Von Maxeiner & Miersch erschienen in DIE WELT vom 8.12.2006
Die britische Verhaltensforscherin Jane Goodall ist durch ihre Arbeit mit Schimpansen im tansanischen Gombe-Nationalpark weltberühmt geworden.
In einem Gespräch erzählte Sie uns einmal von ihrer Kindheit in bescheidenen Verhältnissen. Jane Goodall war ein glückliches Kind, aber es wurde ihr nichts geschenkt. Sie musste sich anstrengen, um ihre Träume zu verwirklichen. Etwas ersehnen, etwas dafür tun, es schließlich erreichen: Diese drei Dinge sind für Goodall der Stoff, aus dem das Glück entsteht.
Bedauerlicherweise wird der Abstand zwischen Wunsch und Erfüllung für viele heutige Kinder immer kürzer. Das gewünschte neue Fahrrad oder Computerspiel lässt dank großzügiger Eltern, Freunde oder Verwandter oft nicht lange auf sich warten. Doch wer Kindern allzu schnell gibt, nimmt ihnen auch etwas: Die Sehnsucht. Und das Gefühl, eine Sache aus eigener Kraft erreicht zu haben. Ein Jugendlicher, der sein neues Snowboard zumindest teilweise mit dem Verteilen von Wurfsendungen zusammengespart hat, schätzt den Wert seines Brettes ganz anders ein.
Und deshalb möchten wir als Väter hier ein ernsthaftes Wort an die Gewerkschaft Verdi richten. Die regt sich gerade darüber auf, dass ein Konkurrent der deutschen Post, für die Verteilung von Katalogen, Prospekten und Handzetteln Jugendliche ab 13 Jahren sucht. Die sollen dann den Ikea-Katalog oder Supermarkt-Prospekt in die Briefkästen stecken und können sich auf so einer drei Stunden-Tour zehn oder 15 Euro verdienen. Doch das will Verdi unbedingt verhindern. Man befürchtet, dass nach dem Ende des Briefmonopols 2008, auch reguläre Post auf diesem Wege zugestellt werden könnte. Wehret den Anfängen, also am besten gleich ganz weg mit der unlauteren und minderjährigen Konkurrenz: „Mit Arbeit von Kindern in Deutschland ein Zustellnetz aufzubauen, ist ein Skandal“.
Nun mal gemach, liebe Gewerkschaft: Erstens gibt es solche Verteilernetze doch längst. Maxeiner beispielsweise stolperte jahrelang im Hausflur über große Prospektstapel, die sein Filius dann nach und nach in die Haushalte der Umgebung beförderte. Es hat dem Spross des Hauses ausgesprochen gut getan. Der tarifliche Schutz der deutschen Briefzusteller sollte deshalb äußerst sorgfältig gegen die erheblichen pädagogischen Verdienste der Prospekt-Verteilungsbranche abgewogen werden.
So werden von den Firmen in hohem Masse Verlässlichkeit und Zeitplanung eingefordert - meist mit besseren Ergebnissen als in der Schule. Aber die bietet ja auch keine Aussicht auf fünf Euro in der Stunde - und die Erfüllung eines Wunsches, für den die ignoranten und vollverspießten Eltern partout nicht aufkommen wollen. Hinzu kommt die Wirkung frischer Luft und die automatische Heranführung an Maßstäbe. Wer sich einmal für fünf oder sechs Euro die Stunde die Haxen abgelaufen hat, hört bei den Fernsehnachrichten plötzlich ganz anders hin. Wird etwa eine Tariferhöhung von sieben Euro die Stunde auf sieben Euro fünfzig vermeldet, ist plötzlich klar, dass dies für viele Menschen eine wichtige Nachricht ist. Ergo: Wenn es die Prospekt-Verteilungsbranche nicht schon gäbe, müsste Sie aus erzieherischen Gründen erfunden werden. Verlässlichkeit, bessere Sozialkompetenz und mehr Selbstbewusstsein junger Menschen sind oft unbeabsichtigte Nebenwirkungen von Aushilfs- und Ferienjobs. Eltern, die ihren Kindern den vorübergehenden Aufenthalt im Niedriglohn-Sektor ersparen, tun ihnen damit höchstwahrscheinlich keinen Gefallen. Und Dienstleistungs-Gewerkschaften sollten bedenken, dass solche Dienste möglicherweise auch in ihrem Sinne sein könnten. Oder wollen Sie künftig mit Sozialzombies verhandeln, die ohne jemals eine einfache Arbeit kennen gelernt zu haben, vom Gymnasium über die Uni gleich in den ersten Spitzenjob durchgestartet sind? Ergo: Wir gehen ja noch halbwegs mit, wenn Kinder und Heranwachsende vor Zigarettenkonsum, Alko-Pops oder Sonnenbänken geschützt werden sollen. Aber bitte nicht vor Arbeit.