Vor knapp fünf Jahren wunderte sich ein Bad Godesberger Wirt über sprunghaft erhöhten Umsatz im Produktbereich Perlwein. Die älteren Frauen, die sich in seiner Lokalität abends nach dem Sport zusammenfanden, spendierten kurzzeitig reihum Sektrunden und prosteten einander kichernd zu: „Auf die Mütterrente!“
Meine Mutter, die mir Mitte 2014 von der neuen Godesberger Glückstrunkenheit berichtete, ist nicht reich. Und nicht arm. Sie kommt mit der Hinterbliebenenrente meines sozialverträglich frühverstorbenen Vaters zurecht, auch wenn genau überlegt sein will, was man sich leistet und was nicht. Ihre Freundinnen sind ebenfalls nicht bedürftig. Im Gegenteil. Da gibt es nicht wenige Beamtenwitwen, Architektengattinnen und Erbinnen, die finanziell ziemlich breit aufgestellt sind.
Eines haben die Godesberger Damen gemeinsam: Sie brauchten die Mütterrente nicht. Natürlich, sie haben sie gerne mitgenommen, was auch sonst. Gleichzeitig machten sie sich über Politiker lustig, die glaubten, sie könnten mit den Rentenpunkten bei ihnen punkten. Seitdem steht die Mütterrente exemplarisch für eine Politik, die soziale Wohltaten nicht zielgenau und effizient, sondern mit breitem Sprühstrahl übers Wahlvolk ergießt.
Die neuen Heilsversprechen
Jetzt, da Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil seine Vorstellungen von einer „Respekt-Rente“ kundgetan hat, wird diese gerne mit der Mütterrente von 2014 verglichen. Klar, die Heilschen Heilsversprechen sind offensichtlich Banane und Gießkannenpolitik par excellence. Die SPD versucht damit allzu krampfhaft und durchschaubar, ihre politische Nahtoderfahrung zu überwinden und Pflöcke für die anstehenden Wahlkämpfe zu setzen. Man will „Hartz IV überwinden“ und sich als Rächer der Enterbten positionieren. Viele nehmen die SPD-Rentenpläne deshalb nicht richtig ernst. Die Union werde das niemals mitmachen, heißt es, außerdem sei doch im Koalitionsvertrag etwas anderes vereinbart.
Das könnte sich als fatale Fehleinschätzung erweisen. Gerade in der Sozialpolitik beweist die Praxis der letzten Jahre: Wenn zwei sich streiten, machen sie am Ende beides, egal wie schädlich es für das Gemeinwesen auch sein mag. Deswegen ist ein genauer Blick auf die aktuell diskutierte Rentenreform angeraten. Und auf frühere Reformen und Reförmchen, speziell die Mütterrente. An ihr zeigt sich beispielhaft, was passiert, wenn man ohne Sinn und Verstand an einem funktionierenden System herumschraubt. Und wieviel schlimmer es noch kommen kann, wenn Hubertus Heil sich durchsetzt.
Um dieses System und seine Grundlagen zu verstehen, müssen wir ein bisschen ausholen. Unser Rentensystem ist nämlich im Prinzip von geradezu bestechender Transparenz und Klarheit. Ich bin versucht, von Eleganz zu sprechen.
Umlage statt umlegen
Klären wir zunächst die Systemfrage. Hierzulande praktizieren wir das sogenannte Umlageverfahren. Die, die aktuell arbeiten und erwirtschaften, müssen einen Teil ihrer sauer verdienten Erträge abgeben, um Alte durchzufüttern. Das kann man seltsam finden und fragen: Warum haben die Alten nicht selbst während ihrer Blütejahre für die Zeit des elenden Siechens vorgesorgt? Das wäre, systemisch gesehen, das sogenannte Kapitaldeckungsverfahren. Jeder spart ein Vermögenspolster an, das er später im Ruhestand in Ruhe aufzehrt, ohne die produktive Generation mit aufgehaltener Hand und Mimimi zu nerven.
