Der Berliner Chor verzichtet darauf, Händels Oratorium „Israel in Egypt“, wie ursprünglich geplant, am Neujahrstag aufzuführen. Angesichts der aktuellen Kriege auf der Welt sei das Werk mit seiner „kriegerischen und kämpferischen Atmosphäre“ nicht angemessen. Die neuerliche Manifestation einer Eiapopeia-Alles-gut-Weltumarmungsattitüde.
An den Weihnachtsfeiertagen und in der zuweilen etwas bleiernen Zeit „zwischen den Jahren“ zeigen die Fernsehanstalten traditionell Hollywoodschinken aus dem Themenkreis des Alten und Neuen Testaments, auch als „Sandalenfilme“ bekannt. Eigentlich ein Wunder, dass die kitschigen Monumentalstreifen noch nicht der Cancel Culture anheimgefallen sind, vor allem jene mit Charlton Heston in der Hauptrolle. Der einstige Anhänger Ronald Reagans, ein zweitrangiger Schauspieler wie Heston selbst, war bekennender Gegner politischer Korrektheit („lächerlich") und setzte sich als Präsident der National Rifle Association (NRA) für den freien Waffenbesitz ein. Mehr Feindbild für Wokeness-Jünger geht nicht.
Am bekanntesten ist Heston in der Rolle des „Ben Hur“ sowie als Moses in „Die zehn Gebote“ aus dem Jahre 1956. In der Gestalt des alttestamentarischen Propheten gelang ihm endgültig der Durchbruch in Hollywood. „Die zehn Gebote“ handelt von der ägyptischen Gefangenschaft der Hebräer und dem Auszug (Exodus) ins Gelobte Land, wobei Moses bei seinem Ringen mit den Ägyptern tatkräftig vom Jahwe unterstützt wird, dem Gott des Alten Testaments. Die Teilung des Roten Meeres zählt zu den eindrucksvollsten Trickszenen vordigitaler Zeiten. Während die Hebräer das Meer trockenen Fußes durchqueren können, lässt Jahwe die gewaltigen Wasserwände links und rechts des Weges über den nachsetzenden Ägyptern erbarmungslos zusammenbrechen.
Schon als Kind taten mir die Ägypter leid, die ich in ihren schimmernden Rüstungen auf eleganten Streitwagen viel attraktiver fand als die in Ochsenkarren dahinholpernden Hebräer und Moses im wollenen Büßergewand. Mir erschienen auch die zehn Plagen, mit denen Jahwe die Ägypter überzog, immer etwas unverhältnismäßig. Außerdem war Yul Brynner als Pharao Ramses II. ein deutlich besserer Schauspieler als der zu pathetischen Gesten und Grimassen neigende Heston mit seinem penetranten Blend-a-dent-Lächeln.
„Fanatismus, Antisemitismus und Hass“?
Der historisch auf wackeligen Beinen stehende Exodus-Mythos gehört zur Gründungsgeschichte Israels und des jüdischen Volkes und wird alljährlich an Pessach gefeiert. In seinem Oratorium „Israel in Egypt“ nahm sich der geniale Komponist Georg Friedrich Händel (1685–1759) des dramatischen Stoffes an, wobei das 1739 uraufgeführte Werk nicht zu seinen besten zählt. Es fehle ihm die dramatische Wucht und Stringenz und sei eher eine Aneinanderreihung von 42 Nummern, darunter allein 25 Chorsätzen, schreibt ein Musikkritiker.
„Der Zuspruch, den ,Israel in Egypt‘ heutzutage genießt, verdankt sich vor allem dem Umstand, dass Chöre aller Art darin sehr viel zu singen haben und dabei nicht überfordert werden.“
Trotzdem verzichtete der RIAS-Kammerchor aus Berlin jüngst darauf, das Werk, wie ursprünglich geplant, am Neujahrstag aufzuführen. „Die Welt ist in Unruhe“, hieß es zur Begründung der Programmänderung. In dem Oratorium gebe es „eine einseitige und alles erobernde Macht, die vor allem durch den Chor repräsentiert wird“. Und weiter: „Fanatismus, Antisemitismus und Hass haben noch nie zu friedlichem Zusammenleben beigetragen.“ Das 34-köpfige Profiensemble wurde 1948 als Rundfunkchor des damaligen Frontsenders RIAS gegründet und ist heute unter dem öffentlich-rechtlichen Dach der Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH Berlin (ROC) organisiert.
Nun durfte man rätseln, was die Sängerinnen und Sänger oder jene, die ihnen die Feder führten, damit gemeint haben können. Bei der „einseitigen und alles erobernden Macht“ kann es sich nur um Gott handeln. Aber was hat das mit Fanatismus und vor allem mit Antisemitismus zu tun? Unterstellen sie Händel, er habe in seinem Werk Hass verbreiten wollen? Oder wollten sich die Künstler für die „Ägypter“ in die Bresche schlagen, die sie vielleicht mit der muslimischen Welt identifizieren, obwohl es den Islam zur Zeit des Neuen Reiches am Nil bekanntermaßen noch nicht gegeben hat? Verbirgt sich hinter der Absage gar eine Kritik am militärischen Vorgehen Israels gegen die Hamas? Fragen über Fragen. Jedenfalls hatte der Chor, den zahlreichen negativen Reaktionen zufolge, ein veritables Eigentor geschossen.
