Die politischen Nachwehen der samstäglichen Demonstration gegen den Corona-Ausnahmezustand in Leipzig sind ebenso atemberaubend weit entfernt von der selbst erlebten Wirklichkeit wie weite Teile der Medienwahrnehmung. Da werden Rücktritte verlangt, Richter gerügt und Rechtsverschärfungen angekündigt. Grüne Politiker wollen einen schnelleren Wasserwerfer-Einsatz. Und alles nur wegen einer großen und weitgehend friedlich verlaufenen Demonstration. Soll hysterische Reaktion vielleicht den Unwillen überdecken, sich mit den Forderungen der immerhin 45.000 Demonstranten auseinanderzusetzen?
"Was wir gestern in Leipzig gesehen haben, ist durch nichts zu rechtfertigen. Die Demonstrationsfreiheit ist keine Freiheit zur Gewalt und zur massiven Gefährdung anderer. Die Angriffe gegen die Polizei und die Presse verurteile ich scharf“, ließ Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) ihr Twitter-Team verkünden. Gewalt und Angriffe auf die Polizei gab es in jener Nacht in Leipzig. Auch brennende Barrikaden und Steinwürfe. Und weil es nun einmal fast zur Folklore des Ortes gehört, gab es den Angriff auf eine Polizeiwache nicht nur am Samstagabend, sondern gleich noch eine Wiederholung am Sonntagabend. Aber dieses Treiben meinte die Genossin Ministerin selbstverständlich nicht. Sie empfand den Umstand, dass Zehntausende, die im Anschluss an eine erlaubte Versammlung noch weitestgehend friedlich, aber unerlaubt demonstrierten, verurteilenswert.
Wer die Medienberichte und die Reaktionen aus dem politischen Raum auf sich wirken lässt, kann das „weitestgehend friedlich“ kaum glauben. Da gab es doch diese Angriffe auf Journalisten und da gab es doch auch einen Angriff mit Flaschen und Feuerwerkskörpern auf Polizisten, die doch in allen Fernsehnachrichten zu sehen waren. Ungeachtet der Frage, wer genau die Gewalttäter waren, die da agierten, so war dies nicht prägend, und ein solcher Zwischenfall bei einer Demonstration ist zwar verachtenswert, aber es wurde schon Kundgebungen ein „friedlicher Verlauf“ bescheinigt, bei denen deutlich mehr passiert ist. Und es gab in der Innenstadt ja nicht nur nur die eine Kundgebung der Querdenker, die mit 45.000 Teilnehmern allerdings die dominierende war.
Man mag manchen auswärtigen Empörten zugute halten, dass der eine oder andere Medienbericht Bilder der Ausschreitungen in Connewitz mit dem Demonstrationsgeschehen um die Querdenker in Verbindung bringt, obwohl beide nichts miteinander zu tun haben. Doch Minister haben ja einen Apparat, der sich darum kümmert, dass ihnen solche Missverständnisse nicht unterlaufen.
„Marodierende Gewalttäter?“
Eine Bundesjustizministerin sollte zudem lieber den sächsischen Innenminister und den sächsischen Ministerpräsidenten ermahnen, sich in ihrem Amte mit verbalen Angriffen auf ein unabhängiges Gericht zurückzuhalten, weil es die Versammlungsfreiheit vor zu starkens Einschränkungen schützt. Stattdessen arbeitet sie sich lieber weiter an den ihr unangenehmen Demonstranten ab:
"Die Verhöhnung der Wissenschaft und die rechtsextreme Hetze, die wir gesehen haben, sind abscheulich. Die Polizei muss das staatliche Gewaltmonopol verteidigen und darf marodierenden Gewalttätern nicht das Feld überlassen. Es bedarf jetzt gründlicher Aufklärung."
Wie ernst soll man eigentlich eine Ministerin nehmen, die eine große Masse friedlicher Demonstranten, die allenfalls gegen das Versammlungsgesetz verstießen, wegen eines Vorfalls mit kleinsten Gruppen pauschal zu „marodierenden Gewalttätern“ erklärt? Aber Genossin Lambrecht steht nicht allein. Etlichen Politikern gehen gerade die Maßstäbe verloren.
Vor allem natürlich in Sachsens Staatsregierung, gebildet von einer Koalition aus CDU, SPD und Grünen. Während Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) das Oberverwaltungsgericht in Bautzen angreift, weil es den Querdenken-Demonstranten ihr Versammlungsrecht in der Innenstadt zugestanden hat und Verschärfungen der sächsischen Corona-Verordnung ankündigt, fordern Politiker von SPD und Grünen öffentlich den Rücktritt des Innenministers Roland Wöller (CDU). Mehr Affront geht in einer Koalition eigentlich nicht.
