Sarah Bosettis staatsnahe Liebeslyrik

Wenn Satire zur Staatsräson wird: Sarah Bosetti als Sprachrohr eines Milieus, das Kritik mit Häme verwechselt und dabei stets auf der richtigen Seite steht – im Fernsehen wie vor Gericht.

Die für die nationale Stimmung zuständigen Werbeträger müssen feststellen, dass sich die Bedingungen der Meinungsproduktion zu ihrem Nachteil verändern. Immer mehr Abtrünnige konsumieren alternative, zumeist staatsferne Politikangebote und stellen immer hartnäckiger infrage, was ihnen die etablierten Medien, Parteien und Institutionen einflüstern wollen. In den USA haben libertäre und rechtsalternative Podcasts entscheidend zum Wahlsieg Donald Trumps beigetragen, dessen Regierung die woke Kulturrevolution beendet. Aus diesem Grund reagiert man in Deutschland frei nach dem unter Volkspädagogen beliebten Motto „Wehret den Anfängen“ noch empfindlicher auf Gegenreden, wie etwa Anfang des Jahres, als ein auf der Plattform X gestreamtes Gespräch zwischen Elon Musk und Alice Weidel, das keine Sprengkraft hatte, sondern Trostlosigkeit vermittelte, zusätzlich zur obligatorischen Empörung hundertfünfzig EU-Beobachter auf den Plan rief.

Die drohende Zerrüttung der postmaterialistischen Identitäts- und Symbolpolitik hat gleichwohl Gründe, die nicht nur den Medienbereich betreffen. Der internationale Handel stagnierte schon vor Trumps Zollpolitik. Mit den sich zurückziehenden USA verliert die Weltökonomie die Ordnungsmacht, die in den letzten Jahrzehnten garantiert hatte, dass der Warenverkehr im Sinne der westlichen Nationen weitgehend störungsfrei zirkulierte. Mit der sich zuspitzenden polit-ökonomischen Krise der Weltwirtschaft erscheinen nun auch die damit korrespondierenden Subjektideale als fadenscheinig; die linken Träume von einer prosperierenden postnationalen Weltgesellschaft, in der die kulturindustrielle Zelebration von Vielfalt und Diversität die kapitalistische Konkurrenz überstrahlte, sind zerplatzt.

An dieser Entwicklung interessiert die progressive Elite aber vor allem, dass die eigene Deutungshoheit immer stärker in Gefahr gerät. Ganze Fernsehprogramme, ob Nachrichten, Politmagazine oder Kabarettsendungen, sind daher inzwischen derart auf Indoktrination gepolt, dass man ihnen bloß noch treudoof-sediert oder gequält zuschauen kann. Auf Gegenreden, Satire oder Beleidigungen, ganz gleich wie banal, reagiert das Herrschaftspersonal mit Anzeigen, die Richter wiederum zu vor einigen Jahren noch undenkbaren drakonischen Abschreckurteilen veranlassen oder sogar dazu bringen, Entschuldigungen einzufordern. Sie tragen somit zur Neuanpassung der gesellschaftlichen Funktion von Politikern bei, die im sich selbst regulierenden System als wissenschaftlich gut informierte und dem krisenlösenden Sachzwang verpflichtete „Boten der Veränderung“ wahrgenommen werden, wie es Kevin Kühnert jüngst formulierte

Das unter Geisteswissenschaftlern als Gegenstand zeitgeistkritischer Beschäftigung beliebte „Nudging“ wäre angesichts des durchsichtigen ideologischen Stahlgewitters wohltuend, doch zur dezenten, gar subtilen Überredung fehlt Deutschen das Talent. Der Kampf gegen „Hass und Hetze“ konzentriert sich auf die digitalen Plattformen, wo Unsinniges und Bösartiges durch undurchsichtige Algorithmen Verbreitung findet. Erfolgreich ist man damit allerdings nicht: Das ins Digitale sich verlagernde neoarchaische Rudelverhalten isolierter Kapital-Nomaden, ob woke oder anti-woke, die sich hinsichtlich ihres Erregungseifers und im Hang zur bestrafungssüchtigen Larmoyanz nicht voneinander unterscheiden, lässt sich mit Christoph Türcke als „mythenunterlaufene Notzusammenkunft zur Bewältigung von wenig durchschauten Schrecknissen und Gefahren“ beschreiben; mit der Konsequenz, dass das, was man früher Öffentlichkeit nannte, vollends erodiert.

