Thilo Sarrazin / 27.12.2019 / 06:06 / Foto: Achgut.com / 94 / Seite ausdrucken

Requiem für eine Volkspartei

Als der Vorläufer der SPD, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, vor 156 Jahren in Leipzig gegründet wurde, ging es dem Gründer Ferdinand Lassalle nicht um Ideologie, sondern um die Vertretung der Interessen der deutschen Arbeiter gegenüber dem liberalen Bürgertum. Erst 1875, bei dem Zusammenschluss mit der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten sozialdemokratischen Arbeiterpartei, trat die marxistische Ideologie hinzu.

Fortan war die interne Debatte der SPD bestimmt vom Kampf der Marxisten gegen die Reformer. Der Sieg des Reformflügels führte 1918/19 zur Spaltung der SPD und zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands. Der Radikalismus von links (KPD) und rechts (NSDAP) schwächte in seiner kombinierten Wirkung die Weimarer Republik und führte schließlich 1933 zu ihrem Untergang

1946 kam es im besiegten Deutschland in der Sowjetischen Besatzungszone zu einer Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED. 43 Jahre lang, von 1946 bis 1989, machte die SED Ostdeutschland zu einer kommunistischen Diktatur. Nachdem die Mauer gefallen war, wurde die SED zunächst zur PDS und schließlich im wiedervereinigten Deutschland zur Partei "Die Linke".

Das Godesberger Programm war nicht das letzte Wort

In der westdeutschen SPD schien es so, als ob 1958 mit der Verabschiedung des Godesberger Programms das marxistische Erbe endgültig überwunden sei. Unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt schien die SPD in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft angekommen zu sein. Doch der Schein trog. Seit Anfang der siebziger Jahre gewann die marxistische Linke unter den Vordenkern und Funktionären der SPD erneut an Einfluss und Kraft. Das zeigte sich in den Debatten zur Wirtschaftsordnung, zur Bildungspolitik sowie zur Sicherheits- und Außenpolitik. 

Weil dem Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 die innerparteilichen Mehrheiten bei der Haushalts- und Sicherheitspolitik abhanden kamen, zerbrach die Sozialliberale Koalition und Helmut Kohl wurde Bundeskanzler. 1998 gewann Gerhard Schröder mit einem betont ideologiefreien Auftreten nach sechzehn Jahren erneut die Kanzlerschaft für die SPD und bootete in nur wenigen Monaten den linken Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine aus. Von 2003 bis 2005 schrieb sich Gerhard Schröder mit grundlegenden marktwirtschaftlichen Reformen des Sozialstaats in die Geschichtsbücher ein und legte die Basis für einen bis heute andauernden nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung. 

Diese Großtat führte zur Gründung der Linkspartei durch Oskar Lafontaine und somit indirekt zur erneuten Spaltung der SPD. Ein großer Teil der Funktionäre und der sozialdemokratischen Vordenker in Wissenschaft und Medien hat mit Schröders Reformen des Arbeitsmarktes bis heute seinen Frieden nicht gemacht. 

Runter immer, aufwärts nimmer

Der Niedergang der SPD bei Umfragen und ihren Wahlergebnissen hat auch damit zu tun, dass die Partei mit ihrem eigenen Erbe hadert. Ein wachsender Teil des Funktionärskaders möchte die Rückentwicklung von einer primär bürgerlichen Partei zu einer marxistisch eingefärbten primär linken Partei mit entsprechender Umverteilungs- und Steuerpolitik und mit starker Frontstellung gegen Reiche und Kapitalisten.

Als die Parteivorsitzende Andrea Nahles erkannte, dass sie die Gegensätze nicht würde bändigen können, trat sie im Juni 2019 von allen ihren Ämtern zurück. Der SPD-Parteivorstand entschied sich für ein kompliziertes mehrstufiges Verfahren zur Findung und Wahl einer neuen Parteispitze. Das Verfahren fand am 6. Dezember mit der Wahl von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu Parteivorsitzenden seinen Abschluss.

Beide waren bis dahin weitgehend unbekannt. Zu ihren Forderungen zählen:

• Die Rückabwicklung der Reformen das Arbeitsmarkts, die von Gerhard Schröder durchgesetzt worden waren

• Die Forderung nach staatlicher Verschuldung, obwohl die öffentlichen Kassen überquellen

• Die Forderung nach mehr Umverteilung und einer staatlichen Vermögenssteuer

• Die Ablehnung des in der NATO vereinbarten Ziels für die Verteidigungsausgaben (zwei Prozent des BIP)

Es geht auch um die persönliche Lebensplanung

Dem Wunsch der neuen Vorsitzenden und ihrer Unterstützer, die große Koalition möglichst schnell zu verlassen, steht die Haltung der SPD-Abgeordneten im Deutschen Bundestag entgegen. Diese wollen weit überwiegend bis zum regulären Wahltermin im Herbst 2021 weiter im Amt bleiben. Dabei geht es auch um die persönliche Lebensplanung. Das Desaster der nächsten Wahl kommt schließlich so oder so früh genug.

Die Wahl der neuen Vorsitzenden und die damit verbundene Umorientierung der programmatischen Ausrichtung der SPD ist kein Zufallsprodukt. Das zeigen das Abstimmungsverhalten und die Stimmergebnisse beim Mitgliederentscheid: In beiden Wahlgängen beteiligten sich nur gut 50 Prozent der Parteimitglieder, obwohl die Briefwahlunterlagen ins Haus kamen und die Stimmabgabe denkbar einfach war.