Kann man machen, wird auch in diversen Ländern so gemacht. Allerdings hatten die Deutschen bei der Systemwahl keine echte Wahl. Das lag an dem einen oder anderen Weltkrieg, den sie nicht nur angezettelt, sondern zu allem Überfluss auch noch verloren hatten. Weltkriege sind das, was man heute disruptive Ereignisse nennt. Wie die Erfindung der Dampfmaschine oder des iPhones. Bei disruptiven Ereignissen kann man, generell gesehen, viel gewinnen. Wie Apple. Oder viel verlieren. Wie Nokia. Und wie Deutschland, bezogen auf die Weltkriegssache.
Verloren hatte damals nicht nur Deutschland, verloren hatten auch die Deutschen, in vielen Fällen sogar alles. Nach dem Krieg gab es deshalb wenig Spielraum in der Rentenpolitik. Gut, man hätte die Alten zum stillen Ableben in den Wald schicken können. Dieser rustikale Ansatz hat prominente Fürsprecher, auch heute noch. Der japanische Finanzminister Taro Aso forderte seine pflegebedürftigen Landsleute 2013 zum schnelleren Sterben auf, um die Sozialkassen zu entlasten.
Die Deutschen entschieden sich für Umlage statt umlegen. Die Beseitigung unproduktiver Lebensformen war nach dem Ende der tausendjährigen Herrscher nicht mehr so richtig en vogue.
Punkte für Lebensleistung
So kommt es, dass der arbeitende Deutsche für die aktuell Alten zahlt und nicht fürs eigene Alter. Er spart in der Rentenversicherung kein Geld an, sondern eine Anwartschaft in Form von Punkten. Das funktioniert so: Für jedes Kalenderjahr berechnet das Statistische Bundesamt das sozialversicherungspflichtige Durchschnittsentgelt. Erfasst werden dabei nur die, die in die Rentenkasse einzahlen, also Angestellte, nicht Beamte oder Selbstständige.
Wer mit seinem Jahresgehalt exakt den Durchschnitt trifft, bekommt einen Punkt auf seinem Rentenkonto gutgeschrieben. Wer darüber oder darunter liegt, kriegt entsprechend mehr oder weniger anteilige Punkte. Wer nur die Hälfte des Durchschnitts erwirtschaftet hat, erhält 0,5 Punkte fürs aktuelle Jahr, wer das Anderthalbfache erzielt hat, darf sich über 1,5 Punkte freuen. Am Ende eines Arbeitslebens zählt die Rentenversicherung alle Jahrespunkte zusammen.
Wer also zum Beispiel 45 Jahre lang das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten erzielt hat, findet auf seinem Konto bei der Rentenversicherung 45 Punkte. Was das an staatlicher Rente ausmacht, ist kinderleicht auszurechnen: 45 Entgeltpunkte multipliziert mit dem aktuellen „Rentenwert“. Der wird jedes Jahr angepasst und beträgt derzeit 32,03 Euro in den gebrauchten Bundesländern und 30,69 Euro in den neuen.
In unserem Beispiel beträgt die Altersrente (West) des Durchschnittsverdieners aktuell also 45 Punkte x 32,03 Euro = rund 1.440 Euro pro Monat. Wer halb so viel gearbeitet hat (oder für seine volle Arbeit nur halb so viel bekommen hat), erhält nur die Hälfte als Rente: 720 Euro. Das kann man viel oder wenig finden. In jedem Fall ist das System transparent und nachvollziehbar. Wer mehr eingezahlt hat, bekommt mehr, wer weniger eingezahlt hat, bekommt entsprechend weniger. Das nennt man Äquivalenzprinzip.
Von harten zu weichen Kriterien
Dass der Staat auf diese Weise allein Lebensleistung honoriert, die unmittelbar finanziell zu beziffern ist, wurde irgendwann als ungerecht empfunden. Deshalb begann man, auch für nicht in Heller und Cent umrechenbare Leistungen Rentenpunkte zu vergeben. Zum Beispiel für Wehrdienst, Berufsausbildung, Studium, Kindererziehung oder die Pflege naher Angehöriger.
