Die EU fragt ihre Bürger nach deren Meinung zur sogenannten "digitalen Reise-App". Das Resultat: Heftige Ablehnung aus Furcht vor einem Überwachungsregime. Aber haben solche Reaktionen überhaupt einen Einfluss?
Derzeit plant die EU-Kommission die Digitalisierung von Reisedokumenten (achgut berichtete). Angeblich um Engpässe an den Grenzübergängen zu verringern, die Wartezeiten zu verkürzen sowie die Sicherheit und Effizienz der Grenzkontrollen zu erhöhen. Die neue digitale EU-Reise-App („Digital Travel“) soll ein gemeinsames Format für digitale Reisedokumente schaffen, um das Reisen in der EU zu „erleichtern“. Sie soll ab 2030 verfügbar sein und auch für Vorab-Grenzkontrollen genutzt werden können. Außerdem soll sie in der europäischen Brieftasche für die Digitale Identität gespeichert werden können. In dieser EU-weiten digitalen Brieftasche (European Digital Identity Wallet, kurz: EUDI-Wallet) sollen Dokumente jeglicher Art aufbewahrt werden können: zum Beispiel Führerschein, Krankenkarte, Impfpass, ärztliche Rezepte, Berufszertifikate, Reisetickets, Zeugnisse oder Verträge. Im Rahmen der digitalen Dekade Europas ist vorgesehen, allen EU-Bürgern bis 2030 eine europäische digitale Identität (eID) bereitzustellen.
Was es allerdings bedeutet, wenn etwa Reisefreiheit an eine digitale Impfbescheinigung gebunden ist, wurde bereits während der Corona-Krise deutlich. Wenn der digitale Reisepass und der digitale Impfpass künftig sogar in ein und derselben Wallet gespeichert werden sollen, lassen sich Impfstatus und Reisefreiheit noch leichter miteinander verknüpfen. Auch wenn zum Beispiel Flugtickets einer digitalen Identität zugeordnet werden können, lässt sich bei Bedarf – etwa im Fall eines ausgerufenen Klimanotstands – problemlos ein persönliches Reiselimit ermitteln. Wer mit der Einführung einer solchen Reise-App nun nicht einverstanden ist, kann der EU-Kommission immerhin ab sofort seine Meinung mitteilen.
Am 22. November eröffnete die Kommission nämlich die achtwöchige Frist für Rückmeldungen zu ihrem „Vorschlag für eine Verordnung über die Ausstellung von auf Personalausweisen basierenden digitalen Reiseausweisen und technische Standards für solche Reiseausweise“. Alle eingegangenen Rückmeldungen werden von der Kommission dann zusammengefasst und dem Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt, um in die Gesetzgebungsdebatte einfließen zu können.