Beim zweiten Wahlgang mit einer Beteiligung von 54 Prozent lag das linke Bewerberduo deutlich vor Bundesfinanzminister Olaf Scholz und seiner Partnerin Klara Geywitz. Die Parteibasis hat, soweit sie sich überhaupt interessierte, eine stabile Präferenz für eine dezidiert linke Politik gezeigt, und damit das Meiste von dem abgelehnt, für das die Regierungspolitik der SPD in den letzten Jahren und Jahrzehnten stand und steht.  

Wann kommt die Wiedervereinigung?

Das Programm der SPD, für das die neue Führung steht, unterscheidet sich nicht mehr von jenem der Linkspartei. Insoweit werben beide um dieselben Wähler, so dass eigentlich ein neuer Vereinigungsparteitag angesagt ist. 

Bildungseliten, Leistungsträger, Besserverdiener und der wirtschaftliche Mittelstand können sich dagegen von der SPD nichts mehr erhoffen. Soweit sie Idealisten sind und eine utopische Gesinnung haben, sind sie künftig bei den Grünen besser aufgehoben. Die SPD hat mit ihrer programmatischen Wende den Abschied aus der Mitte der Gesellschaft eingeleitet und zugunsten abgestandener Träumereien hundert Jahre sozialdemokratischer Geschichte widerrufen.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

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Gottfried Meier / 27.12.2019

Die SPD ist zu einer grünsozialistschen Akademikerpartei verkommen. Ich bin daher schon vor ein paar Jahren ausgetreten.

Peter Michel / 27.12.2019

Wie sagte doch neulich der ehemalige SPD-Führer Gabriel: ... die Arbeiter werden von der AfD vertreten..“ also den „Arbeiterverein für Deutschland“, gibt es nun wieder

Eugen Müsch / 27.12.2019

Kamen in der SPD früher tatsächlich noch Politiker aus ehrlichen Berufen und der damit verbunden Bodenhaftung sind es inzwischen zuviele abgbrochene Soziologen und Politilogen, die an den Unis in ihrer linken Gender Blase lebten. Der Rest bewirkt der Aufstieg in der Partei in der nur die Kader hochkommen die die richtige Haltung haben und diese flexibel zu handhaben wissen. Große Teile des Staates sind von Leuten gekappert die nie wirklich gearbeitet noch über vernünfiges Fachwissen verfügen, aber hier mit Privilegien und Zuwendungen überversorgt werden. Das sind die wahren Feinde der Arbeiter. Kurt Tucholski hat das bereits 1923 überaus treffend in dem Gedicht “An einen Bonzen”  beschrieben.

Christian Noha / 27.12.2019

Die SPD ist redundant geworden und ist damit die Zukunft der CDU. Eventuell sollte daher die „Vereinigung“ direkt mit den Genossen von der CDU erfolgen. Neuer Name: SPDU. Vorsitzende auf Lebenszeit (wie bisher): eine Polit-Propagandistin, mit christlich-kommunistischem Hintergrund, die in der DDR gehätschelt wurde.

Wieland Schmied / 27.12.2019

@ Carsten Neumann / 27.12.2019 “Eines verstehe ich nicht: Warum tritt Thilo Sarrazin nicht aus der SPD aus?” Und wo soll er denn eintreten - parteipolitisch gesehen? In die CDU/CSU/FDP/SED oder gar zu den Grünen? Dahin wo er eigentlich hingehörte und nützlich land und Volk wäre, dahin will er partout nun mal nicht. Finden wir uns damit doch endlich ab, er war, ist und wird Sozi bleiben. ***Thilo Sarrazin sieht keine Möglichkeit für „politische Ausschaltung“ der AfD ( Epoch Times 5. Dezember 2019 Aktualisiert: 5. Dezember 2019 13:08 )***

Petra Wilhelmi / 27.12.2019

Nur kurz: Der bis heute angeblich anhaltende Wirtschaftsaufschwung, Herr Sarrazin, ist auf Kosten großer Teile der arbeitenden Bevölkerung zustande gekommen. Wir kranken gerade heute daran, dass Fachkräfte außer Landes gingen, weil ihre Arbeitskraft finanziell nicht mehr geschätzt wurde. Das Betriebsklima wurde vielfach dadurch verschlechtert und weite Teile der Arbeitnehmer gingen in die innere Emigration auf ihren Arbeitsplatz. Die Regierung Schröder hat große Teile der arbeitenden Bevölkerung in die Unsicherheit von Leiharbeit, befristeter Arbeit und Niedriglöhne geworfen. Eine Familienplanung - die uns heute auch auf die Beine fällt - konnte so nicht wirklich stattfinden, weil niemand wusste, ob er morgen noch Arbeit hatte und ob er sich überhaupt Kinder leisten konnte. Dazu wurden diejenigen, die ihr Leben lang gearbeitet hatten auf die Schnelle in ein Notgroschenplan gesteckt und vielfach dazu noch unwürdig behandelt. Ein Staat, dass sich brüstet, den größten Niedriglohnsektor in Europa zu haben, ist kein gesunder Staat.

Günter Springer / 27.12.2019

Herr Pappe, was Sie hier über Willi Brandt geschrieben haben ist allerunterste Schublade. Wenn Sie noch in der Lage sind ein wenig nachzudenken müßte bei Ihnen die Scham aufsteigen!

Richard Loewe / 27.12.2019

Was Dr. Sarrazin vermutlich wurmt, ist dass er fuer seine Bundesbank-Karriere gearbeit hat, waehrend die Mitglieder der Einheitspartei in die CDUFDPSEDGRUENESPD eintreten, weil sie nicht arbeiten wollen, kein Talent haben, sich selbst unsympathisch finden, aber viel Geld verdienen wollen.

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