Der Übergang von harten zu weichen Kriterien birgt Risiken. Das gilt für viele Lebensbereiche, auch für die Zuteilung von Rentenpunkten. Der versorgungswütige Sozialstaat kann sich dabei mächtig vergaloppieren. Ein herausragendes Beispiel ist, dass ab 2005 sogar Zeiten mit Hartz-IV-Bezug als rentenrelevant zu honorierende Lebensleistung galten. Es dauerte ganze fünf Jahre, bis die Regierung zur Besinnung kam und diesen Dummfug revidierte.
Auch sonst gab es ein ständiges Vor und Zurück in der Rentenpolitik. Die Anerkennung von Schul- und Studienzeiten wurde wieder abgeschafft, außerdem eine Mindestversicherungszeit von fünf Jahren eingeführt. Wer weniger aufweisen kann, kriegt nun gar keine Rente mehr, obwohl er möglicherweise nicht unerheblich eingezahlt hat. Das ist nicht unbedingt gerecht. Aber so ist es halt, wenn Sozialträume von der Realität, sprich Finanzierbarkeit, eingeholt werden.
1992: Das Tolle-Mütter-Gesetz
Kommen wir zurück zur Mütterrente. Die wurde zwar erst 2014 so getauft, aber es gibt sie tatsächlich viel länger. Bereits vor 1992 erhielten Mütter einen vollen Rentenpunkt pro Kind als „Erziehungsjahr“ gutgeschrieben. Die Aufzucht zukünftiger Rentenzahler war also gleichgesetzt mit dem Erwirtschaften eines Jahres-Durchschnittsentgelts durch einen Angestellten.
Die Anfang der neunziger Jahre regierende schwarz-gelbe Koalition mit Arbeitsminister Norbert Blüm empfand die mütterliche Erziehungsleistung als nicht angemessen gewürdigt. Man entschied sich daher zu einem großen Schritt. Auf einen Schlag verdreifachte die Regierung die sozialpolitische Anerkennung der Nachwuchsbetreuung. Ab 1. Januar 1992 gab es pro Kind satte drei Rentenpunkte für die Mutter statt einem. Bam!
Was für ein Wurf. Nach heutigen Maßstäben hätte man die Regelung wohl das „Tolle-Mütter-Gesetz“ genannt. Es war in zweifacher Hinsicht beeindruckend. Erstens zeigte man der Wählerschaft, wie modern die angeblich rückständigen Konservativen waren. Zweitens kostete das kraftvolle Bekenntnis zur Hochschätzung weiblicher Lebensleistung exakt nichts. Jedenfalls auf lange Zeit nicht. Eine klassisches politisches Win-win.
Damit die Rentenkasse nicht sofort explodiert, ließ man nämlich der Einfachheit halber die „Bestandsmütter“ außen vor. Nur für nach dem 1. Januar 1992 geborene Kinder sollten die Erziehenden (Mutter oder Vater) pro Kind jeweils drei Rentenpunkte gutgeschrieben bekommen. Das nüchterne Kalkül hinter dieser Einschränkung: Mütter, die ab 1992 Nachwuchs bekamen, waren im ungünstigsten Fall Anfang bis Mitte 40. Es würde also noch locker ein Vierteljahrhundert dauern, bis die ersten von ihnen das Rentenalter erreichen und das Punktegeschenk von 1992 die Kasse belastet.
2014: Ein bisschen Reparatur
21 Jahre später, kurz vor den praktischen Auswirkungen der überaus großzügigen Rentengabe von 1992, brachte die CSU das Thema im Wahlkampf 2013 wieder ins Gespräch. Es war schließlich unbestreitbar eine krasse Ungerechtigkeit, dass bald Mütter in Rente gehen würden, die dreimal soviel für ihre Kinder kassieren wie bisherige Rentnerinnen. Die Union setzte daher 2014 durch, dass die Mütter mit vor 1992 geborenen Kindern wenigstens zwei statt einem Rentenpunkt pro Kind erhalten.
Zu einer echten Gleichstellung der Altmütter konnte man sich nicht durchringen, vor allem aus finanziellen Gründen. Bereits der eine neue Mütterpunkt belastete die Kasse mit rund sechs Milliarden Euro pro Jahr. Diese Anpassung ging als „Mütterrente“ in die Sozialgeschichte ein, obwohl es die Anerkennung von Erziehungszeiten, wie gesagt, seit Jahrzehnten gab.
