Als 1938 das nach dem Ersten Weltkrieg wiedererstandene Polen 20 Jahre alt wurde, galt es den beiden Nachbarn Deutschland und Sowjetunion als „Saisonstaat“, als lediglich vorläufiges Gebilde, das keinen Bestand haben würde.
Ein Jahr später teilten sie das Land mit dem Hitler-Stalin-Pakt erneut unter sich auf, wie es ihre Vorgängerstaaten bereits Ende des 18. Jahrhunderts getan hatten.
Auch die Ukrainer galten früher als „unerlöstes Volk ohne Land“. Nun, da die Ukraine vor etwas über 30 Jahren ihre staatliche Souveränität erlangt hat, betrachtet Putins Russland sie mit der gleichen Verachtung, die einst Hitler und Stalin Polen entgegenbrachten: als Staat ohne Existenzrecht mit einem Volk ohne eigene kulturelle Identität. Die Ukrainer seien in Wirklichkeit Russen, und wer nicht „befreit“ werden wolle, dürfe als „Nazi“ vertrieben oder umgebracht werden. Diese ideologische Aufladung hat Konsequenzen sowohl für die russische Kriegführung, die die Annexion und „Entukrainisierung“ aller eroberten Gebiete (über den Umweg sogenannter „Volkrepubliken“) beinhaltet als auch für die Intensität der ukrainischen Verteidigung. Hier kämpfen ein Land und ein Volk buchstäblich um ihr Überleben.
Niemand wird euch helfen!
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die Ende Februar 2022 wenige Tage vor dem russischen Angriff stattfand, soll – so zitieren polnische Medien einen Berater des ukrainischen Präsidenten – der ehemalige polnische Außenminister Sikorski als einziger EU-Politiker Klartext mit der angereisten ukrainischen Delegation geredet haben. Während alle anderen europäischen Gesprächspartner die Ukrainer mit beruhigenden Floskeln abgespeist hätten, habe Sikorski einen Kriegsbeginn innerhalb der nächsten Tage prophezeit. „Innerhalb von drei Tagen werdet ihr vernichtet“, habe er gesagt. „Niemand wird euch helfen, außer ihr zerstört ganz schnell 10.000 russische Soldaten, 100 russische Flugzeuge und 300 russische Panzer. Wenn ihr das schafft, werden die anderen Länder anfangen, euch Waffen zu geben und Sanktionen gegen Russland zu verhängen.“ Nach diesen Worten habe Schockstarre unter den Ukrainern geherrscht, als habe Sikorski sie mit eiskaltem Wasser übergossen. Gleichwohl kam die Botschaft an.
Den russischen Angreifern schlug von Anfang an ein beispiellos erbitterter Widerstand entgegen. Als in den ersten Tagen deutsche und europäische Politiker keinen Pfifferling für die Angegriffenen geben wollten, schon Grabreden hielten und nicht im Traum an Waffenlieferungen dachten, strömten hunderttausende ukrainischer Fernfahrer und Saisonarbeiter aus Polen und Westeuropa zurück in die Heimat, um erst ihre Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen und sich dann der ukrainischen Territorialverteidigung anzuschließen. Das war – neben der in den Jahren zuvor durchgeführten Modernisierung der ukrainischen Armee – der Schlüssel für die erfolgreiche Verteidigung in der ersten Phase des Krieges.
Mit der gestiegenen Hoffnung, auch infolge der inzwischen angelaufenen internationalen Hilfe gegen den Angreifer bestehen zu können, gewannen in den vergangenen Wochen drei patriotische Lieder in der Ukraine selbst und darüber hinaus an Popularität. Sie haben ihren Ursprung im 19. bzw. am Anfang des 20. Jahrhunderts und stehen nicht nur für den Selbstbehauptungswillen der Ukrainer, sondern auch für das Ringen um ihre kulturelle und nationale Identität.
Mit Leib und Seele
„Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben“ – mit diesen Worten beginnt der Text der ukrainischen Nationalhymne, angelehnt an den Anfang der Hymne des polnischen Nachbarn („Noch ist Polen nicht verloren“). Text und Melodie stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Trotzdem dauerte es bis Anfang 1918, dass die zuvor unter russischer Dauerherrschaft stehende Ukraine als eigenständiger Staat entstand, immerhin ein knappes Jahr vor der „Wiedergeburt“ Polens. Bald darauf geriet sie jedoch ins Mahlwerk des Russischen Bürgerkrieges und wurde 1922 Teil der Sowjetunion, was sie bis zu deren Zerfall 1991 blieb, um gleich danach mit 92 Prozent Zustimmung ihre Unabhängigkeit zu erklären.
