Von Jesko Matthes.
Die Begründer des Grundgesetzes haben sich mit Bedacht für die repräsentative Demokratie entschieden und gegen Direktwahlen einzelner Kandidaten, jedenfalls über jene zu den Direktmandaten des Bundestages hinaus. Sie entschieden sich auch für eine Begrenzung des Zugangs zum Parlament (leider aber nicht für eine Begrenzung seiner Sitze) durch die Fünfprozent-Klausel. Vor allem hatten sie dabei natürlich das Scheitern „Weimars“ im Auge, die Vermeidung der Parteienzersplitterung, das Ausschließen eines zu großen Einflusses von „Volksbewegungen“ auf einzelne ranghohe Kandidaten, konkret den Bundespräsidenten. Ebenso bewusst entschied man sich für eine Kanzlerdemokratie an Stelle einer Präsidialdemokratie.
Wer sieht, wie schnell und tiefgreifend manche Präsidialdemokratien autoritär entarten können, der wird ein funktionierendes System von „checks and balances“ zu schätzen wissen, auch wenn der angebliche oder tatsächliche Bürgerwille weniger schnell und intensiv nach oben durchgereicht werden kann – und umgekehrt.
Das setzt allerdings eines voraus: Ein funktionierendes Parlament. Dort sitzen die Repräsentanten des Staatsvolkes, seine Delegierten; auf der Regierungsbank sitzen sie alle erst sekundär.
Wer ist denn hier der Souverän?
Deshalb sollten Abgeordnete in ihrer Meinungsäußerung genauso frei und geschützt sein wie die Bürger selbst, und so etwas wie offene Abstimmungen oder „Fraktionszwang“ sollte nicht existieren. Es ist lächerlich, Abgeordneten weniger Freiheiten einzuräumen als sie den Bürgern selbst in ihren Grundrechten garantiert werden. Die Bürger haben ihre Souveränität ja bereits teilweise delegiert und können sie nur noch in Wahlen ausüben. Wollen wir am Ende also alle machtlos sein? Politische Entscheidungen sollten, je grundlegender und streitiger ihre Bedeutung, desto öfter und intensiver im Plenum diskutiert und dort frei und geheim abgestimmt und entschieden werden. Vorklärungen in Fraktionssitzungen und Ausschüssen, die nur die nächste delegative Zwischenschicht an absolut zentraler Stelle bedeuten, sollten sich auf das Notwendige beschränken. Wir sind hier an einer Stelle, die für die Bürger transparent sein muss und nicht opak sein darf. Das mag unangenehm sein für die Führung der Parteien, aber wer ist der grundgesetzlich garantierte Souverän? Die Parteichefs und Fraktionsvorsitzenden?
Je transparenter die Entscheidungsfindung ist, umso offener wird die Diskussion und umso mehr sind die Akteure zu guter Führung durch Überzeugungsarbeit verpflichtet. Den Amtsträgern soll dabei unbenommen bleiben, sich vorher in der Lobby und hinterher im Restaurant ihrer Wahl zu informellen Gesprächen zu treffen. Manchmal lässt sich eine im Plenum festgefahrene Situation dort besser lösen – das kennt man aus dem Alltag auch.
Ein angenehmer Nebeneffekt dabei wäre, dass das Verfolgen einer Sitzung des Bundestages per Radio oder Fernsehen wieder zu einem Ereignis würde, das diesen Namen auch verdiente - und viel mehr bedeutete, als das Durcheinanderreden von Politikern zweiten Ranges, selbsternannter oder sogenannter „Experten“ und NGO-B-Promis in Talkshows.
Der Fisch stinkt im Zentrum
Eine Demokratie ohne Parlamentarismus ist wie eine Kirche ohne Gottesdienst. Und ohne Gemeindeleben. Die Glieder einer solchen Gemeinde werden zu gelangweilten, distanzierten Karteileichen. Sie kritisieren die „Pfaffen“ und die „Pfaffen“ sie, doch die eine Kritik, jene in der Öffentlichkeit, erreicht die „Pfaffen“ als Adressaten ebenso wenig wie die andere, die von der Kanzel kommt und die Anwesenden zu Unrecht trifft, nicht die, die ohnehin immer zuhause bleiben.
Die wirkliche Spaltung der Gesellschaft hat also Gründe. Sie liegen nicht in der Gesellschaft. Publikumsbeschimpfung („Populismus!“) ist daher völlig inadäquat und sinnlos. Aber der Fisch stinkt auch nicht primär vom Kopfe her („Eliten!“) - er stinkt direkt aus seinem Zentrum. Dieses Zentrum ist und bleibt das Parlament. Man muss es stärken, indem man den einzelnen Parlamentarier stärkt, und zwar lange bevor die alten Ressentiments von der „Quatschbude“ und dem „Affenhaus“ wieder Raum greifen, also schleunigst.
Noch vor allen anderen Reformen, auch jenen, auf die die Eurokraten nun „plötzlich“ kommen, braucht Deutschland dringend eine Reform seines eigenen Parlamentarismus.
Es ist ein Jammer, im Grunde sogar eine Schande, dass weder Joachim Gauck noch Norbert Lammert das zu ihrer Amtszeit deutlich gesagt haben oder es in der enormen Kürze der für sie bleibenden Zeit voraussichtlich noch tun werden, denn bei Gauck und Lammert gab und gibt es vage Indizien, dass sie Teile des Gesagten längst begriffen haben. Lammert gibt dabei durchaus erheiternde Empfehlungen für die Wahlkabine ab, ohne den Wählern zu sagen, wie sie diese in einer repräsentativen Demokratie, in der jeder mit jedem koalieren kann, umsetzen können – vor allem ohne Verlass auf die Freiheit ihrer Abgeordneten vom Fraktionszwang und ohne Transparenz in den Fraktionen und Ausschüssen. Gibt es also unter den Vertretern des Souveräns keine systemimmanente Kritik mehr?
Denn wenn sie erst einmal „draußen“ sind, dann ist Lammerts mögliches oder Gaucks in anderer Sache zugesagtes Engagement als „rüstige Rentner“ keinen Pfifferling wert.
Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.