Die sogenannte Mütterrente von 2014 war also keine beliebige Gießkannenaktion, sondern die Abmilderung einer Gerechtigkeitslücke, die die Union 1992 selbst erzeugt hatte. Natürlich hätte man auch volle Gerechtigkeit schaffen können, indem man alle Mütter mit zwei Rentenpunkten pro Kind gleichstellt. Aber dazu hätten CDU und CSU zugeben müssen, dass sie 1992 Mist gebaut hatten. Das ließ man lieber sein.
2019: Beinahe Kinder in drei Wertstufen
Seit einem knappen Jahr bastelt nun ein neuer Arbeits- und Sozialminister an der Rente herum. SPD-Mann Hubertus Heil setzte als erstes die im Koalitionsvertrag vereinbarte „Mütterrente 2“ um, die zum Jahresbeginn 2019 in Kraft trat. Vorgesehen war noch im Gesetzentwurf, Müttern, deren Kinder vor 1992 geboren sind, nun einen halben Rentenpunkt mehr pro Kind gutzuschreiben – aber nur den Müttern, die mindestens drei Kinder großgezogen haben.
Die Folge wäre Nachwuchs in drei Preiskategorien gewesen. Ein Kind, das vor 1992 geboren ist, wäre nach wie vor nur zwei Rentenpunkte wert. Es brächte der Mutter also nach heutigem Stand in runden Zahlen 2 x 32 = 64 Euro Rentenaufschlag (West) pro Monat. Falls dieses Kind noch mehrere Geschwister hat, wäre es 2,5 Punkte wert. Macht für die Mutter 80 Euro pro Monat pro Kind. Und ein Kind, das nach dem 1.1.1992 geboren ist, trägt der Mutter drei Rentenpunkte ein, also 96 Euro pro Monat. Aufs Jahr gerechnet, hätte die Differenz bis zu fast 400 Euro betragen, je Kind wohlgemerkt.
Wenigstens dieser zusätzliche Nonsense wurde auf den letzten Metern des Gesetzgebungsverfahrens korrigiert. Nun erhalten Mütter mit vor 1992 geborenen Kindern doch für jedes Kind einen halben Punkt Zuschlag. Ein Abstand zu den ab 1.1.1992 geborenen Kindern bleibt weiterhin bestehen. Inhaltlich ist dieser Unterschied nicht zu rechtfertigen, er ist einfach der Historie geschuldet. Das Äquivalenzprinzip, die gleiche Anerkennung gleicher Leistung, wird nicht eingehalten. So zeigt die Mütterrente exemplarisch, wie durch planloses Herumschrauben an der grundsätzlich gut konzipierten Rentenmaschine Ungerechtigkeiten entstehen.
Respekt statt Bedürftigkeit
Stichwort Ungerechtigkeit: Damit wären wir bei der Grundrente oder, wie Hubertus Heil sie gerne nennen möchte, Respekt-Rente.
Im Koalitionsvertrag vom März 2018 hatten sich Union und SPD auf folgende Regelung verständigt (Seite 92): „Die Lebensleistung von Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben, soll honoriert und ihnen ein regelmäßiges Alterseinkommen zehn Prozent oberhalb des Grundsicherungsbedarfs zugesichert werden. Die Grundrente gilt für bestehende und zukünftige Grundsicherungsbezieher, die 35 Jahre an Beitragszeiten oder Zeiten der Kindererziehung bzw. Pflegezeiten aufweisen. Voraussetzung für den Bezug der Grundrente ist eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung.“
Über den entscheidenden letzten Satz setzte sich Hubertus Heil kurzerhand hinweg. Nach SPD-Vorstellungen soll nun jeder, der 35 rentenrelevante Jahre vorweisen kann, die Grundrente erhalten, egal ob bedürftig oder nicht. Bis zu 441 Euro pro Monat soll der Aufschlag auf die selbst erworbenen Rentenansprüche betragen. Heils vielzitiertes Beispiel ist eine fiktive Friseurin, die nach 40 Jahren Mindestlohn mit der Respekt-Rente auf 961 Euro käme statt nur auf 514 Euro selbst erarbeitete Rente – unabhängig davon, ob sie mit einem wohlversorgten Beamten verheiratet ist oder eine Erbschaft im Rücken hat oder beides.
