„Spiegel“ und „Tagesschau“ zeigen mit zwei aktuellen Beiträgen im Rahmen der „MeToo“-Debatte, wie man Journalismus tunlichst nicht betreiben sollte. Affären, Streitigkeiten und schmutzige Wäsche zwischen streitenden Parteien, in diesen Fällen im Medienbetrieb, werden zu irgendwas mit Missbrauch hochgejazzt, bis es zum Rufmord reicht.
Der Kampfbegriff „Machtmissbrauch“ erlaubt es, qualitativ deutlich unterschiedliche Dinge zu vermengen, relative Harmlosigkeiten wie schwere Straftaten werden mit ihm als Ausdruck ein und derselben patriarchalen Verwerflichkeit ausgewiesen. Besonders frappierend zeigt sich dies an einer vom Spiegel veröffentlichten Geschichte. Sie trägt den Titel „Er zeichnete mir Hakenkreuze an den Rand meiner Manuskripte“, läuft unter „#MeToo im Schweizer Journalismus“ und fängt mit einem Foto des verurteilten Filmproduzenten Harvey Weinstein ein.
Darin erhebt die Journalistin Anuschka Roshani Vorwürfe gegen ihren ehemaligen Chef, den früheren Chefredakteur des schweizerischen Magazin, Finn Canonica. Sie lauten Sexismus, Machtmissbrauch und Mobbing. Vorwürfe sexueller Belästigung oder Übergriffe erhebt sie nicht.
Genau diese werden jedoch insinuiert, wenn ein von der Polizei abgeführter Weinstein zu Beginn des Artikels gezeigt wird. Mit Bezug auf diesen schreibt Roshani, dass „Missbrauch und Geringschätzung von Frauen auch in unseren hochmodernen Gesellschaften System“ habe, um sich dann als „Opfer eines Machtmissbrauchs“ vorzustellen. Die Spiegel-Aufmachung und die Journalistin erwecken damit den Eindruck, dass ähnlich drastische Anschuldigungen wie zuvor gegen den amerikanischen Filmproduzenten nun gegen den Schweizer Chefredakteur gemacht würden – und das ist grob irreführend.
Es ist ein Spiel mit dem Rufmord
Die erhobenen Vorwürfe beruhen, wie die NZZ nach kritischen Recherchen schreibt, nun sogar auf „Übertreibungen, Schuldzuweisungen, Vertuschung, Häme und Heuchelei“. Doch selbst wenn das nicht der Fall wäre, verbietet es sich, jemanden in die Nähe von Sexualstraftaten zu rücken, gegen den man nichts dergleichen vorbringt. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, mit dem Rufmord.
Die Weinstein-Bezüge, die die NZZ als „grotesk“ registriert, rechtfertigt der Spiegel so: Bei #MeToo gehe es ja auch um „männlichen Machtmissbrauch“. Darüber hinaus werde, so die Pressesprecherin, „an keiner Stelle behauptet, dass die Taten Weinsteins und das Führungsverhalten Canonicas gleich zu bewerten sind.“
Die oben erwähnte Spiegel-Autorin Roshani, die sich auf diese irreführende Weise als Opfer in Szene setzt, schreibt darüber hinaus: „Wenn ein Mann ein sexuelles Interesse an einer Frau hat, über die er Macht besitzt, dann besteht die Gefahr, dass er seine Macht ausspielt“. Damit verortet sie nicht nur die Gründe für das angeprangerte Fehlverhalten Canonicas im sexuellen Trieb, sondern legt auch sexuelle Belästigungen nahe. Flüchtige Leser werden es so verstehen. Die Identifizierung mit der Opferrolle mit dem wohligen Rückenwind MeToo’s begünstigt eine zur Hemmungslosigkeit neigende Selbstgerechtigkeit. Alles scheint legitim, wenn es nur gegen das Feindbild „alter, weißer Mann in Machtposition“ geht. Aus Roshanis Text geht nicht einmal hervor, dass er ein sexuelles Interesse an ihr gehabt hätte, von Anmachversuchen oder dergleichen ist nirgends die Rede. Wenn sie von einem sexuellen Interesse seinerseits spricht, handelt es sich um eine Unterstellung, um eine bloße Suggestion, für die ihr Text keinerlei Belege liefert.
Die geschilderten Beispiele für Canonicas Fehlverhalten sind gewiss unschön, aber weit davon entfernt, schwere Verbrechen zu sein. Per Textnachricht schrieb er ihr als Gratulation: „Obwohl du eine Frau bist, hast du brilliert.“ Hierbei könnte es sich um handfesten Sexismus handeln, möglicherweise aber auch nur um ein schwarz-humoriges, ironisches Kokettieren damit. Weiteres Beispiel: Für das Verwenden typisch deutscher, im Schweizerischen nicht geläufiger Wörter („Kekse“ statt „Guezli“) kritzelte er ihr kleine Hakenkreuze mit Enden, die teilweise falsch herum sind, was das Ganze lächerlich und damit harmloser erscheinen lässt, an von ihr redigierte Manuskripte. Damit wollte er sich als Schweizer über ihr Deutschsein lustig machen.
