Mit dem Angriff der Hamas auf Israel hat der Nahostkonflikt eine neue Dimension erreicht. Was die Eskalation für die Ukraine bedeutet und welche Interessen Moskau mit einem neuen Krieg in der Region verknüpft.
Die Ereignisse, die sich am 7. Oktober 2023 im Süden Israels zugetragen haben, markieren eine tiefe Zäsur in der Zeitgeschichte des Nahen Ostens. Nachdem am frühen Morgen ein massiver Raketenbeschuss begonnen hatte, erfolgte eine umfassende, teils luftgestützte Bodenoffensive der Hamas. Unbehelligt konnten schwer bewaffnete Kommandos der islamistischen Terrormiliz die Grenzanlagen überwinden und stundenlang Menschen ermorden. Die Bilanz des Angriffs ist verheerend: mehr als 1.200 Tote und bis zu 2.700 Verletzte. 120 Zivilisten wurden in den Gazastreifen verschleppt. Ihr Schicksal ist ungewiss.
Das Ausmaß der vielfach von den Tätern selbst dokumentierten Brutalität ist beispiellos. Die in ihr aufscheinende Grausamkeit steht auf derselben Stufe wie die Barbarei von ISIS. Das nimmt nicht wunder. So ist es seit jeher das erklärte Ziel der Hamas, den jüdischen Staat von der Landkarte auszutilgen. Dazu ist der Terrormiliz jedes Mittel recht. Nun haben die Islamisten ihre exterminatorische Drohung in einem bislang ungekannten Ausmaß unter Beweis gestellt. Ihre Botschaft ist unmissverständlich. Bis auf das letzte Kind soll die jüdische Bevölkerung Israels vernichtet werden. Die Konsequenz der Täter ist erbittert. Und kennt keine Gnade.
Das Massaker, welches sich am 7. Oktober 2023 in der Nähe des Kibbutz Reʿim abspielte, war der Beginn eines Völkermordes. Seit dem Ende des Holocaust wurden noch nie so viele Juden an einem Tag getötet. Die von Benjamin Netanjahu geführte Notstandsregierung zieht daraus die einzig mögliche Konsequenz: Die von der Hamas ausgehende Bedrohung muss neutralisiert werden. Endgültig und ohne Kompromisse. Zu diesem Zweck hat Tel-Aviv mehr als 300.000 Reservisten mobilisiert. Damit stehen in Israel nun bis zu 470.000 Männer und Frauen unter Waffen. Die zusammengezogene Streitmacht ist größer als die israelische Armee des Jom-Kippur-Krieges, der am 6. Oktober 1973 ebenfalls mit einem Überfall begonnen hatte. Damals waren Ägypten und Syrien angetreten, um Israel zu vernichten.
Seit Tagen kehren israelische Männer aus dem Ausland in ihre Heimat zurück, um sich den Streitkräften anzuschließen. Vor ihnen liegt eine heikle Mission. Es geht um eine Bodenoffensive im Gazastreifen. Die Operation werde, so Präsident Netanjahu, den Nahen Osten für Jahrzehnte verändern. Seit dem 8. Oktober 2023 befindet sich Israel offiziell im Krieg. Und stellt sich auf einen langwierigen Kampf ein.
Bedrohlich für die Ukraine
Die neuerliche Eskalation des Nahostkonflikts hat zur Folge, dass der Krieg in der Ukraine jäh aus dem Fokus gerückt ist. Seit dem 7. Oktober kommt er nur noch als Randnotiz in den Medien vor. Für Kiew ist das gefährlich. Moskau hingegen bietet sich eine günstige Gelegenheit. Sollte Israel tatsächlich einen langen Krieg führen – etwa, weil es von den umliegenden arabischen Staaten angegriffen würde – wäre es dauerhaft auf westliche Militärhilfe angewiesen. Präsident Biden hat bereits uneingeschränkte Unterstützung zugesagt. Und zwei Flugzeugträger ins östliche Mittelmeer beordert. Darunter ist die Gerald R. Ford, die mächtigste Waffe im Arsenal der US-Navy.
Für Kiew könnte die sich abzeichnende Verschiebung der Sicherheitslage im Nahen Osten schon bald bedrohliche Züge annehmen. Noch nie seit Kriegsbeginn schien die Aussicht auf anhaltende westliche Unterstützung fraglicher. Nicht zufällig hat sich auch Russland in Position gebracht. Mit Argusaugen blickt der Kreml auf das Heilige Land. Um seine Interessen in der Region verstehen zu können, muss man sich sein Verhältnis zu den beteiligten Akteuren vergegenwärtigen.
