Der japanische Premierminister Abe kündigte am 28. August überraschend seinen Rücktritt an. Wer in letzter Zeit die japanischen Nachrichten verfolgte, für den kam die Ankündigung aber doch nicht so unerwartet. Es gab zuletzt einzelne Meldungen, die darauf hindeuteten, dass etwas im Gange war.
Abe hatte sich in den letzten Wochen sehr rar gemacht und sich zu Corona kaum zu Wort gemeldet, sodass sich japanische Medien fragten, wo steckt Abe? Die Zahl der Infizierten war im Juli und August vor allem in Tokio, aber auch in Osaka und anderen Regionen wieder stark angestiegen. Dazu äußerten sich jedoch nur die regionalen Prefekten, Abe schien bei dem Thema völlig abgetaucht.
Am Montag, dem 24 August, war gemeldet worden, dass Abe einen Rekord gebrochen hätte, er wäre nun der am längsten im Amt befindliche Premierminister Japans. Doch anstatt den Anlass zu feiern und Sondersendungen im öffentlichen rechtlichen Fernsehen zu bringen, wurde die Sache übergangen und von Abe nur das Understatement bekannt, dass er nicht daran gemesssen werden wolle, wie lang er im Amt gewesen wäre, sondern wie viel er im Amt bewirkt hätte. Im Rückblick klang es so, als hätte er zu dem Zeitpunkt schon gewusst, dass er nicht mehr lange im Amt sein würde.
Es war kurz zuvor gemeldet worden, dass sich Abe im Anschluss an eine medizinische Vorsorgeuntersuchung nochmals einer Spezialuntersuchung unterziehen musste. Näheres wurde dazu nicht gesagt, Abe kündigte nur an, dass er über das Ergebnis die Öffentlichkeit zeitnah informieren würde. Nun kam heraus, dass Abe seit seiner Jugend an Colitis ulcerosa, einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung, leidet. Durch Medikamente hatte er die Krankheit in den Griff bekommen, nun aber hätte sich sein Zustand verschlechtert, und es wäre fraglich, ob er wieder geheilt werden könnte.
Beliebtheitswerte über die Jahre hinweg relativ konstant
Abe stammt aus einer Politikerfamilie, sein Großvater mütterlicherseits war früher bereits einmal Premierminister gewesen, und Abe kam erstmals 2006 mit 52 Jahren in dieses Amt. Er musste aber 2007 aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit wieder zurücktreten. Es war damals schon dasselbe Problem wie dieses Mal, aber im Gegensatz zu heute war seine damalige Regierungszeit wenig erfolgreich. Nach einigen politischen Skandalen sah es so aus, als wäre ihm die Verantwortung über den Kopf gewachsen, und er hätte sich deshalb in eine Krankheit geflüchtet,
Nach seinem Rücktritt begann eine sehr instabile politische Phase, die Premierminister wechselten in Japan fast jährlich. Zwischendurch verlor die LDP, Abes Partei, sogar die Wahlen gegen ein Parteienbündnis, das mit dem Versprechen, für eine neue Politik in Japan zu sorgen, angetreten war. Doch nachdem dieses Parteienbündnis die Wähler enttäuscht hatte, kam 2012 die LDP wieder an die Macht. Und nachdem Abe sich gegen interne Parteirivalen durchsetzte, wurde er zum zweiten Mal Premierminister. Diesmal konnte er sich bis 2020 unangefochten im Amt halten, gewann 2014 und 2017 die Wahlen, und die nächsten wären erst im September 2021 fällig gewesen.
Die Beliebtheitswerte für die Regierung Abe waren über die Jahre hinweg relativ konstant, erst in den letzten Monaten sanken sie kontinuierlich. Besonders sympathisch wirkte Abe nie, aber man rechnete es ihm als Verdienst an, dass er wieder Stabilität in die japanische Politik gebracht hatte. In der Zeit vor ihm war es in dem Parteienbündnis drunter und drüber gegangen, dazu kamen die Folgen des Reaktorunfalls in Fukushima, sodass die Regierung Abe im Vergleich dazu wie ein stabiler Anker wirkte.
Abes Ziel war es von Anfang an, die japanische Wirtschaft zu beleben, die schon lange zuvor mit einer Deflation zu kämpfen hatte und nach der Fukushima-Katastrophe einen weiteren Einbruch erlitt. Er setzte auf wirtschaftliche Maßnahmen, die er Abenomics (Abe Economics) nannte. An erster Stelle sollte dabei Quantitativ easing stehen, an zweiter eine Unterstützung von Firmen und an dritter Stelle Strukturreformen. Er setzte den damaligen Präsidenten der japanischen Zentralbank unter Druck, bis er zurücktrat und Platz für einen willfährigen Nachfolger machte. Der gab wie in Europa das 2-Prozent-Inflationsziel aus, was zu einer massiven Abwertung des Yen gegenüber dem Dollar und dem Euro führte. Mein Gehalt verringerte sich durch diese Maßnahme auf einen Schlag um 20 Prozent.
