Vor der Wahl zum EU-Parlament griffen etliche Medienschaffende gern tief in das pathetische Fach ihres Textbausteinkastens. Um die trägen Wahlberechtigten zur Stimmabgabe zu motivieren, schrieb und sendete man auf den ersten Seiten und zu besten Zeiten viel über die anstehende „Schicksalswahl“. Mancher sah mit dieser Wahl gar das „Endspiel um Europa“ gekommen. Und natürlich fanden vor allem ARD und ZDF vor dieser „Schicksalswahl“ viele gute Sendeplätze, um den Bürgern zu erklären, wie wichtig dieser Urnengang zur Besetzung eines Parlaments mit allenfalls beschränkten parlamentarischen Rechten für die Verteidigung der europäischen Demokratie wäre. Natürlich nur, wenn man keine „Europagegner“ wählen würde.
Es sei dahingestellt, ob Medienschaffende und Meinungsbildner die stark gestiegene Wahlbeteiligung als Erfolg für sich verbuchen können, aber nach diesem „Schicksalswahl“-Dauerfeuer der letzten Wochen hat sicher manch ein politisch interessierter Fernsehzuschauer auch am Schicksalswahlsonntag ein Feuerwerk an informativen Sondersendungen erwartet. Immerhin wurde in allen 28 EU-Ländern gewählt. In Deutschland zudem in Bremen zuzüglich einer Reihe von Kommunalwahlen. Auch Belgien wählte noch ein Parlament, Litauen einen neuen Präsidenten und in Rumänien stand ein Referendum über die umstrittene Justizreform an, mit der jüngst die Amnestie für korrupte Politiker erleichtert wurde. Es hätte also viel mehr berichtet, gewertet, analysiert werden können, als an gewöhnlichen Wahlsonntagen.
Um 18 Uhr lieferten ARD und ZDF dann auch die gewohnten Sondersendungen zur Wahl und da aus den Nachbarländern noch kaum Zahlen verfügbar waren, blieb der Informationsgehalt zunächst verständlicherweise überschaubar. Wer zu den regelmäßigen Konsumenten deutscher TV-Wahlberichterstattung gehört, weiß, dass es seit vielen Jahren nach jeder Landtags- und Bundestagswahl, mal um 19.30 Uhr, mal um 20.15 Uhr, die „Berliner Runde“ gab, gesendet mal im Ersten, mal im ZDF, aber von beiden Häusern produziert. Hier trafen normalerweise die Generalsekretäre oder die Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien aufeinander, werteten das Ergebnis aus und lieferten sich, wenn es gut lief, neben dem erwartbaren Sprechblasenwechsel auch noch den einen oder anderen unterhaltsamen Schlagabtausch.
Und gestern nach der Schicksalswahl? Nichts! Dabei hätte doch schon die Bremer Bürgerschaftswahl Anlass genug geboten. Das ZDF sendete um 19.30 Uhr lieber „Terra X – Der erste Freund des Menschen“. Im Ersten lief immerhin die Wahlsondersendung bis zur Tagesschau weiter. Es würde jetzt ja auch zunehmend spannender werden, denn nach und nach hätte es ja auch Ergebnisse aus den anderen EU-Ländern zu analysieren und zu diskutieren gegeben.
Schnulzen-England ohne Brexit
Ab 20 Uhr waren beispielsweise erste Ergebnisse aus Frankreich angekündigt. Darauf und auf die Reaktionen durfte man als Europäer am Tag einer Schicksalswahl doch wohl gespannt sein und als GEZ-Beitragszahler eine Befriedigung dieses Berichterstattungs-Bedürfnisses von ARD und ZDF erwarten. Doch was passierte? Das Erste verlängerte immerhin die Tagesschau um zehn Minuten, doch dann war vorerst Schluss. Die Programmverantwortlichen hatten für die nächsten eineinhalb Stunden Spannung im Tatort statt weitere Spannung am Wahlabend verordnet.
Auch im ZDF konnte man am Schicksalswahltag zunächst nichts Näheres zum Wahlsieg der Marine le Pen hören oder sehen, obwohl der kurz zuvor noch zum festen Bestandteil jedes Berichts über den drohenden demokratiegefährdenden Vormarsch der Rechten gehörte. Sollte der geneigte Prime-Time-Zuschauer durch Marines Siegesrufe nicht allzu sehr verunsichert werden? Oder war Madame le Pen plötzlich weniger gefährlich? Oder hatten die ZDF-Korrespondenten gerade keine interessanten Gesprächspartner gefunden?
Egal wie, statt sich mit Marine zu beschäftigen, zeigte das ZDF lieber eine anrührende Rosamunde-Pilcher-Geschichte aus dem beschaulichen Cornwall. Ein Schnulzen-England ohne Brexit – das ist doch mediale Entspannung an einem Schicksalswahltag. Eigentlich doch ein geradezu fürsorgliches Angebot.
Doch statt dies zu würdigen und zu genießen suchte so mancher Wahlberichterstattungsabhängige nach medialer Orientierung aus dem Gebührenfernsehen. Immerhin gibt es ja Phoenix. Allzu viele Stimmen aus Frankreich gab es hier zu dieser Stunde auch nicht, aber immerhin konnte man Marine le Pens Rede an ihr Volk mit Simultanübersetzung verfolgen. Die Kollegen von Phoenix gaben sich ja redlich Mühe, im Rahmen der Möglichkeiten auch fachkundige Einordnung zu liefern. Weite Strecken musste der Sender dennoch mit einem Studio-Gespräch eines Moderators mit zwei Experten füllen. Der „Ereigniskanal“ verfügt wahrscheinlich nicht über allzu üppige eigene Mittel und wird bei ARD und ZDF eher als Zweit- und Drittverwerter behandelt.
Doch auch als der Sondersendungsreigen am späteren Abend wieder einsetzte, waren Informationen in Form harter Fakten zwar vorhanden, aber recht spärlich, wenn man bedenkt, dass wir doch einen europäischen Schicksalswahlsonntag hinter uns hatten. Alle deutschen Sender hatten wochenlang ausgiebig erklärt, dass wir ein europäisches Bewusstsein entwickeln und über enge nationale Grenzen stets hinausdenken müssten.
Doch als es nun um Ergebnisse der Wahlen zum EU-Parlament ging, haben sie sich mit der provinziellen Bremen-Wahl und dem fulminanten Sieg der deutschen Grünen deutlich länger und intensiver beschäftigt, als mit allen Wahlresultaten in Polen, Ungarn, der Slowakei, Slowenien, Kroatien. Lettland, Estland, Spanien, Portugal, Bulgarien, Irland, Schweden, Finnland, Belgien – einschließlich der dortigen Parlamentswahl, Litauen – einschließlich der dortigen Präsidentenwahl oder Rumäniens – einschließlich des dortigen Referendums – zusammengenommen. Dass man Malta, Zypern oder Luxemburg auch als von Berufs wegen überzeugter Europäer für nicht ganz so wichtig hält, wie Bremen, könnte man ja noch ein bisschen verstehen.
Aber vielleicht sollten sich die Schicksalswahltag-Prediger in den öffentlich-rechtlichen Redaktionen an solche Missverhältnisse erinnern, wenn sie sich fragen, warum sie mit ihren großen Worten immer weniger ernst genommen werden. Im Spätsommer und Herbst gibt’s ja drei recht schwierige Landtagswahlen. Da sieht man sich wieder.
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