Seit dem Zusammenbruch der UdSSR hat Moskau seine Beziehungen zu Israel drastisch verbessert. Die Haltung der russischen Behörden gegenüber der Hamas blieb in dieser Zeit jedoch starken Schwankungen unterworfen. In den 1990er und frühen 2000er Jahren hat Moskau die Anschläge der Terrormiliz regelmäßig verurteilt und ihre Angehörigen ausdrücklich als Extremisten bezeichnet. Im August 2004 veröffentlichte das Außenministerium eine Erklärung zu einem Selbstmordanschlag der Hamas in der israelischen Stadt Be’er Scheva, bei dem 17 Menschen getötet wurden. Darin hieß es:
„Moskau verurteilt den barbarischen Anschlag der Extremisten aufs Schärfste. Wir sind davon überzeugt, dass politische und andere Ziele nicht durch Gewalt und Terror erreicht werden können.“
Trotz seiner Verbundenheit mit Israel – etwa 1,5 Millionen seiner Bürger sind aus Russland eingewandert – und der Verurteilung der Anschläge hat der Kreml die Hamas nicht als terroristische Organisation anerkannt. Das ist insofern bemerkenswert, als man beispielsweise die Taliban sowie tschetschenische Gruppierungen als solche klassifiziert hatte.
Russisches Kulturzentrum in Gaza
Die Beziehungen zwischen Russland und der Hamas haben sich erst nach deren Sieg bei den Parlamentswahlen der Palästinensischen Autonomiebehörde im Januar 2006 verbessert. Bereits am 31. Januar 2006 stellte Wladimir Putin die Position seiner Regierung klar. Auf seiner jährlichen Pressekonferenz erklärte er:
„Unsere Haltung gegenüber der Hamas unterscheidet sich von derjenigen der USA und Westeuropas. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föderation hat die Hamas nie als terroristische Organisation anerkannt […] Wir halten es für falsch, dem palästinensischen Volk in jedem Fall die Hilfe zu verweigern.“
Dies bedeute jedoch nicht, dass Russland alles gutheiße und unterstütze, was die Hamas tue. Da sie nach ihrem Wahlsieg von einer radikalen Opposition zu einer rechtmäßig gewählten Autorität geworden sei, müsse sie als seriöse politische Kraft behandelt werden, erklärte Putin. Diese Positionierung entsprach exakt jener Auffassung, die der vormalige Außenminister und Leiter des Auslandsgeheimdienstes Jewgenij M. Primakow († 2015) schon seit langem vertreten hatte. Auf der Sitzung der Gruppe für strategische Visionen zwischen Russland und der islamischen Welt, die im August 2006 in Kasan stattfand, sagte Primakow, er betrachte die Hamas nicht als Terrormiliz, sondern als eine „gemeinnützige Organisation“, die durch den Willen des Volkes an die Macht gekommen sei.
Man kann konstatieren, dass Moskau im Gegensatz zu westlichen Regierungen Nachsicht gegenüber der Hamas zeigte. Das war kein Zufall. Bis heute ist Russland mit dem Gazastreifen verbunden. Kaum jemand weiß, dass es dort ein russisches Kulturzentrum namens „Kalinka“ gibt, das von „Rossotrudnitschestwo“ finanziert wird. Dabei handelt es sich um eine dem Außenministerium unterstellte Organisation. Sie wurde am 6. September 2008 gegründet, ist für Kulturaustausch zuständig und steht unter der Leitung von Jewgenij A. Primakow (*1974). Jener ist der Enkel seines prominenten Großvaters und gilt als loyaler Funktionär. Darüber hinaus leben 2.000 russische Staatsbürger in Gaza. Dabei geht es nahezu ausschließlich um Frauen, die einheimische Männer geheiratet haben und zum Islam konvertiert sind. Am 11. Oktober 2023 hat Moskau Maßnahmen zu ihrer Evakuierung eingeleitet.
Gleichzeitig unterhält Russland diplomatische Beziehungen zur palästinensischen Autonomiebehörde in Gestalt der Fatah, die heute nur noch die Westbank kontrolliert. Im Gegensatz zu ihr hat die Hamas keine Vertretung in Moskau. Eine diplomatische Repräsentanz in Palästina betreibt Russland daher nur in Ramallah. Trotzdem finden seit 2006 regelmäßige Treffen mit Mitgliedern der Hamas-Führungsspitze auf der Ebene des Außenministeriums statt. Der erste offizielle Besuch von Chalid Maschal in Moskau, dem Chef des Hamas-Politbüros, erfolgte fast unmittelbar nach dem Sieg der Partei bei den palästinensischen Wahlen im März 2006.