Die ersten drei Jahrzehnte einer eigenständigen Ukraine verliefen bekanntermaßen höchst turbulent. Geprägt waren sie von dem Bemühen um wirtschaftliche Stabilisierung, einem politischen Tauziehen zwischen EU-freundlichen und eher Russland zugeneigten Politikern sowie der russischen Annexion der Krim und dem Kampf um die beiden Donbass-Republiken, der weniger „Bürgerkrieg“ als vielmehr ein verdeckter Krieg Russlands war.
„Wir werden im eigenen Land herrschen“, heißt es in der Hymne, die nun in vielen Ländern der Welt als Zeichen der Solidarität häufiger gespielt wird. „Leib und Seele werden wir für unsere Freiheit opfern!“ – dass sie diese Zeilen ernst meinen, haben die Ukrainer in den vergangenen zehn Wochen bewiesen.
Hey, hey, rise up!
In „Oh roter Schneeball auf der Wiese“ geht es nicht um die Kugel aus Schnee, sondern um einen im Mai aufblühenden Strauch gleichen Namens, der sich in dem eingängigen Lied mit typisch slawischer Melodie nach unten biegt und für die traurige Ukraine steht. Im weiteren Text versprechen die Sitscher Schützen, die ab 1917 für eine eigenständige Ukraine kämpften, den Schneeball und ihr Land wieder aufzurichten und vom russischen Joch zu befreien.
Der Name der Schützen bezieht sich auf die Saporoger Sitsch (von der Stadt Saporischschja), den ersten freien ukrainischen Kosakenstaat im 17. Jahrhundert. Die Saporoger Kosaken waren ehemalige Bauern, die der Leibeigenschaft ihrer Feudalherren entflohen waren und sich im Gebiet des Flusses Dnjepr, der großen ukrainischen Lebensader, zwischen den damaligen Großmächten Polen-Litauen, Russland und dem Osmanischen Reich für einige Jahrzehnte ein eigenes Staatsgebilde schufen. Auf diese Episode nimmt auch die letzte Zeile der ukrainischen Nationalhymne Bezug: „Wir werden zeigen, dass wir zum Kosakengeschlecht gehören.“
Im jetzigen Krieg wurde das Lied schlagartig populär, als Andrij Chlywnjuk, Leadsänger von „BoomBox“, einer der populärsten ukrainischen Bands, es in Kiew a cappella auf der Straße sang. Chlywnjuk hatte bei Kriegsbeginn eine US-Tour abgebrochen, um sich den ukrainischen Streitkräften anzuschließen. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Lied von zahlreichen Künstlern gecovert. Auch die englische Rockband Pink Floyd montierte Chlywnjuks Gesang in ihre aktuelle Single „Hey Hey, Rise Up!“
In eine freundliche Welt
Das „Gebet für die Ukraine“ ist ein patriotisches Lied von 1885 und gilt als „geistliche Hymne“ des Landes, die heute regelmäßig zum Abschluss von Gottesdiensten und offiziellen Sitzungen angestimmt wird. „Großer und allmächtiger Herr, schütze unsere geliebte Ukraine“, heißt es darin. „Erleuchte uns mit Lernen und Wissen […], segne uns mit Freiheit und Weisheit, führe uns in eine freundliche Welt.“ Die wunderschöne Melodie schrieb der Komponist Mykola Lassenko, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Volkslieder sammelte und sich für die Förderung der ukrainischen Sprache einsetzte.
Diejenigen, die dieses und die anderen ukrainische Lieder auf sich wirken lassen – werden die sich noch anstecken lassen von der auch in Deutschland grassierenden Verächtlichmachung der Ukraine, die teils von der traditionellen deutschen Ignoranz für die kleinen Staaten Ostmitteleuropas, teils von erfolgreicher russischer Propaganda gespeist ist? Werden sie verstehen, dass die Ukraine kein „Saisonstaat“ ist, der sich um unseres lieben Friedens willens gefälligst zurück unter die russische Knute zu begeben hat, sondern ein großes europäisches Land mit einer eigenständigen Kultur und Tradition und dem selbstverständlichen Recht auf nationale Selbstbestimmung und territoriale Integrität?
Nach dem Krieg, wann und wie auch immer er enden mag, werden – so viel dürfte heute schon klar sein – das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl und die kulturelle Identität der Ukrainer stärker sein denn je, gerade auch unter der russischsprachigen Bevölkerung im Osten und Süden des Landes. Es ist eine bitterböse Ironie dieses Krieges, dass diejenigen, für deren Befreiung er angeblich geführt wird, in ihrer überwältigenden Mehrheit gar nicht von Russland befreit werden wollen und dass gerade sie am meisten unter den russischen Angriffen zu leiden haben.