Rainer Bonhorst / 29.10.2020 / 11:00 / Foto: Rachel Malehorn / 32 / Seite ausdrucken

„Richter dienen dem Volk nur als Hüter der Verfassung.“

Diese Geschichte begann mit einem für die amerikanische Politik und womöglich auch für die amerikanische Gesellschaft folgenschweren Tod. Und er führte auch gleich zu heftigen Konflikten. Grund: Die Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg starb zu einem für die Demokraten besonders ungünstigen Zeitpunkt. Der Tod der hochangesehenen Juristin fiel gerade noch in die Amtszeit des republikanischen Präsidenten und gab Donald Trump die Chance, etwas zu tun, was jeder Präsident vor ihm auch getan hat: Er wählte eine Kandidatin nach seinem Herzen für die Nachfolge aus.

So kam es, dass zum Entsetzen der Demokraten ihre altgediente linksliberale Richterin dank der republikanischen Mehrheit im Senat von einer bekennenden Konservativen abgelöst wurde: Die 48-jährige Amy Coney Barrett sitzt jetzt auf dem Stuhl ihrer im Alter von 87 Jahren verstorbenen Vorgängerin. Wäre Ruth Bader Ginsburg nicht am 18. September gestorben, sondern nach der Präsidentschaftswahl am 3. November, die Demokraten hätten im Falle eines Wahlsieges das Gleiche getan wie Donald Trump: Sie hätten eine oberste Richterin nach ihrem Herzen ausgesucht. Mit anderen Worten: Der Streit um Amy Coney Barrett hat den im Grunde zynischen Hintergrund, dass es in erster Linie um das „Timing“ ging.

Da Amerikas Verfassungsrichter auf Lebenszeit gewählt werden, spielt der Tod eines Richters oder einer Richterin in der US-Politik eine entscheidende und – so ist der Gevatter nun mal – unberechenbare Rolle. Eine ebenso wichtige Rolle spielt die Lebenserwartung eines Richters: Amy Coney Barrett ist 48 Jahre jung und hat beste Aussichten, viele, die sich jetzt über sie freuen oder empören, im Amt zu überleben. Sie ist die jüngste der inzwischen sechs als konservativ geltenden Richter und Richterinnen im neun Personen starken Supreme Court.

„Richter dienen dem Volk nur als Hüter der Verfassung“

Dieses Kräfteverhältnis ist dadurch entstanden, dass der politische und medizinische Zufall den republikanischen Präsidenten öfter die Chance eröffnete, einen obersten Richter zu nominieren als den Demokraten. Bill Clinton konnte nur einmal, Barack Obama immerhin zweimal, den Republikanern George W. Bush und Donald Trump hingegen bot das Schicksal je dreimal die Gelegenheit, den Verfassungsgerichtshof zu prägen.

Soweit das politische Farbenspiel. Die Frage ist: Welche Rolle spielt die Politik überhaupt in diesem höchsten Gremium der Verfassungshüter? Was bedeutet es, dass eine konservative und fromme Katholikin wie Amy Coney Barrett nun die schwarze Robe trägt? Ihre eigene Aussage: Es bedeutet gar nichts. Sie versteht sich als eine Richterin ohne gesellschaftspolitische Agenda. Sie sieht ihre „konservative“ Aufgabe darin, in juristischen, auch gesellschaftspolitisch relevanten Streitfragen ausschließlich die Verfassung in dem Sinne zu interpretieren, wie sie geschrieben steht. Also ohne Rücksicht auf zeitgeistige Entwicklungen. Und ohne Rücksicht auf ihre persönlichen Überzeugungen.

Diese Position hat sie bei ihrer Vereidigung so formuliert: „Es ist die Aufgabe der gewählten Volksvertreter, politische Entscheidungen zu treffen. Richter sind nicht vom Volk gewählt und dienen dem Volk nur als Hüter der Verfassung.“ Diese Haltung hatte sie schon eindrucksvoll bei ihrem Anhörungs-Marathon im Senat als eine Art Mantra stets wiederholt. Die 48 demokratischen Senatoren, die ihr im Gegensatz zu den 52 republikanischen Senatoren ihre Stimme verweigerten, haben gar nicht erst versucht, dieser herausragenden Juristin fachlich beizukommen. Sie konzentrierten sich darauf, Amy Coney Barrett politisch zu kritisieren und hier und da auch zu diffamieren.

