In den beiden ersten Teilen wurde dargestellt, wie Deutschland über die sogenannte „Dieselkrise“ in einen Prozess hineinschlittert, der auf die Zerstörung eines tragenden Industriezweiges unserer Wirtschaft und auf die Zerstörung eines wesentlichen Teils unserer öffentlichen Infrastruktur hinausläuft. Diese Krise ist keine Wirtschaftskrise, sondern eine politische Krise. Im politischen System haben Kräfte die Oberhand gewonnen, die die Lasten der Großindustrie und großer, verkehrsintensiver Ballungsräume nicht mehr legitimieren will und kann. Die Autokrise ist ein wirklich historischer Einschnitt: Die materielle Zivilisation, die erst die Bedingungen dafür schuf, dass Freiheit und Wohlstand kein Privileg von wenigen sind, wird in Frage gestellt. Das politische Deutschland schafft das moderne Deutschland ab.
Wie konnte das geschehen? Wie konnte inmitten unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein Machtblock entstehen, der die eigenen Grundlagen zerstört? An dieser Stelle müssen wir noch einmal auf den Ausgangspunkt der Dieselkrise zurückkommen.
Womit hat diese ganze bizarre Krise eigentlich angefangen? Was war der erste Beweggrund, der uns dazu getrieben hat, eine solche Fundamental-Wende zu versuchen? Man schaut, man denkt nach… Ja, es ist kaum zu fassen: Es war ein „Grenzwert“. Diesel-Autos haben einen bestimmten Emissions-Grenzwert nicht eingehalten. Einen Grenzwert, der dem Schutz von Leib und Leben der Menschen dienen sollte. Eine einzelne Norm, die zum Absolutum erhoben wurde und die dann durch weitere Grenzwerte gleicher Bauart, die andere Verbrennungsmotoren treffen, ergänzt wurde.
Grenzwert-Fundamentalismus
Hier wird eine merkwürdige Borniertheit des politischen Entscheidens sichtbar. Die Komplexität der Antriebstechnologien, der Verkehrssysteme und der Siedlungsstrukturen schnurrt zusammen auf eine einzige Messgröße. Mit ihrer Einhaltung steht und fällt auf einmal das ganze, über einen längeren Zeitraum errichtete Gefüge. Soll das „pragmatisch“ sein?
Und warum geschah diese Grenzwert-Verschärfung? War es vielleicht ein großes Ereignis, das für die Verschärfung des Stickoxid-Grenzwerts zum zwingenden Grund wurde? Eine Katastrophe? Eine tödliche Krankheit, die die Menschen am Straßenrand wie die Fliegen sterben ließ? Nichts dergleichen ist vorgefallen. Die verkehrsbedingten Stickoxid-Emissionen sind in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland um circa siebzig Prozent zurückgegangen.
Die Verschärfung der Grenzwerte ist also nicht die Antwort auf eine äußere, objektive Verschärfung der Lage – etwa, weil einschlägige Erkrankungen der Atmungswege in Deutschland zugenommen hätten oder weil gar die Lebenserwartung in deutschen Städten zurückgegangen wäre. Im Gegenteil findet sie in einem Land statt, in dem die Lebenserwartung nach wie vor steigt. Die Verschärfung geht auf eine neue politische Intoleranz zurück, die die bisherigen Luftverbesserungen mit einem Schlag umgewertet hat. Sie drückt nur eine subjektive Veränderung aus. Die politische Legitimität wurde subjektiviert.
Wie man ein Massensterben inszeniert
Wie konnte es dazu kommen? Die verschärften Grenzwerte werden mit einer eigenartigen Mischung aus wissenschaftlicher und radikalisierender Sprache begründet. Man nennt bestimmte „Messwerte“ und spricht zugleich von „verpesteter“ Luft. Oder davon, dass man die Luft in unseren Städten „wieder atmen können muss“. Es wird so getan, als sei hier eine Entscheidung auf Leben und Tod zu fällen. Und dann wird folgende Rechnung gemacht: Die Zahl der durch Stickoxid-Emissionen verursachten Todesfälle sei höher als die der durch Verkehrsunfälle verursachten Toten. Das ist eine abenteuerliche Rechnung.
