Jetzt ist er wirklich halbtot, der Literaturnobelpreis. Nicht vergeben wird er in diesem Jahr, „verschoben“ ist das Ganze wohl. Grund sind ausschließlich – wie auch immer geartete – Vorgänge und Verwerfungen im Vergabegremium. Auf diesem Forum wurde unlängst, angesichts der sich bereits abzeichnenden Entwicklung, ein Ende einer schon länger ausgemachten „Agonie“ des weitegehend als höchste literarische Auszeichnung schlechthin akzeptierten Preises gefordert. Man solle das Ganze beenden und so wenigstens eine gute Erinnerung konservieren. Die dafür sprechenden Punkte wiegen durchaus schwer.
Dennoch: Widerspruch! Die Flamme hüten und nähren, nicht ersticken. Preise und Auszeichnungen werden dringend gebraucht. Sie dienen als Hervorhebungen, zur Markierung und Orientierung. Dies reicht mitunter weit über die (bürgerliche) Gesellschaft des eigenen Landes hinaus. Einige Festungen sollte man nicht schleifen, sondern vehement verteidigen. Vor allem, wenn sie, wie der Nobelpreis, eine unbestreitbar gute Tradition haben, trotz einiger Tiefpunkte. Es sei daran erinnert, dass jeweils der „größte Nutzen für die Menschheit“ ausgezeichnet werden soll. Der Superlativ ist wie fast alle Superlative problematisch, aber im Großen und Ganzen ist die Bilanz der Nobelpreise recht vorzeigenswert. Ähnlich weltweite Wertschätzung und daraus resultierendes weltweites Begehren dürfte bei anderen Preisen nur schwer zu finden sein. Und ebenso schwer zu ersetzen. Wahrscheinlich gar nicht.
Dass Auszeichnungen auch seltsame Wege gehen, ist nun wahrlich nicht neu. Man denke etwa daran, dass man das Bundesverdienstkreuz erhalten kann, wenn man sein Leben riskiert, um andere zu retten, sich in der ökumenischen Krankenhaushilfe engagiert oder aber als Bundestagsabgeordneter wartet, bis die verflixte Quote einem das Abzeichen nun endlich zuteilt. Der ursprünglich preußische Orden „Pour le Mérite“, dessen Friedensklasse („für Wissenschaften und Künste“) bis heute überlebt hat, musste sich schon immer die lästerliche Frage gefallen lassen: Wofür denn sonst, wenn nicht für Verdienst?!
Problematisches gibt es auch beim Nobelpreis. Bei den Naturwissenschaften sind beispielsweise die Arbeiten anderer, von denen die späteren Preisträger profitierten, nicht immer klar von ihren eigenen abzugrenzen. Man denke etwa an den Kernspalter Otto Hahn oder die DNS-Struktur-Entdecker James Watson und Francis Crick. Unverdient waren die Preise aber mit Sicherheit nicht.
Die Gefahr des Einebnens
Was Jassir Arafat mit Frieden zu tun hat, erschließt sich zwar ebenso wenig wie die Tatsache, warum ein klares „Yes we can“ anderweitig nahezu völlige Verdienstfreiheit aufzuwiegen in der Lage ist. Und man hofft, dass das deutsche Pendent („Wir schaffen das“) nicht ähnliche Preis-Effekte nach sich zieht… Jedoch: Die weit überwiegende, eher konsensgestützte Friedensnobelpreisträger-Seite – angefangen vom Rotkreuz-Begründer Henry Dunant, über den Weimarer Außenminister Gustav Stresemann und den Tropenarzt Albert Schweitzer bis hin zum Mikrofinanz-Protagonisten Muhammad Yunus – vermag das wohl kaum zu kratzen.
Ähnliches gilt für den Literaturbereich dieser Auszeichnung: Poltisches spielt seltsam hinein, wie der Totalausfall Heinrich Böll zeigt, auch die Themenwahl, etwa bei Herta Müller. Ein moralinsaurer Danziggeborener und -kenner hätte die Auszeichnung wohl kaum erhalten, wäre ein klitzekleines biographisches Detail früher ans Licht gekommen – obwohl das seinem literarischen Werk ja keinen Abbruch getan hätte. Warum Dario Fo 1997 die Auszeichnung erhielt, hat man nicht einmal in Italien so recht verstanden. Aber stehen nicht auch hier die kontrovers diskutierten Entscheidungen, zumal das Gelände im Bereich der Kunst und Ästhetik noch viel verminter ist als anderswo, in keinem Verhältnis zum kanonkonstituierenden Verdienst der Heraushebung durch eine Einladung ins dezemberliche Stockholm? Ein großer Historiograph wie Theodor Mommsen bekam den Nobelpreis, ein anderer Geschichtsschreiber – Winston Churchill – vielleicht eher, weil die Kategorie „Frieden“ 1953 noch nicht ganz so weitherzig vergeben wurde wie später. Die Liste der Spitzenliteraten zieren nicht nur Thomas Mann, Boris Pasternak (der sowjetbedingt allerdings nicht in den Genuss einer Schwedenreise kam), Ernest Hemingway, Elias Canetti, William Golding, Halldór Laxness oder Alice Munro. Der schwedische Dichter Tomas Tranströmer mag bis zur Preisvergabe zumindest außerhalb seiner Heimat eher ein Geheimtipp gewesen sein. Der Preis kann aber durchaus auch die Funktion erfüllen, bislang weniger Beachtetes auf das Tableau zu heben.
Zerstörung geht wesentlich schneller als Aufbau. Dieser Satz ist mit Sicherheit nicht nobelpreiswürdig. Es ist eine Plattitüde, bedauerlicherweise mit dem üblichen hundertprozentigen Wahrheitsgehalt des Gemeinplatzes. Die Nichtvergabe oder Verschiebung des Literaturnobelpreises für 2018 ist ein wesentlicher Beitrag zur Zerstörung einer großartigen Institution. „Broken-Windows“-Assoziationen drängen sich geradezu auf. Der Grund für die Absage ist nichtig. Als ob sich – notfalls – kein anderes qualifiziertes und weitgehend akzeptiertes Gremium für die Auswahl eines herauszuhebenden Literaten zusammenstelle ließe!
Über die Orientierung gebenden Entscheidungen darf man streiten. Man mag jubeln oder sie verwerfen. Aber die Wegmarken sollten errichtet werden. Verdienste zu belohnen, auch materiell, ist nicht unbedingt falsch. Der Versuch, zu ordnen und Stabilität zu schaffen, ist noch viel weniger falsch. Einebnen des Hergebrachten hingegen mitunter schon.