Vor dem Berliner Hauptbahnhof steht ein Pferd. Und während ich wegfahre und wiederkomme und wieder wegfahre und wieder ankomme, steht das Pferd immer noch und weiterhin an diesem Fleck und trägt jedesmal und dauerhaft zu meiner schlechten Laune bei. Denn dieses Pferd ist ein Denkmal von kaum zu überbietender Provinzialität, wie der Berufsverband Bildender Künstler Berlins in einer wütenden Pressemitteilung vom 31. Mai erklärte. Recht hatte er. Nur: diese Presseerklärung ging im Getümmel völlig unter. Sie wurde zwar hier und da gedruckt oder zitiert, aber die öffentliche Wirkung war gleich Null. Und das ist ein noch größerer Skandal als der katastrophale Kunstgeschmack von Bahnchef Mehdorn, der das Pferd mit der ihm eigenen Selbstherrlichkeit bestellt hatte.
An dieser Skulptur hätte sich nämlich eine ästhetische Debatte entzünden können und müssen, die zu leiten und zu moderieren Sache unserer Feuilletons gewesen wäre. Doch Kunst wird in unseren Feuilletons vor allem dann zum Thema, wenn sie geraubt oder gefälscht, zerstört oder verkauft wird. Kunst, die weg ist, erscheint den Redaktionen allemal interessanter als Kunst, die da ist. So wird auch noch die letzte Zeitungszeile oder Sendeminute mit aufgeregten Berichten über Vermißtes und Verschwundenes gefüllt, aber kaum jemanden kümmert das Hauptproblem aller Kunst, nämlich die Qualität, die Unterscheidung zwischen schön und häßlich.
Das rollende Pferd von Jürgen Goertz wäre ein guter Anlaß für eine solche Diskussion gewesen. Denn sowohl die künstlerische Fragwürdigkeit dieses gigantischen Kitschobjekts als auch seine prominente Position im öffentlichen Raum schreien geradezu nach sachverständiger Kritik. Der Hauptbahnhof der Hauptstadt ist schließlich nicht irgendein Winkel, und die Deutsche Bahn AG ist nicht irgendeine Privatfirma so wie die Heidelberger Druckmaschinen AG. Dort steht ein fast identisch aussehender Metallgaul aus dem Stall des Jürgen Goertz, den vor ein paar Jahren der damalige Chef der Druckmaschinenfabrik angeschafft hat. Er hieß zufällig Hartmut Mehdorn.
Es gibt also an diesem Kunstwerk eine ganze Menge Skandalpotential, doch nichts davon hat gezündet. Nun glotzt mich diese Mißgestalt seit mehr als einem halben Jahr aus rostfreien Augen an, dieses Kreatur hilflosen Kunstwillens aus dem Geist der Einbauküche, dieses stählerner Mahnmal machtverschworener Gedanken- und Gefühllosigkeit. Ich nehme jeden Umweg in Kauf, um die Nordseite des Hauptbahnhofs zu meiden, aber was soll eigentlich die Aufregung? Als ob es auf ein ästhetisches Unglück mehr oder weniger in diesem Lande ankäme. Bloß: Wer so denkt, ist für die Kulturkritik verloren.