Denn bei den Stickoxid-Todesfällen handelt es sich um „vorzeitige“ Todesfälle, wobei diejenigen, die den Todes-Vergleich machen, nie sagen, was denn ihre Bezugsgröße eines nicht-vorzeitigen Todes ist (in den ja alle anderen, nicht mit dem Stickoxid verbundenen Sterbefaktoren eingehen müssen). „Vorzeitig“ kann „ein Jahr früher“ heißen, aber auch „einen Tag früher“. Eine solche Zahl mit den Unfall-Toten zu vergleichen, deren Tod ohne andere Faktoren allein durch die Unfall-Gewalt eintritt, ist absurd. Aber diese Verwechslung von vorzeitiger (relativer) Tödlichkeit mit absoluter Tödlichkeit ist inzwischen bei Berlastungen durch Umwelt- und Sozialverhältnisse gängige Münze. Würde man einmal all diese Tödlichkeits-Vergleiche zusammenzählen, käme man schnell zum Ergebnis, dass die Zahl der Umwelttoten bei weitem die Kriegstoten der beiden Weltkriege übertrifft.
Es wird so getan, als fände auf deutschen Straßen eine Art Weltkrieg oder eine organisierte Massenvernichtung statt. Es soll ein Klima der Angst und der Empörung geschaffen werden, in dem keine vernünftige Abwägung von Belastungen und Erträgen mehr stattfinden kann. Die Argumentation entzieht sich jeder Verhältnismäßigkeits-Vernunft. Auf diesem Weg kann jeder industriellen Aktivität die Legitimität entzogen werden.
Denn es gehört zu den Eigenheiten der Industrie, dass hier – im Vergleich zu anderen Aktivitäten – Lasten und Erträge beide auf einem höheren Niveau liegen. Wer hier die Legitimität nicht in der Relation Lasten/Ertrag begründen will, ist prinzipiell zu keiner Industrie fähig. Die Autokrise zwingt uns also, noch einmal prinzipiell über die Legitimität der Industrie nachzudenken.
Industrielle Toleranz und tätige Freiheit
Um diesem neuen Bedrohungs-Fundamentalismus zu begegnen, ist es zu kurz gegriffen, wenn man jede Belastung überhaupt bestreitet. Der Fundamentalismus besteht ja darin, dass er schon begrenzte einzelne Belastungen für „unerträglich“ und damit für illegitim erklärt. Er bricht damit mit der Form der Legitimität, die für die Ära der Neuzeit typisch und grundlegend ist. Diese Form bejahte Belastungen, wenn sie neue Reichweiten des Handelns und neue Lebensmöglichkeiten eröffneten. Er verband als also Toleranz und Freiheit. Freiheit war hier nicht einfach eine Funktion von Stärke und Mut der Menschen. Die Moderne gründete sich nicht auf eine menschliche Kraftmeierei, sondern auf die Entwicklung großer Hebel.
Wirtschaft und Staat basierten nun nicht auf personaler Macht, sondern auf der Macht von „Anlagen“ (Maschinerie, Infrastruktur). Der Aufbau und die Arbeit in diesem „stählernen Gehäuse“ (Max Weber) verlangten eine ganz neue Anpassung der Menschen, eine Akzeptanz „fremder“ und „verdinglichter“ Situationen. Mit einem Wort: Sie verlangten Toleranz. Die neuen wirtschaftlichen und politischen Freiheiten waren ohne die Fähigkeit zur Toleranz nicht denkbar, einer Toleranz, die viel stärker Sachtoleranz als zwischenmenschliche Toleranz war. Es ist nicht ganz übertrieben, wenn man diese Sachtoleranz als das geschichtlich Neue – den eigentlichen „Clou“ der Moderne – bezeichnet. Nur so konnte die Industrie mit ihrer Steigerung der Arbeitsteilung und ihrer Ausdifferenzierung (und Vereinseitigung) der Berufe und Unternehmen zur dauerhaften, gesellschaftlichen Norm werden.