Gute Gründe

Die Aufregung über Wutbürger gehört zum guten Ton in Kreisen, in denen der Demokratieschutz immer grotesker exekutiert wird. Gerne vergessen wird dabei die seit einigen Jahren stattfindende Radikalisierung des Mainstreamjournalismus selbst, der entscheidend zu jenem Extremismus der Mitte beiträgt, deren Träger nicht zu bemerken scheinen, dass sie den Weg in eine autoritäre Bananenrepublik ebnen. Wie auch die Unterschiede zwischen der Linken und der Rechten in einer Gesellschaft zu vernachlässigen sind, in der alle irgendeine Gemeinschaft suchen, die sie von Feinden umstellt sehen.

Wenn heute in Deutschland von Propaganda die Rede ist, dann geht es entweder um dunkle, aber ferne Zeiten oder um Feinde im In- und Ausland. Symptomatisch für die zeitgenössische Propaganda im Westen ist, dass sie keine sein möchte. Neu ist, dass nicht mehr der orchestrierende Staat, sondern eine aktivistische, habituell staatsnahe oder vom Staat finanziell abhängige Zivilgesellschaft ihr wichtigster Träger ist. Dass auch in westlichen Gesellschaften mittels massenpsychologischer Beeinflussung politische Hegemonie erzeugt wird, notierte schon der französische Soziologe Jaques Ellul in seiner 1962 veröffentlichen Studie Propaganda. Ellul ging es um die reklameförmige Ideologisierung des Alltagslebens in der verwalteten Welt, die gegenüber Praktiken der Einschüchterung in totalitären Regimen jedoch störungsanfälliger in Krisen- und Kriegszeiten ist. Über „soziologische Propaganda“ schreibt er, dass ihre Stärke darin bestehe, im Normalvollzug demokratischer Gesellschaften ubiquitär präsent zu sein und beim Einzelnen den Eindruck entstehen zu lassen, es gehe in dieser besten aller Welten um sein persönliches Wohl: „Sie verwendet kaum ausdrückliche Befehle oder macht Absichten selten explizit. Vielmehr wird sie durch ein allgemeines Klima konstituiert, eine Atmosphäre, eine Stimmung, die unbewusst wirkt. Sie gibt sich nicht den Anschein von Propaganda, sondern greift den Menschen bei seinen Sitten, fasst ihn dort, wo sich ihm seine Gewohnheiten am meisten entziehen und verschafft ihm neue Gewohnheiten.“ Die sukzessive sich durchsetzende Tendenz, Demokratie als Glaubensbekenntnis zu verbreiten, konterkariert die im Predigtton bekundeten Ansprüche: „Die Mittel, die zur Verbreitung demokratischer Ideen eingesetzt werden, machen den Bürger in psychischer Hinsicht totalitär.“ (Ellul)