Heil-Rente hebelt das System aus
Die Konsequenzen des Verzichts auf die Bedürftigkeitsprüfung sind erheblich. Heil selbst erklärte, dass es höchstens rund 330.000 Bedürftige gibt, die die Bedingungen für die Grundrente erfüllen. Ohne Bedürftigkeitsprüfung wird die Zielgruppe mehr als zehnmal so groß. Bis zu vier Millionen Menschen werden nach Schätzungen des Arbeitsministers von seiner Respekt-Rente profitieren – über 90 Prozent davon ohne Not. Den „mittleren einstelligen Milliardenbetrag“, den Heil dafür ansetzt, hält der Rentenexperte Bernd Raffelhüschen für viel zu niedrig. Er geht davon aus, dass „mit Sicherheit mehr als zehn Milliarden Euro an Loch dazukommen – jährlich“.
„Können wir uns das leisten?“ fragte daher die Phoenix-Runde zum Thema. Eigentlich hätte die Frage lauten müssen: „Selbst wenn wir könnten – sollen wir uns das leisten?“ Denn nicht einmal zwischen Teilzeit- und Vollzeitarbeit soll unterschieden werden. Jemand, der 35 Jahre in Teilzeit jobbte, kommt nach den Heil-Plänen in den Genuss der Respekt-Rente, jemand der in 17,5 Jahren Vollzeit eine gleich hohe Rentenanwartschaft erworben hat, schaut in die Röhre – genau wie jemand, der sich in 30 oder 34 Jahren eine noch viel höhere Anwartschaft erarbeitet hat. Das Äquivalenzprinzip würde komplett ausgehebelt.
Zu den eingebauten Ungerechtigkeiten kommt noch etwas anderes: Mit einem solchen Gesetz würden sich ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten bei der Rentenoptimierung auftun. Plötzlich könnte es sich zum Beispiel für Selbstständige lohnen, die Ehefrau pro forma für einige Jahre in Teilzeit anzustellen, um die Voraussetzungen für die Respekt-Rente vollzumachen.
Gaga-Argumente ohne Ende
Auf die vielen Widersprüche und Unzulänglichkeiten der Heil-Rente angesprochen, führen die Befürworter die abstrusesten Argumente ins Feld. Menschen, die lange Jahre gearbeitet haben, könne man keine Bedürftigkeitsprüfung zumuten, heißt es da zum Beispiel. Aus Sicht eines Selbstständigen, der sich bei der Steuererklärung jährlich einmal komplett nackig machen muss, damit das Finanzamt keinen Cent übersieht, klingt das einigermaßen lächerlich. Oder, anderes Argument: Viele alte Menschen würden die Grundsicherung nicht in Anspruch nehmen, weil sie sich schämten. Mit dieser Begründung kann man auch gleich ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle fordern, damit dem sensiblen Hartzer der Gang zum Amt erspart wird.
Den Vogel schoss Marcel Fratzscher ab, ökonomischer Hoflieferant der SPD. Der Volkswirtschafts-Professor verstieg sich in der oben erwähnten Phoenix-Runde allen Ernstes zu folgender Argumentation: Eine erhöhte Grundrente solle schon deswegen her, weil sie wirtschaftlich Schwache betreffe. Die hätten nun mal nach allen Untersuchungen eine geringere Lebenserwartung, eine höhere Rente sei da nur gerecht.
Da tun sich ganz neue Perspektiven für eine Reform des Rentenwesens auf. Nach Fratzscher-Logik müssten fettleibige, rauchende Männer in Zukunft mindestens dreimal so hohe Altersbezüge erhalten wie schlanke, gesundheitsbewusste Frauen. Die leben ja viel länger.
Wo bleibt der Respekt für mich?