Verworrene Partikularinteressen
In einem Interview mit der staatlichen Zeitung „Rossijskaja Gaseta“ zeigte sich Maschal damals hocherfreut, endlich internationale Legitimität erlangt zu haben:
„Wir waren immer davon überzeugt, dass der Tag kommen würde, an dem wir in Frieden in die Hauptstädte der Welt kommen können. Und wir waren sicher, dass dies nach dem Sieg der Hamas geschehen würde. Aber wann genau das passieren würde, wusste natürlich keiner von uns. Und vor allem hätte niemand geahnt, dass es so schnell gehen würde.“
Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die bilateralen Beziehungen von Russland und der Hamas im Jahr 2010, als sich Präsident Dmitrij Medwedew mit Maschal traf. In der Folgezeit sollten sich die Kontakte allerdings wieder abkühlen.
Das passierte, weil die Hamas ab 2011 die bewaffnete Opposition in Syrien unterstütze. Hinzu kam, dass sich damals ein großer Teil ihrer Kämpfer im Nachbarland befand, wo sich Mitglieder des Politbüros vor den israelischen Sicherheitsdiensten versteckten. Dies hatte zur Folge, dass die Hamas in Moskau als aktive Konfliktpartei aufseiten der syrischen Opposition wahrgenommen wurde.
Bis zum Beginn des syrischen Bürgerkrieges waren Damaskus und Teheran die wichtigsten Verbündeten der Hamas gewesen. Sie versorgten den Gazastreifen mit Waffen, darunter moderne Panzerabwehrraketen des Typs „Kornet“ aus russischer Produktion. Ebenso stellten sie Raketentechnologie bereit, auf deren Grundlage die Hamas ein Arsenal von tausenden von Marschflugkörpern für Angriffe auf israelische Städte aufbaute. Wie groß dieses Potenzial mittlerweile ist, konnte man am 7. Oktober 2023 beobachten.
Man darf annehmen, dass die Hamas die syrische Opposition nicht nur wegen ihres religiösen Bekenntnisses als Sunniten, sondern auch aufgrund ihres gemeinsamen Hauptsponsors Katar unterstützte. Das Emirat war bestrebt, das Regime in Damaskus zu stürzen und setzte alle verfügbaren Kräfte für dieses Vorhaben ein. Nach dem Beginn der Revolution verließ das Politbüro der Hamas Damaskus und zog nach Katar, wo ihre Funktionäre bis heute ein Luxusleben führen.
Wie verworren die Partikularinteressen der in den syrischen Bürgerkrieg involvierten Fraktionen waren, zeigt folgendes Beispiel. So wurde die Hamas nicht nur von Moskau und Damaskus, sondern auch von der schiitischen Hisbollah bekämpft, deren mächtigster Unterstützer Teheran war. Israel wiederum stärkte insgeheim die syrische Opposition. Und operierte damit auf derselben Seite wie die Hamas. Moskau hatte sich in dieser komplexen religiös-politischen Konfrontation eindeutig für Präsident Baschar al-Assad entschieden. Um dessen Regierung zu stabilisieren, die eng mit dem Iran und der Hisbollah kooperierte, sind seit 2015 russische Truppen in Syrien stationiert. Ihr Eingreifen war maßgeblich für den Sieg Assads verantwortlich.
Gescheiterte Vermittler
Infolge dieses Engagements ist der Einfluss Russlands im Gazastreifen schwächer geworden. Gleichwohl hat sich Moskaus formale Position zur Hamas nicht geändert. So bestätigte der stellvertretende Außenminister Michail Bogdanow 2015, dass Russland die Hamas nicht als Terrororganisation betrachte, da sie „ein integraler Bestandteil der palästinensischen Gesellschaft“ sei und Vertreter in der gesetzgebenden Nationalversammlung und der Regierung der nationalen Einheit habe. Die obigen Ausführungen bilanzierend, lässt sich sagen, dass Russland eine aktive, jedoch wechselhafte Rolle bei der Konfiguration der politischen Machtverhältnisse im Nahen Osten gespielt hat. Dabei hat Moskau zwei Schwerpunkte gesetzt.
