwörungstheorie“. Sie gaben dabei den Rat, man möge sich auch von „Verschwörungstheoretikern“ sozial distanzieren.
Der private Raum wird zum kontrollierten Raum
Gerade das bestätigt den Eindruck, dass man unsere Gesellschaft aufspalten will. Auf der einen Seite steht eine angeblich vernünftige „Mitte“, die sich an Verlautbarungen der Regierung, ausgesuchten Wissenschaftler und etablierten Medien orientiert. Sie hat sich tunlichst von den Ansammlungen von Gruppen fernzuhalten, in denen offenbar irrationale Beweggründe wie Hass, Gewaltbereitschaft, Phobien oder schlichtweg Dummheit so weit verbreitet sind, dass ein Diskurs unmöglich sei. Der Gedanke, dass es Menschen gibt, die schlichtweg nicht demokratiefähig seien, treibt so auch die politischen Bemühungen an, die AfD als Brutstätte eines gefährlichen Populismus zu brandmarken. Wie der Jurist Horst Meier in diesem Buch schreibt, führt das auch zu einer Beobachtung von Teilen der Partei durch den Verfassungsschutz, der ein Inlandsgeheimdienst ist.
Im Zuge der Reaktion auf die Corona-Krise zeichnet sich jedenfalls nach und nach eine bereits vielfach beschworene „neue Normalität“ ab. In dieser werden mehr und mehr gerade jene Bürgerrechte angezweifelt, die dem demokratischen Staatsbürger ein wirksames kollektives Agieren zum Zwecke der Verbesserung der eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie einen möglichst freien Zugang zur öffentlichen Sphäre politischer Auseinandersetzungen garantieren. Die Gelegenheiten, in denen sich Menschen früher unabhängig von vermittelnden Instanzen, unreguliert, spontan und direkt aufeinander beziehen konnten, werden dabei verdrängt.
Zwischen die Menschen schiebt sich schleichend das Gebot des Abstandhaltens. Sie werden beim Interagieren immer abhängiger von überwachbaren elektronischen Medien- und Datenverarbeitungsgeräten. Im Zuge dessen verwandelt sich der private, der berufliche, der kulturelle und der öffentliche Raum in einen integrierten, überwachten und kontrollierten Raum. Dazu gehört auch der Trend des schleichenden Zurückdrängens des Bargeldes, auf den Norbert Häring in diesem Buch aufmerksam macht.
Eine Welt ohne Bargeld wäre eine Welt, in der nahezu alle wirtschaftlichen und lebensweltlichen Transaktionen und Interaktionen aufgezeichnet, gespeichert und zurückverfolgt werden können. Mit zu einem kontrollierten und integrierten Raum tragen Gesetze, wie etwa das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) bei, das Joachim Steinhöfel in diesem Buch kritisch beleuchtet. Solche Gesetze sorgen dafür, dass der durch das Internet verkörperte Raum für private und öffentliche menschliche Interaktion eben ein obrigkeitlich kontrollierter sein wird. Angesichts der weit verbreiteten Aversion gegen unberechenbare und störende Kollektive würde eine in diese Richtung weiter fortschreitende Entwicklung jedenfalls nicht überraschen. Deshalb ist es ratsam, wie auch Sabine Beppler-Spahl im Buch schreibt, angesichts des gegenwärtigen Angstklimas an die positiven Aspekte kollektiver freier Menschenansammlungen zu erinnern. Oft in der Geschichte war es „die Straße“, auf der für politische Ziele eingetreten wurde und von der die Inspiration für soziale Veränderungen ausging.
Neuanfang statt Perspektivlosigkeit
Verschwörungstheoretiker meinen, eine verborgene „Kabale“ würde die Krisen, die sich in den letzten Jahren häufen, bewusst und planvoll erzeugen. Die Finanzkrise, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise und nun auch die Corona-Krise würden dann dazu genutzt, um den jeweiligen damit einhergehenden Ausnahmezustand als Geburtshelfer einer totalitären, supranationalen „Neuen Weltordnung“ (NWO) zu instrumentalisieren. Diese Wahrnehmung blendet jedoch aus, dass unsere politischen Führungen schlicht unfähig sind, das gegenwärtige Weltgeschehen so aufzufassen, dass es sich in dauerhaft tragfähiger Form zum Vorteil aller Menschen konstruktiv gestalten lässt.
Wir erleben heute tatsächlich einen gefährlichen Abbau von Bürgerrechten. Doch anstelle einer verborgenen Gruppe sinisterer Masterminds agieren hier zwar mitunter gesichtslose, aber im Übrigen eher konzeptschwache Eliten. Es liegt in ihrer Verantwortungsscheu begründet, dass sie grundlegende gesetzgeberische und politische Kompetenzen an supranationale und teilweise auch (halb-)private Gremien auslagern. Und es liegt auch an ihrer profunden Orientierungsschwäche, dass sie sich – wie der Fall Greta Thunberg zeigt – mittlerweile sogar durch Forderungen von Kindern und Jugendlichen vor sich her treiben lassen. Dabei lässt sich aber zugestehen, dass es Interessengruppen gibt, die zumindest ahnen, dass diese Kinder und Jugendlichen aufgrund mangelnden Reflexionsvermögens den antihumanistischen, Bürgerrechte zersetzenden Zeitgeist ideal verkörpern und reproduzieren.