Der Wahrheitsgehalt dieser Analyse zeigt sich heute drastisch, nur dass sich inzwischen das Verhältnis zu den Adressaten der politischen Überzeugungsarbeit grundlegend verändert hat. In der Gegenwart glaubt man gegenüber einem wachsenden Teil der Bevölkerung auf strategische Bekümmerung, aber auch auf Kompromisse verzichten zu können. Das politische System des Pluralismus, in dessen Zentrum der korporatistische Interessenausgleich stand, wurde durch den Kampf „Gut gegen Böse“ ersetzt. Die in Kleinverlagen florierende rechte Gegenpropaganda indes, die beabsichtigt, Politiker als gewiefte Manipulatoren und Volksverräter zu entlarven, geht am Thema vorbei. Denn die freundlichen Apologeten der herrschenden Ordnung folgen weder einem konspirativen Plan noch müssen sie sich als rhetorisch versierte Täuscher beweisen. Die Zeiten, in denen ein prophetischer, charismatischer Stil gefragt war, sind vorbei, was schon ein Blick aufs Panoptikum der führenden Berufspolitiker beweist, die beim assoziativen Aneinanderreihen der eingeschliffenen Signalwörter auf die normative Kraft des Faktischen statt auf die eigene Überredungskunst vertrauen müssen. Längst geht es nicht mehr um die Beeinflussung von Schwankenden, was seit jeher zum politischen Alltagsgeschäft jeder bürgerlichen Gesellschaft gehörte, sondern darum, der willigen Masse Bekenntnisse, ja Gelöbnisse abzuverlangen und den renitenten Rest wirksam abzustrafen.

Anti-konservativ auf Sendung

Idealtypische Repräsentantin des Sozialcharakters, der derart zum Mitmachen animiert, ist Sarah Bosetti, die für die Performance progressiver Zeitgeist-Haltungen kontinuierlich mit Schrottpreisen für Systemtreue überhäuft wird. Sie pflegt eine Form des politischen Vortrags, die auf nichts anderes als auf Indoktrination und stereotype Feindbildpflege zielt. Dabei fing es in ihrem Fall harmlos, aber bereits unter kleinkünstlerischen Trainingsbedingungen an, die den sanften Konformisten ermöglichten, sich jede Hemmung und jedes Peinlichkeitsempfinden vor einem entsprechenden Publikum abzugewöhnen: „Bosettis Bühnenkarriere begann 2009 auf den Berliner Lesebühnen. 2010 gründete sie mit Jan von Im Ich, Daniel Hoth und Karsten Lampe die Lesebühne Couchpoetos, die bis 2021 monatlich in Berlin stattfand. 2013 wurde sie mit Daniel Hoth als Team Mikrokosmos deutschsprachige Vizemeisterin im Poetry Slam.“ 

Bekannt wurde die Couchpoetin allerdings mit dem seit 2020 für ZDF-Kultur produzierten Satireformat Bosetti will reden!. Der Titel verweist nicht nur auf den unzweifelhaften Mitteilungsdrang der Solokünstlerin. Der Wir-müssen-reden-Gestus, ein bewährter Kommunikationstrick zum Labern aufgelegter WG-Mitbewohner und absprungbereiter Partner, signalisiert, dass Bosettis Botschaften quasi-therapeutische Dringlichkeit beanspruchen. Auch Robert Habeck war im zurückliegenden Wahlkampf an den medienwirksam beworbenen Küchentischgesprächen mit potenziellen Wählern nur interessiert, um Volksnähe zu simulieren, die die rechtspopulistische Konkurrenz in der Form ostentativer Grobheit herzustellen versucht.

Bosettis Satireformat bietet die heuchlerischste aller Propagandaformen, die pädagogische: Ihr geht es um Charakterschwächen und moralische Defizite all derer, die anders leben und denken als der ökobourgeoise Mittelstand. Das zugrundeliegende Menschenbild unterscheidet sich von dem früherer Wollpulli-Pädagogen. Diese wollten bei aller scheinheiligen Menschenfreundlichkeit immerhin, dass irgendjemand von ihrem dozierend-erzieherischen Engagement profitiert. Die Verlierer der Gesellschaft sollten die Chance erhalten, durch Anstrengung und Disziplin zu den förderlichen Einsichten zu gelangen, die die Aufklärer bereits zu besitzen glaubten. Diese Hybris der Überlegenheit teilen auch zeitgenössische TV-Kasper wie Jan Böhmermann, Georg Restle oder eben Sarah Bosetti. Ihnen gelten die zu kurz Gekommenen als Risikofaktoren, als Sand im Getriebe der großen Transformationen, die pure Verachtung verdienen. Es geht ums exemplarische Anschwärzen von politischen Gegnern und um die Aktivierung der eigenen Gesinnungsgemeinschaft. Dieses Bedürfnis, zu zeigen wo man steht, hängt nicht zuletzt mit der allgemeinen Verschärfung der ökonomischen Konkurrenz im pädagogischen und kulturellen Prekariat zusammen, von der dort aber nie gesprochen wird.