„Er nahm auch Männer ins Visier“
Nach einer Konferenz, in der es um Rassismus ging, sagte er zu Roshani: „Ihr Deutschen hättet die doch eh alle gleich vergast.“ Damit hätte er, so die Journalistin, ihr „Anderssein zur Befriedigung seiner Machtgelüste“ genutzt. Anderes lässt sich hingegen nicht mehr als derben Humor interpretieren: Er „(b)rüstete sich in meinem Beisein vor Kollegen mit einem scheinbaren Exklusivwissen über mein Liebesleben: dass ich zu Beginn meiner Magazin-Zeit öfter die Männer gewechselt hätte.“
Aber wie dem auch sei: Auch Menschen, die sich falsch verhalten haben, dürfen erwarten, fairen und seriösen publizistischen Richtlinien gemäß behandelt zu werden. Der Spiegel verletzt diese in grober Weise, wenn er nahelegt, man hätte es mit Vergewaltigungsvorwürfen zu tun, wo es um Mobbing geht. Dieses richtete sich laut der Autorin selbst nicht nur gegen Frauen: „Ich war nicht die Einzige, er nahm auch Männer ins Visier.“
Vom Mobbing-„Machtmissbrauch“ als Chef gegenüber Angestellten hin zu veritablem Missbrauch in Form von sexueller Gewalt gegen Frauen – in der sprachlichen Assoziationskette ist der Weg nicht weit, obwohl zwischen beiden Vergehen doch Welten liegen. Deswegen gilt es, seine Worte mit Bedacht zu wählen – gerade als Journalist. Wer den Moralismus im Rücken hat, vergisst das leicht.
Der MeToo-Diskurs sorgte dafür, dass vieles durcheinander geht, was kategorisch zu unterscheiden ist. Das könnte Medien, die ihn unkritisch förderten, aber auch auf die Füße fallen: Die Mediengruppe Tamedia, zu welcher das von Canonica früher geleitete Magazin gehört, prüft eigenen Angaben zufolge „rechtliche Schritte“, mutmaßlich gegen den Spiegel.
Boulevardesk und manipulativ
„Machtmissbrauch“, so lautet das Stichwort auch jener, die mit Andeutungen und moralischer Entrüstung Stimmung machen, ohne sich dabei für die Richtschnur des bürgerlichen Rechts zu interessieren, für das die Kategorie der Freiwilligkeit maßgeblich ist, wenn sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen moralisch bewertet werden. Auch das Politportal Tagesschau.de, das man gemeinhin noch mit einer gleichnamigen Nachrichtensendung gleichsetzt, wo es über dieses vom Rundfunkauftrag noch gedeckte Format doch längst hinausgewuchert ist, agitiert schamlos mit Hilfe dieses schwammigen Begriffs.
Boulevardesk im schlimmsten Sinne betitelt der öffentlich-rechtliche Rundfunk (einer Sendung von Anja Reschke folgend) einen Tagesschau-Podcast so: Das System Reichelt: „Bumsen, belügen, wegwerfen“. Die Eindrücke, die mit dieser reißerischen Aufmachung geweckt werden, sind inhaltlich nicht zu rechtfertigen, werden von dem, was die Investigativ-Journalistin Stefanie Dodt da an Erschütterndem zusammengetragen haben will, nicht näherungsweise eingeholt. Das titelgebende Zitat soll der ehemalige Chefredakteur Bilds per Whats-App-Nachricht in einem Streit einer Affäre an den Kopf geworfen haben, entspringt also einer emotionalen Ausnahmesituation. Über den Kontext dieses Streits weiß die Journalistin nichts und gibt das auch offen zu – als wäre diese Unkenntnis kein Problem.
Im Streit sagt man schlimme Dinge, die man nicht so meint, weil man verletzt ist und verletzen will, was jeder weiß, der ein Mensch aus Fleisch und Blut ist und daher schon einmal gestritten hat. Hinterher bereut man, so wie in diesem Fall vielleicht auch Reichelt. Wir wissen es nicht und es geht uns auch nichts an.
Gleichwohl charakterisiert Tagesschau.de mit diesem Zitat ein ganzes „System“, macht einen Wutausbruch, dem womöglich ähnlich verletzende Verbal-Attacken vorausgingen, zum Prinzip Reichelts generellen Umgangs mit jenen erwachsenen, berufstätigen Frauen, mit denen dieser innerhalb seines Arbeitsumfelds einvernehmliche Beziehungen eingegangen ist. Man pickt sich das Schlimmste, das zu finden war, heraus und suggeriert, es stünde pars pro toto. Solche zwielichtigen Standards akzeptiert ein öffentlicher Rundfunk, der die öffentliche Meinung zu seinen Gunsten manipulieren will – nämlich gegen einen seiner schärfsten Kritiker.
„Machtmissbrauch“ ist ein „erstmal unkonkreter Begriff“, heißt es am Ende im Tagesschau-Podcast dann noch. Das stimmt. Deswegen eignet er sich so gut für suggestiven Journalismus, der auf Rufmord hinauswill.