Sachsen liegt im deutschen Bildungsranking vorne. Jetzt hat der Einäugige unter den Blinden einen neuen Plan. Der enthält 31-mal das Wort Kompetenz, 89-mal digital, 58-mal Professionalisierung und 24-mal multiprofessionell. Der Verzicht auf Noten nennt sich „Stärkung einer entwicklungsförderlichen Feedbackkultur“.
Bevor in Sachsen am 19. Dezember die CDU-SPD-Minderheitsregierung das Ruder übernahm, hatte (Ex)-Kultusminister Christian Piwarz (CDU, Jurist, fachfremd) – jetzt Finanzminister (auch fachfremd) – noch schnell im Sommer ein potemkinsches Dorf mit dem hochtrabenden Namen „Bildungsland Sachsen 2030“ gebaut. Auf seiner Webseite feiert sich das sächsische Kultusministerium ausgiebig mit dem Projekt. Doch das wirkt bei genauer Betrachtung wie ein Schuss mit dem Erbsengewehr in den Bildungsofen - aus Sicht des Autors. Zum Warmwerden eine selbstkreierte vertextete Matheaufgabe, Niveau fünfte Klasse:
„Im Reich eines kleinen sächsischen Kurfürsten fielen im Schuljahr 2023/2024 1.177.714,3 geplante Schulstunden außerplanmäßig aus. Aufgabe: Rechne die Ausfallstunden in Jahre um. Beachte: Ausfallstunden ≠ Zeitstunden. (Ähnlichkeiten mit lebenden Politikern, die sich wie Kurfürsten fühlen könnten, sind zufällig - zwinker).“
Bildungsland Sachsen 2030. Was ist das? Darf jeder nachlesen hier. Die lese(r)freundlichere Druckversion (96 Seiten) befindet sich hier. Irgendwann zwischen akutem Lehrermangel, massivem Unterrichtsausfall und Bildungsmangelverwaltung hatte Christian Piwarz offenbar die Idee: Ein Projekt mit der wolkigen Fragestellung „Wie sieht die Schule der Zukunft aus?“ wäre doch schön.
Daraufhin entwickelte eine sogenannte Projektgruppe aus „Bildungsfachleuten“ vier sogenannte Handlungsfelder, zu denen wiederum vier „Expertengruppen“ Empfehlungen für Maßnahmen entwickelten: Lernen (51 Seiten), Steuerung (10 Seiten), Professionaliserung (50 Seiten) und Infrastruktur (22 Seiten). Macht auf 133 Seiten 218 Empfehlungen. Die Ideen zur Lehrergewinnung (im Feld Professionalsierung) findet der Autor lobenswert. Frage: Warum hat die CDU – seit 34 Jahren in Regierungsverantwortung in Sachsen – diese Vorschläge nicht längst umgesetzt?
Partizipation, koste es was es wolle
Dann wanderten die Empfehlungen in den „Praxischeck“. Jeder durfte mitreden: Schüler, Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen, Landesschülerrat, Landeselternrat, interessierte Bürger, Kommunen. Teilweise wurde ausgelost, wer mitreden darf bei der Auswertung der 218 Handlungsempfehlungen in sogenannten regionalen Bildungsforen (Leipzig, Dresden, Chemnitz, Zwickau, Bautzen). Alles aufwendig, kompliziert, zeitraubend. Man könnte auch sagen: Das sächsische Bildungsfahrrad wurde neu erfunden. Visuelle Eindrücke von den Bildungsforen gibt es hier.
Das Video steht seit einem Jahr auf Youtube und hatte bis zum Schreiben dieses Artikels sagenhafte 565 Aufrufe. Das Engagement der Teilnehmer findet der Autor bewunderswert, allerdings halte ich diesen Schein-Partizipationsprozess für wenig hilfreich. Die Ergebnisse des großen Tamtams sind hier nachzulesen. Oder wahlweise die lange Version hier. 389 Seiten. Jede der 218 Handlungsempfehlungen des Expertenrates wird aufgeführt mit Erläuterungen und Pro und Contra des jeweiligen Bildungsforums samt Abstimmungsergebnissen der jeweiligen Foristen. 389 Seiten ideale Freizeitlektüre für Lehrer, die nicht wissen, was sie mit ihrer vielen Freizeit anfangen sollen.