Als „nicht angemessen“ empfunden
Und die nachgeschobene Erklärung, brav im gendergerechten Stil verfasst, macht es auch nicht viel besser.
„Mit dieser Programmänderung ist keine Kritik am Staat Israel oder Feindlichkeit gegenüber Jüdinnen*Juden verbunden. Wir verurteilen jede Form des Antisemitismus und insbesondere die brutalen und fortdauernden Angriffe der Hamas-Terroristen gegen Israel in aller Schärfe (…) Darüber hinaus empfinden wir tiefes Mitgefühl mit allen Opfern der kriegerischen Auseinandersetzungen unserer Zeit.“
„Nach langer Abwägung“ habe man es in Anbetracht der derzeit herrschenden Kriege auf der Welt als „nicht angemessen empfunden“, im Neujahrskonzert „ein Werk darzubieten, das sich durch eine kriegerische und kämpferische Atmosphäre auszeichnet und in dem zu Hunderten gestorben wird“. Der Neujahrstag symbolisiere für den Chor stattdessen einen Neuanfang und die Hoffnung auf ein besseres, friedvolleres Jahr. „Vor diesem Hintergrund haben wir uns dazu entschieden, ein Programm zu präsentieren, das mit Parrys „I was glad“ und Händels anlässlich des Utrechter Friedens komponiertem „Te Deum D-Dur“ die Bitte um Frieden in den Mittelpunkt stellt.“
Nun sollte man die Angelegenheit nicht so hoch hängen wie Matthias Loerbroks, Pfarrer i. R. der Evangelischen Kirchengemeinde in der Berliner Friedrichstadt, der vom Tagesspiegel mit einer religionswissenschaftlichen Analyse der Absage beauftragt worden war. Der RIAS-Kammerchor, so der Geistliche, habe sich entschieden, „ein grundlegendes Stück jüdischen Selbstverständnisses und jüdischer Hoffnung durch ein christliches Gebet zu ersetzen“. Er setze damit „eine verheerende Tradition fort: jahrhundertelang haben christliche Kirchen gelehrt, das jüdische Volk sei nicht mehr Volk Gottes, sondern in dieser Rolle durch die Kirche ersetzt worden. Dass der Chor sich vermutlich nicht bewusst in diese Tradition stellt, sondern reflexhaft, also unreflektiert, macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Weil es zeigt, wie ungebrochen wirksam diese Irrlehre ist.“
Irgendwo auf der Welt herrscht doch immer Unfrieden
Ich glaube nicht, dass hier wieder einmal, ob bewusst oder unbewusst, christlicher oder linker Antisemitismus sein Haupt erhoben hat. Es handelt sich bei der Programmänderung wohl eher um die neuerliche Manifestation einer Eiapopeia-Alles-gut-Weltumarmungsattitüde ohne tiefere Reflexion und ohne historisches Wissen nach Art von Annalena Baerbocks gefühlsbetonter Außenpolitik.
Wobei sich die Frage stellt, ob man in Zukunft überhaupt noch „kriegerische“ Werke oder solche, wo es auch um Gewalt geht, spielen darf, wo doch immer irgendwo auf der Welt Unfrieden herrscht. Vor allem Opern sind voll davon, manche handeln von nichts anderem. Und ohne die „alles erobernde Macht“, Gott genannt, gibt es keine Sakralmusik, auf die müsste man dann konsequenterweise auch verzichten. Das Leben stecke voller Gewalt, sagte der US-Schauspieler John Malkovich („Gefährliche Liebschaften“) in einem im März dieses Jahres erschienenen Interview der Süddeutschen Zeitung. Man solle „früh lernen, damit umzugehen“. Soll man das zynisch nennen oder einfach realistisch?
Warum eigentlich hat man sich nicht künstlerisch mit dem auseinandergesetzt, was die RIAS-Choristen offenbar bewegt? Warum hat man einfach wieder einmal nur feige gecancelt? Enoch zu Guttenberg beispielsweise hat in seiner auf CD leider unveröffentlichten Interpretation von Ludwig van Beethovens 9. Symphonie, die zum Standardrepertoire an Silvester und Neujahr gehört, keinen Zweifel daran gelassen, dass er deren Friedensbotschaft („Alle Menschen werden Brüder“) aufs tiefste misstraut – und sich dabei auf einer Linie mit dem Komponisten gesehen. Im Finalsatz mit seinen Jubelorgien feuerte Guttenberg den Chor an, den Ruf „Freude, Freude!“ geradezu panisch hinauszuschreien, während im Orchester, begleitet von Janitscharenmusik, das Schlachtgetümmel tobt.
Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik u.a. für die Süddeutsche Zeitung. Er schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss, und auf Achgut.com eine kulinarische Kolumne.