Die Form der Legitimität musste also umgebaut werden: Ob etwas legitim ist, war in der Moderne nicht von vornherein feststellbar, sondern musste in einer Abwägung von Belastungen und Erträgen abgewogen werden, um realitätstauglich zu sein. Denn „real“ zu sein, ist nun ein wesentliches Kriterium, damit etwas legitim ist. Nur dann handelt es sich um eine Legitimität für tätige Menschen. Nur dann ist die Menschenwürde eine Tun-Würde und nicht bloß eine Haben-Würde. Für tätige Menschen ist das Abwägen von Belastungen und Erträgen selbstverständlich, um zu entscheiden, was legitim ist und was nicht. Nur in diesem Sinn hat die Rede von der Säkularität der Neuzeit wirklich Hand und Fuß.
Eine Politik, die Industrie nicht mehr kann
Wenn wir die gegenwärtige Autokrise in diesem Maßstab betrachten, muss man von einer neuen Naivität sprechen. Also von einer Regression des politischen Handelns. Hier wurde nicht nur eine einzelne Fehlentscheidung getroffen, sondern hier wurde das ganze System der Legitimierung verändert. Die Abwägung von Lasten und Erträgen, die Verbindung von Toleranz und Freiheit wurde aufgegeben. Die einschneidenden, verheerenden und oft geradezu bizarren Konsequenzen sind bekannt.
Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ist das, was politisch legitim ist – welche Entscheidungen überhaupt politisch getroffen werden dürfen – stark verengt worden. Die vorherrschende Debatte kennt nur noch das absolut „Unerträgliche“ und das absolute „Gute“. Die Debatte bewegt sich zwischen Horrorszenarien und Heilsversprechen und ist deshalb wohlfeil: Wenn es auf der eine Seite nur Weltuntergang, Rassismus und Krieg gibt, und auf der anderen Seite „die Natur“ (wie sie gewachsen ist) und „die Gesellschaft“ (egalitär) warten, gibt es nichts abzuwägen. In diesen naiven Absoluta von Böse („verpestete Luft“) und Gut („das E-Mobil“ und die „Fahrradstadt“) bewegt sich die Verkehrsdiskussion, und ähnliches lässt sich auch bei Energie, Chemie und Landwirtschaft beobachten. Im Grunde wird in dieser neuen, verengten politischen Landschaft jeglicher Industrie die Legitimation entzogen.
Und wir sind inzwischen soweit, dass selbst Politiker, Wissenschaftler und Journalisten, die für sich beanspruchen, in der bürgerlichen Tradition zu stehen, nur noch mit halbherzigen und hinhaltenden Argumenten die Belange der Industrie vertreten.
Ein epochaler Rückschritt
Das ist, historisch gesehen, ein bemerkenswerter Einschnitt. Man denke etwa an die Situation bei Eintritt ins 20. Jahrhundert, als ein Max Weber sich in seinen Sozialstudien über die Arbeiterschaft dafür interessierte, wie die Vereinseitigung und Fremdbestimmung der Tätigkeit ausgehalten wurden. Oder als ein Georg Simmel nach den Schutzmechanismen fragte, mit denen Großstädter den Stress von Dichte und raschem Wandel bewältigten. Beide taten dies, weil sie die neuen Freiheitsmöglichkeiten von Industrie und Großstadt sahen, aber auch die geschichtlich ganz neuartigen Belastungen nicht beschönigten. In ihrem Werk ist das Interesse an einer abwägenden Legitimität deutlich präsent.
Wenn man noch weiter ins 19. Jahrhundert zurück geht, sieht man, wie wichtig hier die Durchsetzung einer realpolitischen und realwirtschaftlichen Legitimität war und wie mühsam und widersprüchlich diese Durchsetzung in Deutschland war. Aber sie erstarkte im Lauf dieses Jahrhunderts. Die Diskussion über „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ wurde zweitrangig. Die Entstehung des industriellen Deutschlands – diese Jahrhundertleistung – lässt die Rolle Preußens in einem neuen Licht erscheinen: Sie war nicht einfach militaristisch-autoritär und „abgehoben“, sondern in Dingen der Wirtschafts- und Staatsentwicklung realitätsnäher als die vielbeschworenen 1848er mit ihren großdeutschen Träumen und ihrem Misstrauen gegen die Gewerbefreiheit.