Die knapp zehnminütigen Monologe spricht Bosetti frontal und Smartphone-kompatibel vor der Kamera ein. Bosetti, deren gouvernantenhaft-verkrampfte Strenge durch die fokussierende Kameraposition zur vollen Geltung kommt, bevorzugt den penetranten Einsatz paraverbaler Mittel: Der Tonfall, die Sprechgeschwindigkeit, die Stimmlage und die Betonung, alles ist dem Zweck untergeordnet, professionell zu überzeugen. Das deppendidaktische Repertoire reicht von künstlich tief intonierter Stimme und einem schnellen Sprechtempo (wenn böse Menschen nachgeäfft werden) bis zum pathetischen-hingebungsvollen Zitterton, wenn eine bedeutungsschwere Pointe das vorherige Sozialkunde-Stakkato abrundet. Die geduzten Zuschauer werden nicht nur als Eingeweihte, sondern als Freunde angesprochen. Trotz des hochpolitischen Auftrags darf’s auch mal witzig sein. Gut möglich, dass bei der Nennung des Wortes „Nazi“ in Naturweinbistros im Frankfurter Nordend oder im Berliner Prenzlauer Berg immer noch schneller als anderswo losgeprustet wird, aber selbst dort würde man im realen Leben wohl auch nur aus Höflichkeit mitschmunzeln, wenn jemand sich anschickt, aus seinem ereignislosen Erziehungsalltag eine speziell deutsche, weil fäkalhumorige Lachnummer zu machen: „Nazis sind durchaus ein bisschen wie du, Tochter, sie verwandeln alles, was man ihnen gibt, in braunen Brei und wundern sich dann, wie unangenehm es sich darin lebt.“ Bei so viel Ulk darf schon mal darüber hinweggesehen werden, dass der Nationalsozialismus – anders als suggeriert – für Nazis am wenigsten unangenehm war.

Dass politische Monologe für ein breites Publikum produziert werden, war im deutschen Fernsehen nach 1945 keinesfalls die Regel, Nachrichtensprecher beschränkten sich über Jahrzehnte tatsächlich relativ neutral auf die Mitteilung von Tatsachen, die Unterhaltungsindustrie hatte keine fachfremden Ansprüche, und zur Erörterung politischer Fragen wurden zumeist Diskussionen ausgestrahlt, die heute als „Talkshows“ konsumiert werden. Bosetti will reden! hingegen erinnert formal an eine Mischung aus Wort zum Sonntag und Der schwarze Kanal, mit dem Unterschied, dass es ihr als Angehörige der Generation „Modern und Urban“ wichtig ist, wissenschaftlich und nicht ideologisch zu erscheinen.

Ihr macht das schon

Der multimediale Staatsadel begreift sich selbst als gestaltende Gesellschaftselite. Protegiert vom ZDF rief Bosetti bereits einen „Gesellschaftrat Klima“ ins Leben, bei dem die Teilnehmer dazu aufgerufen wurden, ihre Ideen in die Kommentarspalte zu brainstormen. Das Verlockende: Jeder, der die Prämissen akzeptierte, hatte recht. Das Ausmaß an schlauer Beteiligung verblüffte schließlich die Gruppenleitung, die ihren Fans offenkundig nicht so viel zutraut: „Das einzige Traurige, was ich über eure Kommentare sagen kann, ist, dass ich damit nicht gerechnet habe. Und ich finde es ein wenig zynisch von mir, dass eine große konstruktive Diskussion im Internet etwas ist, dass mich derart verwundert. Aber sie ist passiert.“