Der erste besteht darin, als Vermittler bei den Verhandlungen zwischen den verschiedenen palästinensischen Konfliktparteien Hamas, Fatah und Islamischer Dschihad aufzutreten. Zudem ist Russland bestrebt, die Arbeit des Nahost-Quartetts wiederzubeleben, dessen Mitglied es ist. Gleichwohl kann man feststellen, dass Moskaus Ambitionen als Ordnungsmacht bei innerpalästinensischen Angelegenheiten gescheitert sind. Zwar finden regelmäßig Verhandlungen und Treffen mit Vertretern von Fatah, Hamas und anderen Gruppierungen in Moskau statt – im März 2020 hatte Sergej Lawrow sogar Ziyad an-Nachala, den Führer des Islamischen Dschihad, empfangen. Nichtsdestoweniger wurden sämtliche wichtige Vereinbarungen, wie z.B. das Versöhnungsabkommen zwischen Fatah und Hamas von 2017, ohne russische Beteiligung getroffen.
Auch die Rolle Russlands als Vermittler bei den palästinensisch-israelischen Verhandlungen hat sich nicht bewährt. Als Präsident Trump 2020 seinen Plan für eine Lösung des Nahostkonflikts vorlegte, vermittelte er auch gleich zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten. Sowohl die Hamas als auch die offiziellen Stellen der Palästinensischen Autonomiebehörde waren äußerst verärgert über das amerikanische Vorhaben, das ihrer Meinung nach zu sehr israelische Interessen berücksichtigte.
Aus diesem Grund hat sich die Hamas nie auf das Abkommen eingelassen, das im Gegenzug für eine Lockerung der Blockade des Gazastreifens eine stillschweigende Anerkennung Israels und eine Beendigung des Krieges verlangte. Unter diesen Umständen nahmen palästinensische Politiker Moskau als Gegengewicht zu den USA wahr und hofften, dass es die Verhandlungsagenda ändern könnte.
Andererseits waren die israelischen Behörden sehr erbost über Moskaus Kontakte zur Hamas. Nur weil Israel und Russland viele gemeinsame Interessen hatten, kritisieren israelische Beamte diese Besuche nicht öffentlich. Gleichzeitig machte man sich auf israelischer Seite aber keine Illusionen, dass Russland keinen wirklichen Einfluss auf die Hamas-Führung hatte, sondern bloß versuchte, sich auf verschiedenen Ebenen in die Nahostpolitik einzumischen. Da die israelischen Behörden bis zuletzt einen veritablen Parlamentär brauchten, um mit der Hamas zu verhandeln, griffen sie auf Ägypten zurück. Wenn Chalid Maschal zu Verhandlungen mit russischen Diplomaten wie Michail Bogdanow nach Katar reiste, überquerte er daher auch den einzigen Grenzübergang aus Gaza nach Ägypten.
Noch bedeutender ist das Folgende: Alle für den Gazastreifen bestimmten Waren, einschließlich geschmuggelter Waffen, passierten dieselbe Grenze. Das bereits erwähnte Abkommen von 2017 zwischen Fatah und Hamas wurde ebenfalls in Kairo unterzeichnet. Damit ist klar, dass nur Ägypten nennenswerten Einfluss im Gazastreifen geltend machen kann. Russland spielt dabei keine Rolle.
Profiteure der Eskalation
Die Schwäche der eigenen Position bedingt, dass Moskau ein vitales Interesse an der sich nun abzeichnenden Eskalation des Nahostkonflikts hat. Mit Blick auf die Ukraine ist dafür mithin folgender Grund verantwortlich. Die Fähigkeit der Ukraine zur Landesverteidigung hängt maßgeblich von den westlichen Waffenlieferungen ab. Gleiches gilt für die ihr zuteilwerdende finanzielle Unterstützung und die Ausbildung ihrer Streitkräfte. Aus russischer Sicht handelt es sich dabei um einen entscheidenden Faktor, den Wladimir Putin und andere hohe Funktionäre regelmäßig thematisieren.
In seiner jüngsten Rede beim Waldai-Club vom 5. Oktober 2023 sagte der russische Präsident, der Krieg sei innerhalb einer Woche beendet, sofern Kiew keine Waffen aus dem Westen mehr erhalte (Achgut berichtete). Um dieses Ziel zu erreichen, bleiben Moskau zwei Optionen.
Es kann weiterhin versuchen, die Lieferungen militärisch zu unterbinden, indem es Verkehrsrouten und Konvois angreift. Die Wirksamkeit dieser Methode ist jedoch insofern beschränkt, als solche Operationen nur auf ukrainischem Territorium erfolgen können. Hinzu kommt, dass sich dabei bislang kaum nennenswerter Erfolg eingestellt hat. Die zweite Option ist vielversprechender. Sie besteht darin, die westliche Unterstützung der Ukraine durch eine Veränderung des politischen Klimas in den Geberländern zu beeinflussen. Da es sich bei allen von ihnen um parlamentarische Demokratien handelt, müssen die Regierungen mit Blick auf die nächsten Wahlen immer auch der Stimmung in der Bevölkerung Rechnung tragen.