Und das 20. Jahrhundert? Es wäre gerade jetzt wichtig, vor dem Hintergrund der herrschenden Industrie-Verabschiedungskultur, eine Geschichte des industriellen Deutschlands zu schreiben, die die Rolle der Ressentiments gegenüber diesem Deutschland schärfer in den Blick nimmt. Da wäre die Rolle der „Deutschen Ideen“ und des konstruierten Gegensatzes „Kultur gegen Zivilisation“ beim Hineinschlittern in den ersten Weltkrieg noch einmal neu zu betrachten. Die Bedeutung der „Technikkritik“ und die Horror-Vision von der „großen Maschine“ (die Wiederkehr des „Babylon“-Mythos), die – unter anderem – den deutschen (und europäischen) Antiamerikanismus genährt hat.
Und wie wäre der „plötzliche“ Höhenflug der Grünen und überhaupt die „plötzliche“ Grün-Verschiebung des herrschenden Parteienblocks zu erklären, wenn nicht durch das Aufwachen eines in Deutschland nie ganz erledigten antiindustriellen Ressentiments? Es gibt gute Gründe, sich über einen Fundamentalismus Sorgen zu machen, der im Zuge dieser Grün-Verschiebung jetzt Maß und Mitte der Gesellschaft angreift.
Das „Zurück zu den Sachen“ ernstnehmen
Das alles ist in der „Dieselkrise“ enthalten. Es wäre daher verheerend, wenn in der aktuellen politischen Diskussion, die durch den halben Merkel-Rücktritt nun Platz für Richtungsfragen hätte, diese Industriekrise ausgeblendet würde. Diese Krise zeigt exemplarisch die Handlungsblockaden, in die sich die Politik im Laufe der letzten Jahrzehnte begeben hat.
Aber wie lässt sich eine solche Blockade auflösen? Wer hätte den Mumm, dem Diktat des Grenzwert-Fundamentalismus entgegenzutreten? Aber die Wer-Frage ist hier die falsche Frage. Die Lösung liegt nicht in einer neuen Lichtgestalt, die mit ihrem persönlichen Charisma alle Widerstände überwindet. Die Politik braucht einen äußeren Hebelpunkt. Nur in einer strikten Orientierung auf die Sachen und einer freimütigen Anerkennung der Sachprobleme mit ihren unvermeidlichen Härten lässt sich der Hebel gewinnen, um aus der Sackgasse blockierender Ansprüche herauszukommen.
Für eine Wiederherstellung dieser Sach-Legitimität, dem Markenzeichen der politischen Moderne, braucht es keinen übermenschlichen Heldenmut, sondern ein freimütig-nüchternes Abwägen von Erträgen und Belastungen. Aber vielleicht braucht es auch ein „Charisma der Sachen“, das die Geschichte der Industrie immer begleitete und das die Menschen dazu befähigte, sich dauerhaft an Zwänge und Belastungen anzupassen. Auch heute sind solche industriellen Tugenden und das Charisma der Sachen an vielen Orten vorhanden, ohne im Licht der Öffentlichkeit zu stehen. Freilich ist das heutige politische Milieu dem so entfernt, dass es an das höfische Milieu früherer Zeiten erinnert.
Das in diesen Tagen vielfach zu hörende „Zurück zur Sachpolitik“ hat also eine tiefere Wahrheit. Deutschland befindet sich, ebenso wie andere Länder, in einem fortschreitenden Zerstörungsprozess der sachlichen Grundlagen seiner Freiheit und Demokratie. Mit der Autokrise wird diese Sachzerstörung noch deutlicher als sie es in der Migrationskrise schon war. Wenn die industrielle Identität eines Landes gefährdet ist, wird der aktive, säkulare Kern einer modernen Nation angegriffen.
Die jetzige Übergangskrise enthält die Gefahr, dass die ganze politische Debatte im Land zur Personaldebatte wird. Die wirkliche Opposition im Lande muss bei der Sache bleiben.
Den ersten Teil dieses Beitrages finden Sie hier.
Den zweiten Teil dieses Beitrags finden Sie hier.