„Konstruktiv“ bedeutet, infantil nachzuplappern, was man auf einem grünen Parteitag oder im Spiegel aufgeschnappt hat, um das Ganze autoritär zu überbieten: Mehr Verbote und Einschränkungen für Unwillige und Bürokratieabbau für den Ausbau des Nachhaltigkeitskapitalismus. Die Sentenz eines Users bringt dankenswerterweise auf den Punkt, worauf der dezidiert menschenfeindliche Klima-Aktivismus hinausläuft: „Für mich ist das Überleben der Moral wichtiger als das Überleben der Menschheit.“ 

Die Unfähigkeit, das betrübliche Ausmaß an politischer Tristesse zu erkennen, die sich unweigerlich ausbreitet, wenn Erwachsene Partizipation spielen, korreliert mit der Neigung zum entgrenzten Idealismus, die manifest wird, wenn Bosetti laut darüber nachdenkt, wie schön die Welt wäre, wenn „alle bescheiden, vernünftig und sachlich mit echter Charakterstärke und frei von Egoismus empathische Entscheidungen treffen“ würden.

Also ganz nah dran am Bild, das sie von sich selbst pflegt. Doch mit Arroganz hat das Ganze wenig zu tun, diese zeichnet sich immerhin durch eine angenehme Distanziertheit aus, die den Vorkämpfern erhabener Güte vollkommen fremd ist. Wer heute zielgruppenadäquat im Podcast-Format Politik vermitteln will, braucht zudem den Mut zur Trivialisierung, auch auf die Gefahr hin, wie ein Habermas in ganz leichter Sprache zu klingen: „Was wir also brauchen, ist ein funktionierender Rechtstaat für Staaten, eine wirklich regelbasierte Weltordnung. Alle Staaten müssen abrüsten, und wenn doch ein Staat einen anderen angreift, dann entscheidet das Gewaltmonopol, also eine bessere Version der Vereinten Nationen, demokratisch, die Weltpolizei mit großem Tatütata vorbeizuschicken, bis der Staat sich wieder einkriegt.“ 

Prediger der Barmherzigkeit

Statt das Gute zu suchen, so die Dauerklage von Bosetti, die aus ihrer Menschenverachtung keinen Hehl macht, neigten die Landsleute zum Ewiggestrigen, zu viele wollten immer nur „zurück zum Atomstrom, zurück zum Verbrenner, zurück zu einer Welt, in der es Männer leichter hatten, oder einfach direkt zurück zu Hitler.“ Die Opfer im wiedererwachten Hitlerismus sind Ausländer, wer auch sonst. Besonders bedroht sind Muslime, die sie als marginalisierte Fremde romantisiert.

Mit aller Vehemenz wird bestritten, dass die deutsche Einwanderungspolitik überhaupt Probleme schafft. Dabei reden alle nur deswegen so liebevoll über den immer brutaler und schamloser auftretenden Alltagsislam, weil die sonst von der Wissenschaft Begeisterten keinen Plan vom interkulturell daherkommenden Backlash haben, der Frauen, Schwule und Juden zuerst trifft. Sie wollen es nicht wissen. Das Problem ist nicht, dass Fremdenhass und Futterneid kritisiert wird, das Problem ist, dass diese Dummheit den Verfall der Urteilskraft vorantreibt, der eine Voraussetzung für die kurrente Unterwerfungsbereitschaft ist, die das leere Gerede über „unsere Werte“ noch lächerlicher erscheinen lässt.