Doch die politischen Fragen prallten an ihr ab. Sie nennt sich eine Originalistin ohne politische Agenda. Und gerade das weckt bei den Demokraten die Furcht, dass sie in wichtigen gesellschaftlichen Fragen, vom Recht auf Abtreibung, von der Rolle der Religion und im Bereich der Bürgerrechte, erzielte Fortschritte infrage stellen wird.  Demokraten wünschen sich Richter, die den Verfassungstext aktiver und mit stärkerem Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen interpretieren. Aktivisten also. Und die sind auf absehbare Zeit in der Minderheit.

Die Drohung, das Verfassungsgericht einfach zu vergrößern

Es geht also um die wichtige Frage: Sollten Richter eine politische Agenda haben, sollten sie Aufgaben der Politik an sich ziehen oder sollten sie sich streng und „konservativ“ auf ihre Rolle als Interpreten des Rechts, in diesem Fall der Verfassung beschränken? Das kann für den politischen Alltag der Amerikaner gravierende Folgen haben.

Als Beispiel sei hier nur das Thema Abtreibung genannt. In den USA sind Abtreibungen seit 1973 (Wade vs. Roe) erlaubt, notfalls bis zum sechsten Monat der Schwangerschaft. Vor allem diese späten Abtreibungen schon weit entwickelter Föten treibt die amerikanische, meist religiös motivierte Pro-Life-Bewegung auf die Barrikaden gegen die Pro-Choice-Bewegung. Inzwischen haben mehrere Bundesstaaten ihre eigenen Gesetze erlassen, um das liberale Abtreibungsrecht einzuschränken. Der Konflikt schwelt weiter und wird früher oder später wieder vor das Bundesverfassungsgericht getragen. Wie wird Amy Coney Barrett entscheiden? Sie ist eine fromme Abtreibungsgegnerin. Aber ihre persönliche Moral wird, sagt sie, bei der Interpretation der Verfassung keine Rolle spielen.

Die konservativen Politiker hoffen trotzdem, dass die neue, junge Richterin letzten Endes doch in ihrem Sinn entscheiden wird. Die Demokraten fürchten genau das. Die Erfahrung wiederum zeigt etwas weniger Eindeutiges: Verfassungsrichter sind, sobald sie ihren Platz eingenommen haben, völlig frei von politischen Einflüssen. Oft zur bitteren Enttäuschung der Präsidenten, die sie nominiert haben. Das gilt für beide, republikanische und demokratische Präsidenten. Sobald sie ihre Entscheidung getroffen haben, ist ihr Adoptivkind gänzlich unabhängig und geht seiner oder ihrer eigenen Wege. Wohin sie führen, zeigt sich erst mit der Zeit.

Im übrigen: Sollte Donald Trump im November die Wahl gewinnen, war die ganze Aufregung umsonst. Gewinnt Joe Biden, stellt sich die Frage, was können die Demokraten dann tun? Im Raum steht ihre Drohung, das Verfassungsgericht einfach zu vergrößern und die Balance mit zusätzlichen Liberalen zu verändern. Das wäre allerdings ein noch stärkerer Verstoß gegen die guten Sitten als den, den sie Trump vorwerfen. Nämlich dass er auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes noch schnell seine Richterin platziert hat. Hätte ein demokratischer Präsident an seiner Stelle höflich gewartet, bis die anderen ablösen? Das darf zumindest bezweifelt werden.   

Foto: Rachel Malehorn CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

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Robert Jankowski / 29.10.2020

Es ist nicht so, dass ich Trump mag. Aber sich die geifernden und im Strahl kotzenden Hypermoralisten der Linken in den USA anzusehen, das macht schon Spaß. Und das ein Präsident für die Rechte der US Bürger eintritt und nicht für die Rechte möglicher Migranten, das wünsche ich mir leider seit Jahren vergeblich auch für Deutschland. Vier Jahre mehr, entgegen der gigantischen Propagandamaschinerie, die Hunter Bidens Laptopgate mal eben unter den Tisch fallen lässt, diese vier Jahre wären doch ganz gut für die USA. Und auch für uns.