Sollen sächsische Schulen zu eierlegenden Wollmilchsauen zwangsumfunktioniert werden?
Nun kommt – können Sie noch folgen? – die Endstufe. Die sogenannte finale Strategie. Das Gelbe vom Ei sozusagen. Die wertvolle Essenz. Das Bildungsgold. Das hat Herr Piwarz aber nicht selbst abends am Computer zusammengeschrieben. Die Ergebnisse aus den Diskussionen in den regionalen Bildungsforen wurden, so schreibt es das sächsische Kultusministerium auf seiner Webseite, nach weiteren „Konsultationen etwa mit Schulleitungen, Schulträgern oder innerhalb des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus und des Landesamtes für Schule und Bildung im Frühjahr 2024 durch die Projektgruppe zu einem finalen Strategiepapier entwickelt, das am 16. Mai 2024 veröffentlicht wurde.“
Vier sogenannte Handlungsfelder mit 16 strategischen Zielen und 64 Maßnahmen. Schauen wir in die Druckversion. Da geht es zum Beispiel um lernförderliche Gestaltung des Schulalltags (Seite 13), Mitbestimmung im Schulalltag (Seite 15), Erarbeitung einer Orientierungshilfe zu analogem und digital gestütztem Lernen (Seite 21), Etablierung von digital gestütztem Selbstlernen (Seite 23), Hybrider Unterricht (Seite 24), Weiterentwicklung schulischer Inklusion (Seite 30) – weiß das Kultusministerium eigentlich wie kräftezehrend es für Lehrer ist, Inklusionskinder parallel zum Rest des Klassenverbandes zu unterrichten, ohne zweite Lehrkraft, weil Inklusionslehrer fehlen, weil Anträge auf Förderbedarfe im Landesamt für Schule und Ausbildung (LaSub) verstauben (so wurde es dem Autor mehrfach berichtet), wie Lehrer am Rande des Burnouts vorbeischrammen, weil sie mit verhaltensauffälligen Schülern alleine gelassen werden?
Weiter geht die Fahrt durch das potemkinsche Bildungsland: Etablierung von selbstbestimmten Lernphasen (Seite 29) – was ist das? Der Schüler unterrichtet sich selbst? Der Lehrer steht nur noch im Hintergrund als „Coach“, so wie es die „Neue Pädagogik“ mit mehr „Kompetenzorientierung“ gern sieht? Förderung von Deutsch als Bildungssprache und Mehrsprachigkeit (Seite 33), dort steht:
„Es wird eine praxisnahe schulinterne Fortbildung zur Förderung von Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht entwickelt … Ziel ist es, die Handlungssicherheit im Umgang mit Mehrsprachigkeit aller Lehrkräfte zu verbessern. Die Umsetzung erfolgt verbindlich für alle Schulen.“ Frage des Autors: Müssen sächsische Lehrer jetzt in Abendsprachschulen nachsitzen?
Jetzt Endspurt. Stärkung von Schülermitwirkung und Engagement (Seite 49) sowie Stärkung der Partizipation des LandesSchülerRates (Seite 54), Ausbau der Innovations- und Konzeptionskompetenz im LaSub (Seite 52). LaSub, das ist diese Schulverwaltungsbehörde, wo Förderanträge gern verstauben. Wir erinnern uns. Und: Plattformstrategie, pädagogische Dienste, und es solle sogenannte multiprofessionelle Teams (nicht zu verwechseln mit dem A-Team – zwinker zwinker) an den Schulen geben, Ermöglichung von Anreizen bei Übernahme zusätzlicher Aufgaben (alles Seiten 61 bis 72) und so weiter und so weiter und so weiter. Sind Sie noch da? Bedeutungschwangere, aber inhaltslose Schlagwörter- und Sätze prasseln nur so auf den Leser herab. Es ist ein regelrechtes Phrasen-Armageddon. Braucht niemand. Weg damit.