Bosetti vertritt zur Kompensation dieses Defizits einen Mode-Feminismus, der sich vor allem zur Diffamierung männlicher Konkurrenten eignet. Die Nivellierung von Geschlechterdifferenzen schreitet unterm Kapitalverhältnis voran, so ist auch die dauerpräsente Mischung aus Selbstverwirklichung-Aktivismus und Expertenhörigkeit eine geschlechtsunabhängige Erziehungsfolge von Eltern, Lehrern und Sozialarbeitern, die den abgeschotteten Sprösslingen zu früh und zu oft einreden, dass sie unabhängig, stark und sowieso die Allergrößten sind. Doch während Männer wie Lars Klingbeil oder Hendrik Wüst beweisen, dass man auch sanft, leise und verständnisvoll die Ekelgrenze überschreiten kann, ist in der politisch normierten Öffentlichkeit ein Typus der Weiblichkeit dominant, der an Oberschwester Mildred Ratched aus One Flew Over the Cuckoo’s Nest von Miloš Forman erinnert. Lauter Vorzeigefrauen, die nichts als Moral und Regierungstreue verkörpern und als freundliche Vollstrecker der Entmündigung agieren. Dass Frauen in signifikanter Weise häufiger die Grünen wählen und dass die Verzichtskaraoke Fridays for Future in weiblicher Hand ist, sind schon hinreichende Gründe für die Beschäftigung mit der Hypothese, dass ein falsch verstandener in den pädagogischen Apparaten zur Geltung kommender Staatsfeminismus, der von den Erziehungsobjekten Widerspruch nach Möglichkeit fernhält, die Herausbildung eines Sozialcharakters befördert, der Funktionslust, Gefälligkeit nach oben und – falls nötig – strategische Opferhaltung vereint. Ein sozial erwünschter Habitus mithin, der für überwunden gehaltene äußerst unsympathische Eigenschaften in nach-patriarchaler Form wiederaufleben lässt.

Der demokratische Untertan

Nachdem Friedrich Merz im Januar 2025 verkündet hatte, das „Zustrombegrenzungsgesetz“ notfalls auch mit den Stimmen der AfD durchzusetzen, war die Erregung enorm. Auch bei Bosetti, für die die Brandmauer wie für alle zeitgemäßen Deutschen heilig ist. Ein Land, das eine solche Kanzlerkritik hervorbringt, die aus der richtigen Erkenntnis, dass das Volk – um es mit Bismarck zu sagen – ein Rindvieh ist, den Wunsch ableitet, verantwortlich geführt zu werden, braucht sich über mangelnde Staatsloyalität keine Sorgen zu machen: „Wer mit ihr Gesetze beschließt, gibt ihr Macht. Das ist etwas, und darüber waren wir uns einig, das nie wieder passieren darf. Und wer von SPD und Grünen verlangt, einem Gesetzentwurf zuzustimmen, ohne noch zu Kompromissen bereit zu sein –, und sie damit erpresst, das sonst seit achtzig Jahren geltende ‚Nie wieder‘ in ein ‚Na gut, einmal ist keinmal‘ umzuwandeln, ist seines Mandats nicht würdig. Wir Demokratielaien sind der Mob, der rülpsend und polternd jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf jagt. Im Bundestag, Herr Merz, brauchen wir entschlossene Besonnenheit und keine Abgeordneten, die ihre Mistgabeln und Fackeln mit zur Arbeit bringen und damit den Faschisten Feuer geben“. 

Solche devoten Bekenntnisse, die selbst wenig originellen Linken früher peinlich gewesen wären, erhalten ihre Legitimation durch den Glauben, man befinde sich im letzten Gefecht. Sobald der Großdemo-gegen-Rechts-Termin steht, kommen die großen Gefühle, Heinrich Manns Diederich in woke: „Diese Demos haben etwas Kathartisches. Plötzlich merken alle: Da sind Hunderttausende, mindestens, die nicht nur die Bedrohung fühlen wie ich, sondern die auch bereit sind, die Demokratie zu verteidigen.“ Antifaschismus unter der Herrschaft der Nazis war in Wahrheit selten heroisch, meist konspirativ und zeigte sich in kleinen Aktionen oder auch Gesten. Dass die Wir-sind-mehr-Aufmärsche sich in dieser Tradition sehen, ist blanker Hohn. Leute wie Bosetti sind nur deswegen für Antifaschismus, weil er heute konstitutiver Bestandteil des staatlichen Erziehungsprogramms ist. Die Aktivisten aus dem akademischen Mittelstand erspüren immer genau das, was von ihnen verlangt wird. Folgerichtig praktiziert Bosetti neuerdings Pazifismus-Kritik, doch statt es bei der Erkenntnis zu belassen, dass man gegen Länder wie Russland mit bloßer Wertekaraoke nicht weit kommt, macht sie sich öffentlich Gedanken darüber, unter welchen Bedingungen sie, die eigentlich nur Frieden und Harmonie wolle, für unsere Demokratie zu den Waffen greift. Zu ihrem eigenen Glück wird es dazu ohnehin nicht kommen, für solche Leute ist die gesicherte Folgenlosigkeit die entscheidende Bedingung der großspurig hergesagten Politikfloskeln. 

