Robert von Loewenstern / 27.01.2020 / 06:25 / Foto: D. Rogge / 73 / Seite ausdrucken

Relotius im Hühnerstall

Vier Wochen nach dem Jahresendaufreger ist Zeit für eine Nachlese. Interessiert mich nicht, sagen Sie jetzt vielleicht. Zu Oma Umweltsau ist längst alles gesagt und zwar von allen. Dann sage ich, mit Verlaub, Sie irren. Gut, „von allen“ könnte hinkommen, aber nicht „alles“. Da gibt es nämlich noch etwas gar nicht Unbedeutendes aufzuarbeiten. Um Sie weiter anzuschärfen (und für einen längeren Text geschmeidig zu machen): Es geht um den „Spiegel“ und Fake News, um Haltung und Haltloses, um braunen Infokrieg und rote Meinungsmache. Und um Entlarvung.

So weit die professionelle Anmache. Im Achse-typischen Bemühen um optimale Usability und maximale Transparenz sei hiermit zugleich offengelegt: Im Folgenden wird ausführlich ein bisher unwidersprochen verbreitetes Narrativ seziert, beispielhaft und prototypisch. Falls Sie bereits jetzt Ermüdung verspüren, scrollen Sie besser gleich zur letzten Zwischenüberschrift. Die beginnt mit „Fazit“.

Zur Einstimmung eine kurze Zusammenfassung dessen, was der Nation um den Jahreswechsel Puls verschaffte. (Ungeduldige können natürlich auch hier gerne abkürzen per Sprung zur Zwischenzeile mit „brauner Soße“.) Also: Der Westdeutsche Rundfunk, größter Einzelsender des teuersten quasistaatlichen Rundfunksystems der Welt, lässt kleine Mädchen eine umgetextete Variante des alten Gassenhauers „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“ trällern. Das Ergebnis publiziert man zwischen Weihnachten und Neujahr zwecks gesellschaftlicher Aufklärung auf der WDR-Facebook-Seite. Putziger Refrain: „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau!“ 

Brandstifter Danny und die Nazisau 

Das findet nicht jede alte Umweltsau lustig. Viele Oma-Inhaber auch nicht. Folglich regen sich Leute auf. Andere Leute regen sich darüber auf, dass sich Leute aufregen. So auch ein vom WDR bezahlter Internet-Troll mit anscheinend Antifa-Hintergrund namens Danny Hollek. Der erklärt den Erstaufregern in modernem Rumpfdeutsch („Lass mal über die Großeltern reden“), ihre Oma sei gar keine Umweltsau, sondern eine Nazisau. Das trägt nicht unmittelbar zur Beruhigung der Debatte bei. Jetzt regen sich noch mehr Leute über den WDR auf. Sehr viel mehr Leute, was der professionelle WDR-Kommunikator als Erfolg feiert („haha“). Ein weiterer Erfolg ist, dass der fantastische @dannytastisch laut Eigenauskunft Morddrohungen „im Sekundentakt“ erhält.

Das wiederum berührt und verletzt mich persönlich. Schließlich blieb mir dieses Statussymbol heutigen öffentlichen Schaffens bisher verwehrt. Ich appelliere daher ausdrücklich an alle Leser, mich als Zeichen der Wertschätzung ab und an mit dem Tode zu bedrohen. Tipp: je schlimmer, desto besser.

Zurück zum Thema. Das Medien-Dickschiff WDR, das fest auf der guten Rheinseite verankert ist (also auf der linken, logisch, nicht auf der bösen rechten „schäl Sick“), reagiert überraschend schnell. Kurz nach Erscheinen ist die Pauschalbeleidigung von Trümmerdamen wieder gelöscht. Außerdem folgt eine Welle des Zurückruderns, vom WDR-Chef, vom verantwortlichen Redakteur, schließlich sogar eine Pseudoentschuldigung von Danny Brandstifter, der sich nach anfänglichem Stolz nun um seinen monatlichen Gebührenanteil sorgt, weil sein Brötchengeber die Danny-Hetze nicht so prall fand

Der Haufen kreißte und gebar ein Narrativ

Über Löschung und Entschuldigungen regen sich auch wieder Leute auf, weil Satire angeblich alles darf und so weiter. Was natürlich erstens Quatsch ist. Und zweitens, weil es gar nicht um Satire ging. Per Schluss-„Pointe“ im Seniorenschmäh war unmissverständlich klargestellt, dass keine Doppelbödigkeit vorliegt, höchstens Doppelblödigkeit. Zum bitteren Nachschmecken hatten die Gebührenmilliardäre ihrem Kinderporno eine Drohung der früh verbiesterten und wutverzerrten Greta Thunberg im O-Ton unterlegt: „We will not let you get away with this!“ – „Wir werden euch damit nicht davonkommen lassen!“ Gemeint war irgendwas mit Klima und Lynchjustiz.