Helmut Driesel / 29.10.2020

  Wer sich die amerikanische Verfassung gründlich anschaut, wird sehen, dass sie noch weniger konkret und zeitgemäß ist als die Bibel, Interpretation ist alles. Jeder Vergleich mit dem Grundgesetz ist unangebracht, obwohl auch das Mängel hat und manchmal weit entfernt von den logischen Zwängen der Rechtsprechung. Amerikanische Richter müssen ihre Verfassung nicht hüten und vor der Zersetzung durch Feinde bewahren - sie müssen sich ein von alledem unabhängiges Gewissen bewahren. Sie müssen im Recht leben wie ein Priester in der Theologie. Das stelle ich mir im Land der unbegrenzten Möglichkeiten außerordentlich schwer vor.

Fred Berger / 29.10.2020

Bei Mr. Trumps Glück (Sieg gegen Hillary against all odds, friendly fire der Iraner nach dem Auftragsmord an Souleimani, just in time-Ableben von RBG, Covid-19 überlebt) bekommt er vielleicht noch nen vierten Richter in den Supreme Court. Stephen Breyer ist 82 und wurde von Bill Clinton ernannt. Ich rechne damit, dass er die Wahl gewinnt. Beim Senat könnte es schon knapper werden. Aber wie gesagt, Mr. Trump ist ein Glückspilz.

Claudius Pappe / 29.10.2020

Was weiß ein evangelisch getaufter Mann schon vom Papst…...............................................

Claudius Pappe / 29.10.2020

Danke Frau Schönfelder: Ja, manchmal merkt man ( Herr Schmidt) das ich in der Volksschule unterrichtet wurde. In einem Raum, Schüler aus 4 Klassen ( nicht Nationen) ca. 20 Kinder , 3-5 aus einem Jahrgang. Beim Deutschunterricht habe ich den Geschichtsunterricht des anderen Jahrgang aufmerksam verfolgt….........Aber ansonsten Frau Schönfelder, ich bin fast immer ihrer Meinung.

Charles Brûler / 29.10.2020

Die Verfassung gibt ein Abtreibungsverbot oder eine Beschränkung nicht her. Leider. Dafür dürfen das Bundesgesetze tun. So isses nun mal. Es wäre wohl auch schwer zu regeln, in welchen Fällen dann doch eine Abtreibung erlaubt sein soll. Und es zeigt sich, dass man nicht alles per Verfassung regeln kann. In Deutschland ist es kein Problem, durch Einwanderung neue Wählerstimmen zu genenrieren

Fritz Fuchs / 29.10.2020

@Claudius Pappe / 29.10.2020—- >> Puhhhh mit 87 Jahren noch Verfassungsrichter << Alfred Thompson Denning, Baron Denning, OM (* 23. Januar 1899 in Whitchurch; † 5. März 1999 in Winchester) war der wohl einflussreichste englische Richter des 20. Jahrhunderts und Master of the Rolls. [Wikipedia] ♦ Denning wurde im Alter von 83 Jahren zum Rücktritt gedrängt und fügte sich. Andernfalls wäre er der englischen Justiz noch 17 weitere Jahre erhalten geblieben. Sein Beispiel ist der Grund, weshalb englische Oberrichter inzwischen auch beizeiten in den Rihestand geschickt werden. In Deutschland (BRD) sorgten schon die Kunstfehler Sauerbruchs für die mit 67 Jahren erfolgende Zwangspensionierung der Professoren.

Bernhard Büter / 29.10.2020

..sind das die Themen die Deutschland bewegen? Nein Nein Nein!!! Also Deutschland hat jetzt eigene Themen, wie 1989, die wichtiger sind. Diese sozialistische Regierung muss weg. Die Freiheit und der Verstand zurück. Und unsere Kinder? Gehen euch am A..h vorbei. Gute Nacht Deutschland

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