Vom Konformismus zum Sadismus

Ein Standardvorwurf von Bosetti an die ihrer Meinung nach zu kalte Gesellschaft ist, dass ihr „Empathie“ fehle, die doch unter progressiven Führungskräften zum Standardwerkzeug zählt, weil das schamlose Breittreten von zwischenmenschlichen Gefühlen nicht nur die Stimmung hebt, sondern offenlegt, wie jeder Einzelne tickt. Als es drauf ankam, hat sie bewiesen, wie es um ihre Milde und Rücksicht bestellt ist. Den Wunsch, Gegner der Corona-Politik gesellschaftlich kaltzustellen, fasste sie in die folgende Metapher: „Und so ein Blinddarm ist ja nicht im strengeren Sinne existenziell für das Überleben des Gesamtkomplexes.“ Die unmissverständliche Aussage war damals wenig überraschend, sie agierte nämlich konstant als Racheengel der Regierung, von der sie lediglich verlangte, noch härtere Repressionen umzusetzen. Alles natürlich im Namen des Lebensschutzes und der Selbstlosigkeit, die hierzulande mit blankem Sadismus koinzidieren. Als Reaktion auf ihre Wortwahl erinnerten einige Kritiker in Social Media an den KZ-Arzt Fritz Klein, von dem die gegen Juden gerichtete Aussage überliefert ist, dass „ein entzündeter Blinddarm“ aus dem Volkskörper entfernt werden müsse. Peinlich also, dass die Antifaschistin ein bisschen so klang wie ein echter Nazi, mit dem sie die Vorstellung eines organischen Volkskörpers offenkundig teilt. Doch nicht für Bosetti, die in einer Pseudo-Entschuldigung auf Gegenangriff schaltete und sich als verfolgte Außenseiterin exponierte. Das ist nicht nur Taktik. Für die Sorte Antifaschismus, die sie verkörpert, ist historische Unbildung, ja Unbildung überhaupt, eine zwingende Voraussetzung. Ihre asoziale Hetze hat ihr nicht geschadet. Im Gegenteil, die manipulativen Loyalitätsbeweise haben sie bekannter gemacht, es folgte 2022 eine eigene Fernsehshow auf 3sat. Nicht sie wurde strafrechtlich belangt, sondern ein Wut-Rentner, der die beiden Zitate von Bosetti und Klein im Internet in einem „Meme“ nebeneinandergestellt hatte. Während andere, die besonders aggressiv mitgemacht haben, schweigen oder andeuten, dass ihnen inzwischen manches peinlich ist, blickt Bosetti ohne jeden Zweifel auf die Zeit zurück, in der sie zu sich selbst kommen durfte. An die „Überlebenden der Pandemie“ gerichtet, gab sie folgenden Ratschlag: „Aufarbeitung kann nicht bedeuten, dass ihr euch hinstellt und jeden Fehler des RKI oder der Politik zum Weltuntergang erklärt oder dass ihr euch als die einzigen und wahren Opfer der Pandemie inszeniert. Ihr seid die Überlebenden, benehmt euch gefälligst so.“ 