Keine Rettung durch Digitalisierung
Sprechen Sie mal mit einem Lehrer, ob er Zeit hat, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, wie sie im Bildungsland angedacht sind. Er oder sie wird sich bedanken. Hier ein kurzer Merkzettel, was Lehrer im Alltag schon jetzt bewältigen müssen:
Elterngespräche (besonders „beliebt“: Dialoge mit sogenannten „Helikopter-Eltern“), Durchführung von Elternabenden, Unterrichtsvorbereitung, Unterrichtsnachbereitung, Korrekturen von Arbeiten (Leistungsermittlung- und Bewertung), Teilnahme an Fachkonferenzen, Schulkonferenzen, Gesamtlehrerkonferenzen, Dienstberatungen, Klassenkonferenzen, pädagogische Gutachten erstellen, Rücksprachen mit Jugendämtern und Schulpsychologen, Planen und Durchführen von Exkursionen sowie Klassenfahrten, Protokolle schreiben, Dokumentationen anfertigen, Durchführen und Korrigieren von Abschlussprüfungen, Zeugnisse schreiben und … da war doch noch was, ach ja, unterrichten.
Folgende Stichworte kommen im Bildungspotemkinland Sachsen 2030 häufig vor: 31-mal Kompetenz, 58-mal Professionalisierung, 10-mal Inklusion, 21-mal Gesetz, 24-mal multiprofessionell und 89-mal digital. Tja, digital, das Wunderwort, der große Heilsbringer. Leider befindet sich Sachsen (andere Bundesländer auch) auf dem digitalen Holzweg. Die skandinavischen Länder machen in Sachen Digitalisierung an ihren Schulen gerade eine Rückwärtsrolle. Nachzulesen hier, hier und hier. Statt Tablets gibt es wieder richtige Mathebücher. Auslöser waren u.a. die Untersuchungen von Wissenschaftlern des Stockholmer Karolinska Instituts, eine von Europas größten und angesehensten medizinischen Universitäten. Die Stellungnahme ist nachzulesen hier. Das Original hier. Ein paar Auszüge:
„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwarteten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert“
„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“
„Digitale Werkzeuge enthalten viele Ablenkungen, die die Konzentration und das Arbeitsgedächtnis behindern, was wiederum das Lernen beeinträchtigt (Klingberg, 2023).
Übersetzt in etwas einfachere, direktere Sprache: Kinder, vor allem im Vor- und Grundschulbereich, verblöden durch Digitalisierung. Ihre kogntive Entwicklung wird erheblich gestört. Doch Sachsen setzt ganz offensichtlich – aus rein ideologischen Gründen – weiter auf eine „kompetenzorierentierte“ Bildung (was ist das eigentlich?) und marschiert stur in die digitale Sackgasse.
Verschärfte Verbürokratisierung des Lehrerberufs
Mareike Kunter (Psychologin und Hochschullehrerin) und Kollegenschaft weisen im wissenschaftlichen Fachartikel „Lehrkräfte“ in „Pädagogische Psychologie“ auf Erkenntnisse hin, dass Lehrkräfte das Erleben von Fremdbestimmung durch Verbürokratisierung, Verrechtlichung und bildungspolitische Maßnahmen als belastende Aspekte beschreiben (Seite 281 im o.g. Werk). Neben hohen Arbeitsbelastungen durch große Klassen, heterogene Leistungsniveaus, schwierige Schüler, verhaltensauffällige Schüler, hohe Lärmpegel und hohe Stundenbelastungen.
Möchte Sachsen seine Schulen wirklich zu eierlegenden Wollmilchsauen umfunktionieren, die alles leisten müssen, was die Gesellschaft sich gerade ausdenkt? Wer soll es umsetzen? Lehrer, die schon jetzt nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht? Sie sollen nun zusätzlich den Bildungsland Sachsen 2030-Umgestaltungsprozess an ihren Schulen schultern? Sachsen geht in die Richtung, vor der Kunter und Kollegenschaft eindrücklich warnen.