Diese wiederum hängt nachgerade vom aktuellen Medienfokus ab. Seinen Einfluss konnte man jüngst beobachten. Bereits einen Tag nach dem Überfall der Hamas trat der Krieg in der Ukraine plötzlich in den Hintergrund. In der Berichterstattung kam er nur noch als Randnotiz vor. Dabei handelt es sich um einen Effekt, dessen man sich in Moskau wohl bewusst ist; das Kalkül des Kremls zielt folglich darauf ab, den Konflikt im Nahen Osten anzuheizen. Im Zusammenhang mit einer daraus resultierenden Reduktion westlicher Waffenhilfe für Kiew hat Kremlsprecher Dmitrij Peskow unlängst erklärt:
„Das wird ganz unvermeidlich passieren, denn Möglichkeiten haben ihre Grenzen, das Geld kann knapp werden. Es gibt eine emotionale Ermüdung und berechtigte Fragen der ausländischen Steuerzahler, wofür genau das Geld ausgegeben wird. Wir beobachten das.“
Zwar weist der Kreml Vermutungen zu Militärhilfe an die Hamas als haltlose Unterstellungen zurück und weist darauf hin, dass in ihrem Arsenal bereits westliche Waffen aus der Ukraine aufgetaucht seien. Die Tatsache, dass Präsident Mahmud Abbas (Fatah) jedoch bald zu Gesprächen in Moskau erwartet wird, wo ihn Wladimir Putin bereits 2022 empfangen hatte, lässt erkennen, dass Russland künftig mithilfe der Palästinenser politischen Einfluss nehmen will.
Welche Mittel Moskau ansonsten nutzen wird, um seine Interessen in der Ukraine über ein Eingreifen in den Nahostkonflikt durchzusetzen, bleibt vorerst unklar. Fest steht lediglich, dass der Überfall der Hamas Russland eine einmalige Gelegenheit zur Verbesserung seiner Kriegschancen bietet.
Putin hat diese Gelegenheit sofort genutzt und sich auf dem Forum der „Russländischen Energiewoche“ in Nahost in dezidierter Abgrenzung zur Position von Israels westlichen Partnern geäußert. Am 11. Oktober 2023 erklärte er gegenüber der Presse:
„Ursprünglich ging es um die Schaffung von zwei unabhängigen, souveränen Staaten: Israel und Palästina. Wie wir wissen, wurde Israel gegründet. Palästina als unabhängiger, souveräner Staat ist aufgrund verschiedener Umstände aber nicht geschaffen worden […]
Darüber hinaus wurden einige der Gebiete, die die Palästinenser als Teil ihres angestammten Palästinas betrachten und immer betrachtet haben, von Israel besetzt - zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedene Weise, aber hauptsächlich natürlich mit Hilfe militärischer Gewalt […]
Ich möchte hinzufügen, dass die Position Russlands, die Sie erwähnt haben und die ich soeben dargelegt habe, nicht heute bzw. im Zusammenhang mit diesen tragischen Ereignissen entstanden ist, sondern sich über Jahrzehnte hinweg herausgebildet hat. Sie ist sowohl der israelischen Seite als auch unseren Freunden in Palästina wohl bekannt.
Wir haben uns immer für die Umsetzung der Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates eingesetzt, das heißt in erster Linie für die Errichtung eines unabhängigen, souveränen palästinensischen Staates. Das ist die Wurzel aller Probleme.Und natürlich ist alles, was dieses Problem in den letzten Jahren begleitet und verschärft hat, die Siedlungstätigkeit.“
Es wird deutlich, dass der Kreml nun den ersten Zug getan hat. Das weiß auch Präsident Selenskyj. In seiner abendlichen Ansprache vom 14. Oktober 2023 warnte er davor, dass die Terrorbekämpfung nirgends ins Wanken geraten dürfe. Damit meinte er die russische Offensive bei Awdijiwka. Seit dem 10. Oktober 2023 greift Moskau hier mit massiven Kräften an. Es ist die größte Offensivoperation der Russen seit dem Sommer.
Auch wenn es vor kurzem noch niemand für möglich gehalten hätte: der Nahostkonflikt könnte darüber entscheiden, wie der Krieg in der Ukraine weiter verlaufen wird.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.