Die Jury des Dieter-Hildebrandt-Preises verdeutlichte schließlich, was Kulturmenschen, die die latente Wut der manifesten vorziehen, an Bosetti schätzen und welche Bilder ihr Schaffen hervorruft: „Ihre hochpolitischen Geschichten erzählt sie mit leiser, freundlicher, unaufdringlicher, aber eindringlicher Stimme. Ihre Texte sind zeitgemäß, frisch, frech, kritisch, oft sehr böse und dabei überaus komisch. Hasskommentare, die ihr aus den sozialen Medien entgegenschlagen, beantwortet sie mit Liebeslyrik. Schlangenzüngig, mit süßlichen Worten, umwickelt sie den Gegner, bis sie ihm schließlich die Luft nimmt und ihn erdrückt.“

Pest und Cholera

Dass Medien- und Kulturmenschen, die sich als Systemstabilisatoren verstehen, beim Ausplaudern ihrer Straf- und Quäl-Fantasien stets als kritische Hassbekämpfer angesehen werden wollen, hängt damit zusammen, dass sie aus Überzeugung für den Staat sprechen, der sie als freundlich-achtsame Avantgarde schätzt und finanziert. Das gegenwärtige Staatsbürgerverständnis beinhaltet die unbedingte Bereitschaft, sich auf der Grundlage von Freiwilligkeit, personaler Bindung und intimem Geständniszwang verständnisvoll führen zu lassen und einander wechselseitig anzuleiten. Im Namen des Guten bewerkstelligen sie so die Selbstdemontage der Zivilisation zugunsten eines höheren Ziels. In ihrem Paralleluniversum zählt nur, was von grünen Technokraten propagiert und von Faktencheckern abgenickt wird, wodurch ein immer tieferer Graben zwischen dem staatsnahen Mittelstand und den auf Normalität pochenden Arbeitern entsteht, die sich schon im Interesse der ökonomischen Selbsterhaltung genauer an den objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu orientieren haben und dadurch weniger anfällig für woke Wahnideen sind. Die in Zeiten digitalisierter Vereinzelung massenpsychologisch wirksame Derealisation der Außenwelt findet nicht einfach nur als Effekt innerhalb vollends falsch gewordener gesellschaftlicher Verhältnisse statt, sie wird offen propagiert.

Von den weniger begeisterungsfähigen Leuten, denen man täglich einredet, sie bildeten sich den Reallohnverlust, die politischen Sicherheitsrisiken durch die Islamisierung des öffentlichen Raums oder die Einschränkung der Meinungsfreiheit nur ein, wird gleichzeitig erwartet, dass sie wegen des Klimas ihr gesamtes Leben in permanenter Panikbereitschaft umkrempeln und sich auch sonst jeder Kampagne anschließen. Nur: So devot wie sie es gerne hätten, sind viele dann doch noch nicht. Der Applaus für die tonangebenden Ideologen bleibt immer öfter aus, die Wut wächst. Sarah Bosetti spaltet und macht kein Geheimnis daraus, man könnte ihr für die Klarheit schaffende Zuspitzung fast dankbar sein. Wohlgemerkt: könnte, denn um ohne Zynismus auf politische Unruhe zu setzen, bräuchte es organisierte Alternativen zu den gegenwärtigen Profiteuren des dysfunktionalen herrschenden politischen Stils, die sich dieser Tage siegesgewiss auf eine politische Wende freuen.

Der Text erschien zuerst in casa|blanca.Texte zur falschen Zeit (1/2025). Das Heft kann hier bestellt werden.

David Schneider ist Autor der Zeitschrift casa|blanca.

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Leserpost

netiquette:

Stefan Riedel / 04.07.2025

Sarah Bosettis. Kulturschaffendeinn? Wer hatte immer recht? Wer hat heute immer recht ? Schöne alte Welt?

Marcel Seiler / 04.07.2025

Die extremsten Demokratiefeinde sind im Moment die Anhänger des Islams. Warum setzt man die ausgefeilten Mittel der Staatspropaganda nicht dort ein?

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