Negative Beliebtheitswerte seit Beginn der Covid-19-Gefahr
Es gelang ihm aber tatsächlich, die Wirtschaft aus der Rezession herauszuführen. Auch wenn das Wachstum nicht umwerfend war, rühmte er sich, die Beschäftigungszahlen in die Höhe gebracht zu haben. Und abgesehen von einer zwischenzeitlichen konjunkturellen Delle, verursacht durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, gab es in seiner Amtszeit eine lang anhaltende Wachstumsphase, die erst durch die Corona-Krise ihr Ende fand.
Letzteres trug entscheidend zu seinen negativen Beliebtheitswerten bei, denn seit Beginn der Covid-19-Gefahr sendete er immer nur Signale an die Wirtschaft. Bei den einfachen Leuten kam das so an, als wäre ihm die Wirtschaft wichtiger als die Gesundheit der Menschen. Dafür konnte die Bürgermeisterin von Tokio mit ihrem Image als Kümmerin punkten.
Ein vorrangiges Ziel während seiner Amtszeit war für Abe, den Artikel 9 der Verfassung zu modifizieren, der Japan eine reguläre Armee verbietet. Japan hat zwar die sogenannten Selbstverteidigungsstreitkräfte, aber die sind in ihrem Einsatzbereich eingeschränkt. Die Frage, ob das geändert werden sollte, ist in Japan sehr umstritten, in Umfragen gibt es einen Teil der Bevölkerung, der das Ziel befürwortet, aber es gibt auch den anderen Teil, der eine Verfassungsänderung strikt ablehnt, aus Angst davor, dass Japan wieder in einen Krieg hineingezogen werden könnte. Abe wurde vorgeworfen, dass er damit eine nationalistische Agenda verträte, aber man könnte es auch so sehen, dass er Japans Stellung in der Welt damit normalisieren wollte. Ein souveräner Staat müsste über den Einsatz seines Militärs auch souverän entscheiden können.
Ein weiteres Ziel Abes war, ein Abkommen über die Rückgabe der südlichen Kurilen mit Russland zu schließen. Die Sowjetarmee hatte am Ende des Zweiten Weltkriegs mehrere japanische Inseln nördlich von Hokkaido annektiert, und es gibt seit langem Bestrebungen, sie zurückzufordern. Allerdings hat Putin – moderat im Ton, aber hart in der Sache – nie einen Zweifel darüber gelassen, dass er die Inseln nicht aufgeben werde.
Freihandelsabkommen mit der EU
Als Erfolg konnte Abe verbuchen, dass in seine Amtszeit die Entscheidung für die Olympiade 2020 in Tokio fiel. Bei der Bewerbungsrede auf Englisch versicherte er damals, dass nach der Fukushima-Katastrophe alles unter Kontrolle wäre und in Tokio keine Gefahr bestünde. Allerdings machte ihm auch hier die Corona-Krise einen Strich durch die Rechnung, und er bedauert sicherlich, dass die Olympischen Spiele zu seiner Amtszeit nicht mehr durchgeführt werden konnten.
Mit Politikern aus dem Westen hatte Abe keine Probleme, und es zählt auch als sein Erfolg, dass in seiner Amtszeit ein Freihandelsabkommen mit der EU geschlossen wurde. Auch hinsichtlich der für Japan sehr wichtigen Beziehungen zu den USA kam Abe sehr gut mit Obama und mit Trump aus.
Das Verhältnis zu Japans Nachbarstaaten gestaltete sich dagegen weniger harmonisch. Mit China vor allem wegen des schwelenden Konflikts um die Senkaku Inseln. Aber besonders das Verhältnis zu Südkorea verschlechterte sich unter Abe dramatisch. Zum Teil wegen der ungelösten Frage nach Entschädigungszahlungen für koreanische Frauen, die im Krieg in Bordelle für japanische Soldaten gezwungen worden waren. Doch darüber hinaus bewirkte auch die wirtschaftliche Rivalität, dass sich die politischen Beziehungen verschlechterten. Zu Nordkorea waren die Beziehungen immer schon unterkühlt und verbesserten sich auch nicht während Trumps Charmeoffensive gegenüber Kim Jong-un.
So gesehen hinterlässt Abe viele offene Baustellen. Es war in den letzten Monaten – nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Corona-Krise – deutlich geworden, dass ihn sein Amt angegriffen hatte. Der Elan der ersten Jahre war geschwunden, er wirkte überarbeitet und gealtert. Es wird nun darüber spekuliert, wer sein Nachfolger werden könnte. Abe selbst nannte keinen Namen, und auch die Parteispitzen der LDP haben sich noch nicht festgelegt.