Die erste Rückmeldung gleich am 22.11. kam aus Deutschland und fiel wohl eher nicht im Sinne der EU-Kommission aus. Der Kommentator stellte darin unverblümt fest:
„Diese Verordnung ist absoluter Blödsinn...... ich will nicht in diesem Maße digital erfasst werden...... und wenn, dann ist es von meiner ausdrücklichen persönlichen Zustimmung abhängig.......es ist nicht gewährleistet was mit meinen Daten passiert und ich kann nicht nachvollziehen wer darauf zurückgreift und ob mir das zuträglich ist. Ich bin selbst bei einer Sicherheitsbehörde tätig und weiß wie und wo man an Informationen kommt........ Sie dienen den Bürgern und nicht sich selber und zu Ihrem selbstzweck.......“
"Meine Besorgnis und mein Widerstand"
Noch am selben Tag folgte ein weiterer Kommentar aus Deutschland, der ebenfalls ablehnend ist:
„Da im Schengenraum leider keine Grenzkontrollen stattfinden ist eine Digitalisierung von Reisedokumenten unnötig. Sie würde den EU Apparat zusätzlich noch weiter aufblähen.“
Und am 23. November ging es so weiter. Auch der dritte Kommentator aus Deutschland verweigerte der EU-Kommission seine Zustimmung:
„Ich möchte nicht digital erfasst werden. Nicht für einen Reiseausweis und auch nicht für eine digitale ID. Man weiß nie, wer alles Zugriff auf die Daten hat oder sich illegal verschafft. Die bisherigen physischen Dokumente reichen völlig. Im übrigen halte ich diese Verordnung mal wieder für ein Beispiel von `Salami-Taktik´. Erst ist die Digitalisierung freiwillig und wird schmackhaft gemacht als `Erleichterung´, und wenn genug mitmachen, wird es verpflichtend und stellt eine weitere Möglichkeit umfassender Kontrolle über die Bürger dar.“
Zwar ist im jetzigen Vorschlag der EU-Kommission die Speicherung von Fingerabdrücken noch nicht vorgesehen, doch ein Kommentator aus Rumänien scheint dem nicht zu trauen und merkt an:
„Ich möchte meine Besorgnis und meinen Widerstand gegen die zunehmende Digitalisierung und Speicherung von personenbezogenen Daten, insbesondere von Fingerabdrücken, zum Ausdruck bringen. Der aktuelle Vorschlag zur Einführung digitaler Reisedokumente mag auf den ersten Blick als Fortschritt erscheinen, birgt aber erhebliche Risiken und Gefahren für die Privatsphäre und Sicherheit der Bürger. Die Einführung solcher Maßnahmen wird häufig mit der Bekämpfung der illegalen Migration oder mit Sicherheitsbedenken begründet. Es ist jedoch unverhältnismäßig, die gesamte Bevölkerung einer so umfassenden Überwachung zu unterziehen, um auf Probleme zu reagieren, die nur von einer kleinen Minderheit verursacht werden.
Fingerabdrücke sind ein einzigartiges und hochsensibles Merkmal eines jeden Menschen. Sie in zentralen oder dezentralen Systemen zu speichern, birgt erhebliche Risiken. Kein System der Welt kann eine 100%ige Sicherheit garantieren. Ein Datenleck oder ein Hackerangriff könnte katastrophale Folgen für Millionen von Bürgern haben. Die in solchen Systemen gespeicherten Fingerabdrücke könnten missbraucht werden. Sie könnten beispielsweise am Tatort eines Verbrechens gespeichert oder manipuliert werden, was zu ernsthaften rechtlichen Problemen führen könnte. Eine Verteidigung gegen solche Anschuldigungen wäre äußerst schwierig, da es in solchen Fällen fast unmöglich wäre, die eigene Unschuld zu beweisen. Die Abgabe von Fingerabdrücken sollte eine freie Entscheidung bleiben. Eine verpflichtende Speicherung greift unverhältnismäßig stark in die Persönlichkeitsrechte ein und untergräbt das Grundprinzip der Freiwilligkeit.
Fazit: Der Schutz der persönlichen Daten und der Privatsphäre muss oberste Priorität haben. Die Speicherung von Fingerabdrücken in digitalen Systemen stellt ein unverhältnismäßiges Risiko dar und könnte die Rechte der Bürger erheblich einschränken. Ich fordere die Kommission daher auf, alternative und weniger invasive Maßnahmen zu prüfen, um die gewünschten Ziele zu erreichen und die Übermittlung von Fingerabdrücken freiwillig zu machen.“
Eine Bürgerin aus Lettland äußerte sich ebenfalls kritisch:
„Es besteht keine Notwendigkeit, den bürokratischen Aufwand zu erhöhen. Mit vorhandenen Pässen kann man sehr gut reisen. Kein Problem.“
Und aus der Slowakei meldete sich jemand mit folgender Stellungnahme zu Wort:
„Ich bin nicht mit der Digitalisierung von Personalausweisen einverstanden, da dies viele Menschen einschränken und diskriminieren könnte, die kein Mobiltelefon benutzen, oder ältere Menschen, die von der Digitalisierung noch weit entfernt sind. Gleichzeitig denke ich, dass die Digitalisierung dem Missbrauch von Daten Tür und Tor öffnet.“
Haben negative Rückmeldungen überhaupt einen Einfluss?