"Mehr Kompetenzen, weniger Fachwissen"
Enttäuschend ist die Rolle von 50 Schulleitern, die involviert waren. Mehr dazu hier. Wo waren ihre kritischen Fragen an den Minister zum massiven Stundenausfall? Wo die Nachfragen, wann der Freistaat endlich gedenkt, genügend Lehrer einzustellen? Greift Obrigkeitshörigkeit um sich? Aktuell fehlen in Sachsen 1.100 Lehrer in Vollzeit (Email des sächsischen Kultusministeriums an den Autor). Wie man diese gewinnen kann, davon steht in der Endfassung von Bildungsland Sachsen 2030 nichts.
Das neue Heilsbringer-Credo für Sachsens Schulen: Mehr Kompetenzen, weniger Fachwissen. Nein, Sie haben sich nicht verlesen. So steht es in der digitalen Zeitschrift KLASSE, Sonderausgabe Bildungsland Sachsen 2030. Auf Seite 12 prangt die dicke Überschrift „Mehr Kompetenzen, weniger Fachwissen“ über einem Interview mit einer Mitarbeiterin des Landesamtes für Schule und Bildung (LaSub). Sie erinnern sich, verstaubte Förderanträge und so. Ist das der Beginn von pädagogischer Orientierungslosigkeit?
Das Fehlen von Fachwissen führt u.a. zu hohen Studienabbruchquoten an unseren Universitäten in naturwissenschaftlichen Fächern wie Mathematik, Chemie und Physik: 50 Prozent (Seite 6). Eine Lehrstandserhebung der Universität Leipzig im Fach Mathematik zeigte bei Studienanfängern teilweise gravierende Defizite auf. Die Sachsen schnitten etwas besser ab - die Glückwünsche des Autors seien hiermit übermittelt – als Kommilitionen aus anderen Bundesländern, heißt es in der Mitteilung in perfekt gegendertem Deutsch. Doch der Vorsprung droht zu schmelzen.
In mehreren sächsischen Schulen gibt es – in Einklang mit Bildungslandschaft Sachsen 2030 – in Nebenfächern bereits keine Noten mehr. Das nennt sich im potemkinschen sächsischen Bildungsdorf „Stärkung einer entwicklungsförderlichen Feedbackkultur“ (Maßnahme 6.2. Seite 38 und 6.3. Seite 39 in der Druckversion). Das Thema Noten wird auch in der pädagogischen Psychologie diskutiert. Aber niemand dort behauptet, dass Noten bei den Schülern Schaden anrichten.
Zur Lösung der vertexteten Mathmatik-Aufgabe
Als das Bürokratie- und Verwaltungsmonster Bildungsland Sachsen 2030 entstand, fiel im Freistaat fast zeitgleich sehr viel Unterricht aus. Nachzuschauen auf der Website des sächsischen Kultusministeriums. Angaben in Unterrichtsstunden (à 45 Minuten):
Grundschulen: 264.017,8 / Oberschulen: 351.097,4 / Gymnasien: 273.794,6 / Berufsbildende Schulen: 141.748,8 / Förderschulen: 139.974,7 / Schulen des 2. Bildungsweges: 7.081,0. Außerplanmäßiger Ausfall im Schuljahr 2023/2024 im Freistaat Sachsen gesamt: 1.177.714,3 Unterrichtsstunden.
Und nun die Lösung unserer Aufgabe: Das sind umgerechnet 883.285 Zeitstunden und 30 Zeitminuten. Macht rund 100,8 Jahre Unterrichtsausfall. 100 Jahre Wissen sind für sächsische Schüler unwiederbringlich verloren.
PS: Rein vorsorglich bittet der Autor für eventuelle Rechenfehler um Entschuldigung. Er hat sich jedoch bemüht.
Stephan Kloss ist freier Journalist. Er lebt bei Leipzig und absolviert nebenberuflich ein Bachelor-Studium im Fach Psychologie.