Peter Grimm / 27.05.2019 / 13:00 / Foto: Anne-Sophie Ofrim / 37 / Seite ausdrucken

Rosamunde statt Marine

Vor der Wahl zum EU-Parlament griffen etliche Medienschaffende gern tief in das pathetische Fach ihres Textbausteinkastens. Um die trägen Wahlberechtigten zur Stimmabgabe zu motivieren, schrieb und sendete man auf den ersten Seiten und zu besten Zeiten viel über die anstehende „Schicksalswahl“. Mancher sah mit dieser Wahl gar das „Endspiel um Europa“ gekommen. Und natürlich fanden vor allem ARD und ZDF vor dieser „Schicksalswahl“ viele gute Sendeplätze, um den Bürgern zu erklären, wie wichtig dieser Urnengang zur Besetzung eines Parlaments mit allenfalls beschränkten parlamentarischen Rechten für die Verteidigung der europäischen Demokratie wäre. Natürlich nur, wenn man keine „Europagegner“ wählen würde.

Es sei dahingestellt, ob Medienschaffende und Meinungsbildner die stark gestiegene Wahlbeteiligung als Erfolg für sich verbuchen können, aber nach diesem „Schicksalswahl“-Dauerfeuer der letzten Wochen hat sicher manch ein politisch interessierter Fernsehzuschauer auch am Schicksalswahlsonntag ein Feuerwerk an informativen Sondersendungen erwartet. Immerhin wurde in allen 28 EU-Ländern gewählt. In Deutschland zudem in Bremen zuzüglich einer Reihe von Kommunalwahlen. Auch Belgien wählte noch ein Parlament, Litauen einen neuen Präsidenten und in Rumänien stand ein Referendum über die umstrittene Justizreform an, mit der jüngst die Amnestie für korrupte Politiker erleichtert wurde. Es hätte also viel mehr berichtet, gewertet, analysiert werden können, als an gewöhnlichen Wahlsonntagen.

Um 18 Uhr lieferten ARD und ZDF dann auch die gewohnten Sondersendungen zur Wahl und da aus den Nachbarländern noch kaum Zahlen verfügbar waren, blieb der Informationsgehalt zunächst verständlicherweise überschaubar. Wer zu den regelmäßigen Konsumenten deutscher TV-Wahlberichterstattung gehört, weiß, dass es seit vielen Jahren nach jeder Landtags- und Bundestagswahl, mal um 19.30 Uhr, mal um 20.15 Uhr, die „Berliner Runde“ gab, gesendet mal im Ersten, mal im ZDF, aber von beiden Häusern produziert. Hier trafen normalerweise die Generalsekretäre oder die Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien aufeinander, werteten das Ergebnis aus und lieferten sich, wenn es gut lief, neben dem erwartbaren Sprechblasenwechsel auch noch den einen oder anderen unterhaltsamen Schlagabtausch.

Und gestern nach der Schicksalswahl? Nichts! Dabei hätte doch schon die Bremer Bürgerschaftswahl Anlass genug geboten. Das ZDF sendete um 19.30 Uhr lieber „Terra X – Der erste Freund des Menschen“. Im Ersten lief immerhin die Wahlsondersendung bis zur Tagesschau weiter. Es würde jetzt ja auch zunehmend spannender werden, denn nach und nach hätte es ja auch Ergebnisse aus den anderen EU-Ländern zu analysieren und zu diskutieren gegeben.

Schnulzen-England ohne Brexit

Ab 20 Uhr waren beispielsweise erste Ergebnisse aus Frankreich angekündigt. Darauf und auf die Reaktionen durfte man als Europäer am Tag einer Schicksalswahl doch wohl gespannt sein und als GEZ-Beitragszahler eine Befriedigung dieses Berichterstattungs-Bedürfnisses von ARD und ZDF erwarten. Doch was passierte? Das Erste verlängerte immerhin die Tagesschau um zehn Minuten, doch dann war vorerst Schluss. Die Programmverantwortlichen hatten für die nächsten eineinhalb Stunden Spannung im Tatort statt weitere Spannung am Wahlabend verordnet.

Auch im ZDF konnte man am Schicksalswahltag zunächst nichts Näheres zum Wahlsieg der Marine le Pen hören oder sehen, obwohl der kurz zuvor noch zum festen Bestandteil jedes Berichts über den drohenden demokratiegefährdenden Vormarsch der Rechten gehörte. Sollte der geneigte Prime-Time-Zuschauer durch Marines Siegesrufe nicht allzu sehr verunsichert werden? Oder war Madame le Pen plötzlich weniger gefährlich? Oder hatten die ZDF-Korrespondenten gerade keine interessanten Gesprächspartner gefunden?

Egal wie, statt sich mit Marine zu beschäftigen, zeigte das ZDF lieber eine anrührende Rosamunde-Pilcher-Geschichte aus dem beschaulichen Cornwall. Ein Schnulzen-England ohne Brexit – das ist doch mediale Entspannung an einem Schicksalswahltag. Eigentlich doch ein geradezu fürsorgliches Angebot.