Alle sechs Rückmeldungen also, die gleich an den ersten beiden Tagen der achtwöchigen Frist eingegangen sind, richten sich gegen die Pläne der EU-Kommission. Was würde passieren, wenn diesen negativen Rückmeldungen noch Tausende weitere folgen würden? Hätten sie tatsächlich irgendeinen Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess? Und wenn nicht: Wie würden die EU-Institutionen begründen, dass sie sich kurzerhand über das von der Kommission eigens erhobene Meinungsbild der EU-Bürger hinwegsetzen?
Übrigens fand just am 21. und 22. November auch das jährliche Gipfeltreffen zum digitalen Reisen unter dem Titel „Digital Travel Europe 2024“ in London statt, das sich als die Vernetzungs-Veranstaltung („Networking-Event“) schlechthin für die digitalen Marktführer („Digital Leaders“) von Europas Top-Airlines, Hotels und OTAs (Online-Reisebüros, englisch: Online Travel Agency) versteht. Hier wurde unter anderem über die Nutzung von generativer KI und von Echtzeit-Daten nachgedacht.
In einem Blog auf der Webseite des Gipfels werden außerdem virtuelle Reisemöglichkeiten entworfen. Dabei wird die Pandemie-sichere Zukunft des virtuellen Reisens hervorgehoben: Virtuelle Besichtigungstouren könnten zum Beispiel dafür sorgen, dass Kunswerke auch in schwierigen Zeiten zugänglich bleiben.
Wenn das kein Trost für all diejenigen ist, die künftig aus Geldmangel oder wegen nicht aktueller Impf-Apps zu Hause bleiben müssen! Warum sollen sie überhaupt noch ihr Sofa verlassen, wenn ihnen doch das gesamte „Metaverse“ als virtuelle Welt zur Verfügung steht? Hauptsächlich geht es wohl aber darum, möglichst viel von dem 20-Milliarden-Pfund-Kuchen abzubekommen, den McKinsey für die metaverse Reisebranche bis 2030 voraussagt.
"Mit physischen Reisen verbundenen CO₂-Emissionen erheblich verringern"
Auch die Digitalbranche wird sich sicher nicht dagegen sträuben, wenn unter dem Deckmantel der „Chancengleichheit“ der Zugang zum Hochgeschwindigkeitsinternet und zu Virtual Reality-Headsets für alle Erdenbürger angestrebt wird. Denn so heißt es im Block weiter: „Während virtuelle Touren darauf abzielen, das Reisen zu demokratisieren, erfordert die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs die Überwindung technologischer Barrieren und die Überbrückung der digitalen Kluft.“
Nicht zuletzt wird natürlich auch der Aspekt des Klimawandels betont: Virtuelle Touren könnten die mit physischen Reisen verbundenen CO₂-Emissionen erheblich verringern. Allerdings sei es ist wichtig, nachhaltige Lösungen für die Energieversorgung und Wartung dieser virtuellen Welten zu finden.
All das klingt noch reichlich nach Zukunftsmusik. Wesentlich realer ist da die geplante EU-Verordnung. Wer sich also mit der umfassenden Datenerhebung und -speicherung für die angeblich das Reise erleichternde App nicht abfinden und der EU-Kommission daher eine Rückmeldung geben will, muss sich allerdings registrieren oder mit einem Social-Media-Konto anmelden. Dabei lässt sich immerhin auswählen, ob der Kommentar anonym oder mit Nennung des Verfassers veröffentlicht wird.
Quellen:
Text des Verordnungsvorschlags
Webseite für Rückmeldungen