Dem Innenminister fiel auch nichts anderes ein, als den Schwarzen Peter dem Oberverwaltungsgericht zuzuschieben. Immerhin stellte er sich gegen die Angriffe auf den Deeskalationskurs der Polizei. Denn der Hauptvorwurf gegen den Minister ist, dass die Kritiker der Corona-Politik noch auf der legendären Route von 1989 demonstrieren konnten, obwohl das untersagt war und die Polizei das Verbot hätte durchsetzen sollen.
Sachsen habe ein „desaströses Bild“ vor der bundesdeutschen Öffentlichkeit abgegeben, sagte Grünen-Sprecher Norman Volger laut LVZ. „Der polizeiliche Notstand war für jeden sichtbar und bereitgestellte Absperrungen und Wasserwerfer wurden nicht herangezogen.“ Sachsens SPD-Generalsekretär Henning Homann habe von einem „rechtsfreien Raum“, gesprochen, in dem sich „Corona-Leugner“ in Leipzig bewegt hätten. „Der Innenminister trägt hierfür die Verantwortung.“ Genosse Homann weiter: „Die Deeskalationsstrategie der Polizei ist krachend gescheitert.“ Die „fatale Strategie der Polizeiführung und die Entscheidung des OVG Bautzen“ hätten laut Homann das Einschreiten und die konsequente Verfolgung von Straftaten und Verstößen verhindert. „Das kann nicht ohne Konsequenzen bleiben.“
Kein Rücktritt nach G20
Manche Zitate liest man besser zweimal, um sie nicht misszuverstehen. Der Vorwurf eines Sprechers der Grünen gegenüber einem Innenminister, die Polizei hätte bereitgestellte Wasserwerfer nicht gegen Demonstranten eingesetzt, hat schon eine besondere Qualität. Denn auch als es die Angriffe aus einer kleinen Gruppe gab, wäre ein Wasserwerfereinsatz nicht möglich gewesen, ohne Unbeteiligte in Mitleidenschaft zu ziehen.
Statt nun, wie insbesondere rotgrüne Politiker, die Polizei dafür anzugreifen, dass sie die Demonstration ob Zehntausender nicht mit Polizeigewalt aufgelöst hat, sollten sie dem Leipziger Polizeipräsidenten eigentlich dankbar sein. Gerade Politiker, die doch schlechte Bilder so sehr fürchten, sollten sich freuen, dass sich die Polizeiführung für die Deeskalation entschieden hat. Hätten sie ernsthaft lieber gewollt, dass Polizeieinheiten auf dem Leipziger Ring Demonstranten mit Wasserwerfern und Knüppeln auseinander jagen? Welche Assoziationen und Emotionen hätten solche Bilder wohl geweckt? Dass kluge Polizeiköpfe das verhindert haben, verdient Anerkennung. Wer daraus stattdessen einen Skandal macht, dem scheint an einer Eskalation gesellschaftlicher Konflikte gelegen zu sein.
Zumal dann, wenn es gleichzeitig wie traditionelle Folklore behandelt wird, wenn ein paar Kilometer südlich, die Polizei selbst regelmäßig Angriffsziel linksextremer Gewalttäter ist und dort die Barrikaden brennen.
Und an dieser Stelle gar noch Rücktrittsforderungen zu erheben, ist aberwitzig. Ich lebe noch nicht lange in Sachsen und bin daher in sächsischer Landespolitik noch mangelhaft bewandert. Ich weiß deshalb nicht genau, ob es gute Gründe gibt, sich einen Wechsel des Innenministers zu wünschen. Aber sicher ist, dass das Verhalten der Polizei gegenüber der Querdenken-Demonstration in Leipzig kein Grund zum Rücktritt ist. Das ist im Gegenteil eine absurde Forderung.
Im Übrigen sollten die rot-grünen Rücktrittsforderer auch angesichts der völlig verschobenen Maßstäbe kurz innehalten. Erinnern Sie sich noch an das Jahr 2017? An die linksextremen Krawalle beim G20-Gipfel in Hamburg? Damals gab es tatsächlich zeitweise rechtsfreie Räume, aus denen sich die Staatsmacht zurückgezogen hatte. Zurückgetreten ist damals niemand.