Doch statt dies zu würdigen und zu genießen suchte so mancher Wahlberichterstattungsabhängige nach medialer Orientierung aus dem Gebührenfernsehen. Immerhin gibt es ja Phoenix. Allzu viele Stimmen aus Frankreich gab es hier zu dieser Stunde auch nicht, aber immerhin konnte man Marine le Pens Rede an ihr Volk mit Simultanübersetzung verfolgen. Die Kollegen von Phoenix gaben sich ja redlich Mühe, im Rahmen der Möglichkeiten auch fachkundige Einordnung zu liefern. Weite Strecken musste der Sender dennoch mit einem Studio-Gespräch eines Moderators mit zwei Experten füllen. Der „Ereigniskanal“ verfügt wahrscheinlich nicht über allzu üppige eigene Mittel und wird bei ARD und ZDF eher als Zweit- und Drittverwerter behandelt.

Doch auch als der Sondersendungsreigen am späteren Abend wieder einsetzte, waren Informationen in Form harter Fakten zwar vorhanden, aber recht spärlich, wenn man bedenkt, dass wir doch einen europäischen Schicksalswahlsonntag hinter uns hatten. Alle deutschen Sender hatten wochenlang ausgiebig erklärt, dass wir ein europäisches Bewusstsein entwickeln und über enge nationale Grenzen stets hinausdenken müssten.

Doch als es nun um Ergebnisse der Wahlen zum EU-Parlament ging, haben sie sich mit der provinziellen Bremen-Wahl und dem fulminanten Sieg der deutschen Grünen deutlich länger und intensiver beschäftigt, als mit allen Wahlresultaten in Polen, Ungarn, der Slowakei, Slowenien, Kroatien. Lettland, Estland, Spanien, Portugal, Bulgarien, Irland, Schweden, Finnland, Belgien – einschließlich der dortigen Parlamentswahl, Litauen – einschließlich der dortigen Präsidentenwahl oder Rumäniens – einschließlich des dortigen Referendums – zusammengenommen. Dass man Malta, Zypern oder Luxemburg auch als von Berufs wegen überzeugter Europäer für nicht ganz so wichtig hält, wie Bremen, könnte man ja noch ein bisschen verstehen.

Aber vielleicht sollten sich die Schicksalswahltag-Prediger in den öffentlich-rechtlichen Redaktionen an solche Missverhältnisse erinnern, wenn sie sich fragen, warum sie mit ihren großen Worten immer weniger ernst genommen werden. Im Spätsommer und Herbst gibt’s ja drei recht schwierige Landtagswahlen. Da sieht man sich wieder.

Dieser Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de

Foto: Anne-Sophie Ofrim GFDL via Wikimedia

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Leserpost

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Antonie Wester / 27.05.2019

Lieber Herr Jankowiak, ich finde insbesondere den letzten Teil Ihres Kommentars ziemlich unterirdisch und, verzeihen Sie’s mir, toxisch-maennlich!SO kommen wir auch nicht weiter, schliesslich haben wir nur den einen Planeten…..

Margit Broetz / 27.05.2019

Nachrichten erwarten? Kaum! Was ARD und “Bei uns reihern Sie in die ersten Sitze”-ZDF absondern, ist doch ohnehin Schlafgas! Besonders dreist aber dieser unlautere Grünen-Wahlkampf mit dem wahrscheinlich von einer Werbefirma gedrehten Fake-Vlogger-Video.

Sanne Weisner / 27.05.2019

Wenn man nicht Nettes fürs eigene Wunschpublikum zu senden hat, lässt man es eben weg. Und Wahlsiege für LePen, Salvini, Orban, PIS und die Brexit-Partei sind eben nicht das, womit man diese Klientel erfreuen kann.

sybille eden / 27.05.2019

Lieber Herr Reinhold Schmidt, der Mann heisst doch Karl Eduard von Kleber !

Friedrich Richter / 27.05.2019

Lebe seit beinahe zwanzig Jahren in Frankreich und beobachte mit zunehmendem Unverständnis und wachsender Fassungslosigkeit die wohllüstige Selbstdemontage Deutschlands, betrieben von grünen und roten Politikerdarstellern und unterstützt von einer regional unterschiedlich starken, jedoch nicht unbedeutenden Wählerschaft. Dank meiner ostdeutschen Vergangenheit kann ich mir auch die Folgen lebhaft vorstellen. Ich bin überzeugter denn je, damals die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Werner Arning / 27.05.2019

Es ging ja auch eigentlich immer nur darum, vor Rechtspopulisten zu warnen und den Bürger davon zu überzeugen, bloß nicht AfD zu wählen. Nun war die Wahl gelaufen. Nichts mehr zu „bewirken“. Also interessierte allenfalls noch der Wahlsieg der Grünen. Vor den kommenden Wahlen bekommen wir dann wieder das „volle Programm“. Die volle „Anti-AfD-Dröhnung“. Und in der Zeit davor dürfen wir „miterleben“, wie richtungsweisend doch die Grünen sind. Auch dabei gibt es die „volle Dröhnung“.

Paul Diehl / 27.05.2019

Ist ein bisschen wie im Ostfernsehen. Da wurde auch nur über die Siegeszüge des Kommunismus berichtet. Der Klimamumpitz und die EU als Fanfare der Freien Welt, dass ich nicht lache. Das ist doch alles Quatsch mit Sosse. Grimms-Märchen der Funktionseliten fürs Wahlvieh. Da passt der Romantik-Schmuh doch super dazu. Postfaktisch, postdemokratisch und sinnbefreit in der Simulationsdemokratie….auf zu neuen Ufern Narrenschiff Deutschland!

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