Mit Gott, Glauben und Erlösung hat Regisseur Michael Sturminger spätestens dieses Jahr auch beim „Jedermann“ gründlich aufgeräumt. Als Religionsersatz gibt’s eine Dosis Klimakrise.
Als Ende Mai dieses Jahres der österreichische Schauspieler Peter Simonischek starb, endete eine Ära. Simonischek spielte den Salzburger „Jedermann“ so lange wie kein anderer vor ihm und er war auch der Letzte, den man, ohne vor Scham zu erröten, in die Tradition derer stellen kann, die vor ihm die legendäre Rolle in Hugo von Hofmannsthals „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ verkörperten – Alexander Moissi, Attila Hörbiger, Will Quadflieg, Curd Jürgens, Maximilian Schell, Gerd Voss, Helmut Lohner, Klaus Maria Brandauer, um nur die Wichtigsten zu nennen.
Simonischek gab die Rolle des „reichen Mannes“, der erst im Angesicht des Todes zum Glauben findet, im Jahre 2009 nach acht Sommern ab. Da schien es den Theaterverantwortlichen des berühmten Festivals an der Zeit, auch dieses Stück dem „Regietheater“ auszuliefern, um es, wie es im Kritikerjargon heißt, „beherzt ins Heute zu transponieren“. Doch beim Salzburger „Jedermann“ verhält es sich ähnlich wie bei der vom Zweiten Vatikanischen Konzil angestoßenen Reform der katholischen Messliturgie. Wenn man auf den Mythos verzichtet, droht die Bedeutungslosigkeit.
Der „Jedermann“ des zum Katholizismus konvertierten Juden Hofmannsthal ist ein zutiefst gläubiges Stück, man könnte sagen die Quintessenz christlicher Erlösungshoffnung. Schon Christian Stückl, langjähriger Leiter der Oberammergauer Passionsspiele und des Münchner Volkstheaters, der in der Ära Simonischek Regie beim „Jedermann“ führte, konnte mit der Kirche und den von ihr verkündeten Wahrheiten nicht mehr viel anfangen. Doch man mochte ihm zumindest noch einen gewissen Respekt vor der „überholten“ Tradition attestieren. Er wusste zumindest, um was es geht.
Klima-Chaoten stürmen die Bühne
Mit dem Österreicher Michael Sturminger, der den „Jedermann“ am Freitagabend zum dritten Mal hintereinander neu inszenieren durfte, sitzt nun ein Mann am Regiepult, dem christliches Gedöns, das über ein allgemeines Bekenntnis zur Humanität hinausgeht, erklärtermaßen fremd ist. Sturminger ist bekennender Atheist wie auch der neue „Jedermann“, der Burgtheaterschauspieler Michael Maertens, der den Berliner TV-Serienhelden Lars Eidinger ablöst. Eidinger hatte seinerzeit erklärt, für ihn sei das Stück „nichts anderes als ein Abgesang auf das Patriarchat“. Er habe sich nur zur Verfügung gestellt, „um auf der Bühne als alter weißer Mann zu zeigen, wohin eine von Männern dominierte Gesellschaft führt. Die Zeit schreit nach weiblicher Machtübernahme.“
Im März hatte Sturminger in Klagenfurt Joseph Roths Roman „Hiob“ in einer Opernfassung herausgebracht, für die er selbst das Libretto schrieb. Das Finale mit dem märchenhaften Erscheinen Menuchims als deus ex machina gestaltete er als Traumsequenz: Menuchim erscheint seinem Vater, der sich in Sturmingers Version fast ganz von Gott abgewendet hat, nur im Traum. Diese Lösung, schrieb ein Kritiker, sei „tatsächlich glaubhafter“ als die „nicht hinterfragende Übernahme von Roths Romanende“, wie sie etwa in Christian Stückls (!) Dramatisierung dieses Werks zu finden war, die 2019 am Burgtheater, mit Peter Simonischek (!) in der Titelfigur, zu sehen war. „Stückl (…) hat mit Wundern eben wohl weniger Probleme als der kritische Sturminger.“
Mit Gott, Glauben und Erlösung hat Sturminger spätestens dieses Jahr auch beim „Jedermann“ gründlich aufgeräumt. Als Religionsersatz gibt’s eine Dosis Klimakrise. Mit seinem Vorschlag, die „Jedermann“-Aufführungen bei großer Hitze (wie üblicherweise bei Regen) vom Domplatz ins klimatisierte Festspielhaus zu verlegen, hatte Neu-Jedermann Maertens die Öffentlichkeit zuvor schon in den Hitzekollaps-Panikmodus versetzt. In Sturmingers Neuinszenierung stürmen nach wenigen Minuten Klimaaktivisten die Bühne und sprayen einen großen orangenen Klecks auf die Villa des reichen Jedermann. Wenig später stören offenbar echte Aktivisten der „Letzten Generation“ im Salzburger Festspielhaus die Vorstellung vor mehr als 2.000 Premierengästen und rufen: „Wir alle sind die Letzte Generation“, bevor sie nach draußen gebracht werden. „Plötzlich scheint der 1911 entstandene ,Jedermann‘ von Hugo von Hofmannsthal, traditioneller Auftakt der Salzburger Festspiele seit rund 100 Jahren, voller aktueller Brisanz“, notierte der dpa-Berichterstatter.
Endzeitspektakel mit weiblichem „Gott“ im Rastafari-Look
Oder war auch diese Intervention der Klima-Chaoten vorher abgesprochen oder wurde von den Verantwortlichen zumindest toleriert? Der Jedermann, der an seiner Geldgier erst zweifelt, als der Tod anklopft, passe als allgemeines Sinnbild, erklärte der Regisseur seinen Regieansatz: „Wir erleben mit ihm, was passiert, wenn wir erst zu denken und zu handeln beginnen, wenn es zu spät ist“.
Das Publikum schien von dem Endzeitspektakel samt durchgängig nicht-binärer Festgesellschaft im Hause Jedermanns und weiblichem „Gott“ im Rastafari-Look nur mäßig begeistert zu sein. Go woke, get broke, das gilt auch für den einst unerschütterlichen Salzburger „Jedermann“. Wegen eines drohenden Unwetters war die Aufführung, wie so oft, vom Domplatz ins Festspielhaus verlegt worden. Doch dann kam wieder die Sonne heraus bei klimakatastrophenunverdächtigen Temperaturen um die zwanzig Grad. Wenn wenigstens das Wetter mitspielen würde.
Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik u.a. für die Süddeutsche Zeitung.