Die politischen Eliten lassen sich vom Gefühl wachsender Impotenz und vom Eindruck des Verlustes an Legitimität gegenüber einer schwindenden Wählerbasis antreiben. Erst daraus resultiert der Abbau von Bürgerrechten, der sich bis auf Weiteres durch einen minimalistischen Bezug auf das nackte Überleben der Bürger oder gar des „Planeten“ legitimieren lässt. Das führt zu einer Politik, die immer kleinteiliger die Integrität der persönlichen Lebensführung der Bürger angreift. Dass diese Politik von bürgerfernen Gremien beschlossen wird, deutet auf Entscheidungsträger hin, die sich vom Druck einer demokratischen Öffentlichkeit abschirmen wollen. Sie haben angesichts der populistischen Revolten der letzten Jahre, die die zunehmende Fadenscheinigkeit der etablierten Wirtschaftsordnung und auch Staatenordnung zum Thema machen, eine Wagenburgmentalität gegenüber dem Volk entwickelt.
Zunehmend entrechtete Bevölkerung und merklich gestärkte Staatsbürokratie
Der Brexit, andere aufkommende EU-kritische Bewegungen und populistische Wahlerfolge sollten von den politischen Eliten eigentlich zum Anlass genommen werden, das eigene Weltbild im Rahmen einer offenen politischen Debatte zu überdenken. Die Verantwortlichen in der Politik sind jedoch nicht willens, die Grundannahme der Alternativlosigkeit der gegenwärtigen, stagnierenden und die Menschen spaltenden Ordnung zu überwinden. Stattdessen erheben sie ihre konzeptionelle Not zur Tugend – und geben sich der Wahrnehmung hin, das Weltgeschehen sei eine fortlaufende Kette unvermittelt auftretender Gefahren und Krisen. Man verortet dabei die zahllosen „Risiken“, auf die unsere fahrige Politik jedes Mal zu spät zu reagieren scheint, letztlich im Menschen als solchem. Das ist Gift für Bürgerrechte, die auf einem Grundvertrauen in den Menschen basieren.
Wir leben in einem gesellschaftlichen Klima, in dem aufgrund angeblich begrenzter Ressourcen kein echter wirtschaftlicher Fortschritt mehr angestrebt wird. Die nicht zuletzt von der Regierung Merkel vorangetriebenen „Politikwenden“ bestätigen diesen Trend, durch den die Freiheiten der Bürger sukzessive eingeschränkt werden. Die „Verkehrswende“ läuft tendenziell darauf hinaus, die Mobilität zu verringern. Und die „Energiewende“ hat schon längst dafür gesorgt, dass wir uns von verlässlicher, leistungsstarker Energieversorgung abwenden.
Wir durchleben momentan ökonomische Verwerfungen, die einen gravierenden volkswirtschaftlichen Abstieg, wenn nicht gar Einbruch für immer größere Teile der Bevölkerung erkennbar werden lassen. Also wird man davon ausgehen müssen, dass der Legitimitäts- und Popularitätsgewinn, den nicht zuletzt die deutsche Bundesregierung ab März 2020 genoss, nur ein vorübergehender sein wird. Die Politik wird vor diesem Hintergrund versucht sein, das in diesem Buch ausgebreitete Instrumentarium an freiheitseinschränkenden Normen und Maßnahmen gegen einen wachsenden Teil einer aufgebrachten und desillusionierten Bevölkerung einzusetzen.
Wie sich dieser Konflikt im Rahmen eines Machtungleichgewichts zwischen einer zunehmend entrechteten Bevölkerung und einer merklich gestärkten Staatsbürokratie letztlich entwickeln wird, lässt sich zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes nicht prognostizieren. Eine offene und hart geführte Debatte um die Zukunftsfähigkeit der gegenwärtigen politischen Praxis ist erforderlich. Ein Streit darüber ist einem Zustand vorzuziehen, in dem unsere Gesellschaft in einem ewigen ökonomischen, aber auch kulturellen Abstieg gefangen ist – einem Abstieg, bei dem demokratische Freiheitsrechte aufgrund einer schleichenden Entwöhnung schließlich unrettbar verloren gehen.
Es ist jedenfalls höchste Zeit, dass wir uns wieder von vornherein auf das Potenzial einer demokratischen Bürgerschaft zurückbesinnen. Demokratische Bürgerrechte sollten als unerlässliche Garantien experimenteller, kreativer und höchstpersönlicher Freiheit zurückerobert werden. Erst auf dieser Grundlage können technische Innovationen, kulturelle Inspirationen und materieller Wohlstand entstehen und sich bürgerschaftlicher Gemeinsinn im Rahmen eines zukunftsoffenen demokratischen Gemeinwesens entfalten.
Dies ist ein Auszug aus: Kai Rogusch/Christoph Lövenich (Hg.): „Bürger oder Untertan? Über den Abbau unserer Freiheitsrechte “, 2020, Frankfurt/Main: Novo Argumente Verlag, hier bestellbar.
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