Hubertus Heil selbst steigerte sich zur Ablenkung von den eklatanten Schwächen seines Konzepts lieber in die überdrehte Lobpreisung rententechnischer Mindereinzahler. Der Lagerarbeiter, die Friseurin, der Paketbote und (natürlich) die obligatorische Krankenschwester – sie sind die eigentlichen „Leistungsträger, die dieses Land zusammenhalten“, so Heil. Mantraartig hämmerte er den Zuschauern bei Illner und bei Plasberg ein, dass die „Lebensleistung“ dieser „fleißigen Leute“, die „ein ganzes Leben lang“ oder „ein Lebtag“ „hart gearbeitet“, „richtig geschuftet“, gar „malocht“ haben, unbedingt einer Extrahonorierung per Zusatzrente bedürfe. Und immer wieder „Respekt“ und „Anerkennung von Lebensleistung“.
Dass 35 Jahre bisher nach allgemeinem Verständnis nicht als umfassende Lebensarbeitszeit galten, schon gar nicht bei Teilzeittätigkeit, unterschlug der Minister.
Mich inspirierten die Heil-Botschaften trotzdem. Plötzlich fragte ich mich: Was ist eigentlich mit mir? Gut, abgesehen von Wehrdienst und einer kurzen Angestelltenzeit in einem Nebenjob während des Studiums kann ich bei der Rentenkasse nicht viel vorweisen. Den Rest meines Lebens habe ich mich als Selbstständiger durchgeschlagen. Aber wenn es nun gar nicht mehr um die Höhe der Einzahlung geht – steht mir da nicht auch eine staatliche Anerkennung in Form von Respekt-Rente zu, natürlich ebenfalls ohne Bedürftigkeitsprüfung? Was ist mit meiner Lebensleistung? Ich habe ein Unternehmen aufgebaut, ohne Erbe oder Beziehungen, habe damit über die Jahre Unsummen an Steuern und Sozialabgaben fürs Gemeinwesen erwirtschaftet, Menschen in Lohn und Brot gebracht, über Jahrzehnte 50 bis 70 Wochenstunden gearbeitet.
Respekt für alle – oder für keinen
Habe ich also nicht wenigstens so viel Respekt verdient wie ein Lagerarbeiter oder eine Friseurin mit Mindestlohn? Es geht ja nicht nur um mich. Mir fallen noch ein paar Millionen andere Leistungsträger ein, vom türkischen Gemüsehändler bis zum freiberuflichen Architekten, vom Kioskpächter bis zum freien Grafiker, vom Frittenbudenbetreiber bis zum Rechtsanwalt, die alle in der Regel mehr arbeiten als Angestellte.
Also, wenn schon Anerkennung und Respekt für Lebensleistung, dann für alle, die sonst keine Rente bekommen. Natürlich würde das sowohl Finanzierung als auch Systematik der staatlichen Rente sprengen. Aber das ist kein Argument, denn das tut die Heil-Rente ja ohnehin.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Arbeitsminister einfach solides und verantwortungsvolles Politik-Handwerk abliefert. Statt der Ballaballa-Respekt-Rente gibt’s für Minirentenbezieher im Bedarfsfall die Grundsicherung, wie bisher. Wer einigermaßen lang gearbeitet hat, wird mit einem höheren Schonvermögen belohnt, fertig. Die sinnlose und kontraproduktive Rente mit 63 wird abgeschafft. Und als Tüpfelchen auf dem i wird die Anerkennung von Erziehungszeiten für alle Mütter vereinheitlicht – aufkommensneutral natürlich, was sich dann möglicherweise bei 2,25 Rentenpunkten pro Kind einpendelt.
Klar, Sektkorken würden dafür nicht knallen. Aber die Godesberger Damen, ein paar andere und ich würden so vielleicht ein verloren gegangenes Gefühl im Zusammenhang mit politischer Arbeit wiedergewinnen: Respekt!
Anmerkung: In der ursprünglichen Fassung enthielt der Beitrag einen Fehler. Die Beschränkung der Mütterrente 2 auf Mütter mit mindestens drei Kindern war zwar im Gesetzentwurf vorgesehen, wurde letztendlich aber nicht Gesetz. Der entsprechende Abschnitt im Text ist korrigiert. Ich bitte um Entschuldigung und danke Leser Th. Vormann für den Hinweis!