In der Folgewoche geht die Aufregerei weiter. WDR-Intendant Tom Buhrow sieht sich Vorwürfen ausgesetzt, er habe „rechten Aktivisten“ in die Hand gespielt, die die „Empörungswelle im Internet großenteils künstlich“ erzeugten. „Rechte und Rechtsextreme“ hätten erfolgreich „mobilisiert“, heißt es, und schwächliche Herrschende seien eilfertig auf die Knie gefallen vor einem Angriffssturm, den braune Systemfeinde mit irgendwie übernatürlichen Kräften erschufen.

Kurz: Der Haufen kreißte und gebar ein Narrativ. Das geistert seitdem unwidersprochen und vielfach multipliziert durch die Medien. Die Erzählung von der gefährlichen „rechten Empörungsmaschine“, die gut geölt und fein vernetzt zum Sturm gegen den Westdeutschen Rotfunk blies, ist mittlerweile fest etabliert. So ließ zum Beispiel die „Zeit“ Anfang Januar den YouTuber „Rezo“ dazu fabulieren, das NDR-Medienmagazin „Zapp“ legte am 8. Januar nach, eine Woche später hämmerte „Extra 3“ noch einmal die Legende von der Macht der „rechten Internet-Trolle“ ein. 

Der „Spiegel“ bekennt sich zu Dünnschiss

Dass sich die Legende so ausbreiten konnte, liegt an einem Artikel, der am Montag, 30. Dezember, auf „Spiegel Online“ erschien und jetzt auf „DER SPIEGEL“ zu lesen ist. Das „Sturmgeschütz der Demokratie“ erfuhr nämlich gerade seine persönliche Wiedervereinigung. „Spiegel Online“ alias „SPON“ ist Geschichte. Elektrisch wie baumbasiert tritt man nun einheitlich auf. Das gefällt nicht jedem Print-Redakteur, der sich bisher nicht nur für einen Besserverdiener hielt, sondern auch für etwas Besseres. Immerhin, intern dauert die Segregation von Journalisten und Online-Fuzzis an, wie bereits dem ersten Satz des www-Impressums zu entnehmen ist („Das Angebot […] besteht aus zwei Teilen“).

Extern jedenfalls wächst an der Ericusspitze 1 in Hamburg nach 25 Jahren zusammen, was zusammengehört – unter anderem mit der Folge, dass man sich verstärkt „Lifestyle-Themen“ zuwenden will. Das neue Ressort „Leben“ soll künftig mehr über Psychologie, Beziehungsprobleme, Stressbewältigung und umweltfreundlichen Lebensstil berichten. Und über Darmgesundheit. Lobenswert, finde ich persönlich. Ein offenes Bekenntnis, dass Dünnschiss zum Markenkern des „Spiegels“ gehört, war längst überfällig.

Apropos Sprühstuhl: Hier sind wir wieder beim Thema, denn beim Artikel „Die Empörungsmaschine läuft heiß“ aus der Heimat des Serienfälschers Relotius handelt es sich um ein feines Stück Fake News – und um ein bedeutsames. Die Story unterfütterte die zuvor nur vereinzelt in „sozialen“ Medien aufgepoppte Behauptung von der „rechten Mobilisierung“ mit angeblichen Fakten. Erst danach ging die Luzie so richtig ab.

Die braune Soße ist angerührt

Ohne die „Spiegel“-Beweise hat das Narrativ vom braunen Info-Blitzkrieg keine Grundlage. Sehen wir uns den Beitrag daher genauer an. Die Kernaussage steht, wie es sich gehört, bereits im Vorspann: „Eine Datenauswertung zeigt: Rechte und Rechtsextreme haben schnell und erfolgreich mobilisiert.“ So leitet der „Spiegel“ seine Gänsehaut-Geschichte ein, die „einiges verrät über Empörungsmechanismen und gesteuerte Aufregung“. Außerdem ist der Ton gesetzt, die dunkelbraune Soße im großen Topf erfolgreich angerührt, obwohl „rechts“ und „rechtsextrem“ ungefähr so viel miteinander zu tun haben wie Helmut Schmidt und Adolf Schicklgruber selig.

Ihre Story gründen die Autorinnen Eva Horn und Sonja Peteranderl in Gänze auf die „Datenauswertung“ eines „Social-Media-Analysten“ namens Luca Hammer: „Seine Auswertung zeigt, dass erste Accounts am 27. Dezember zu dem Video twittern. Die ersten Tweets dazu bekommen jedoch kaum Aufmerksamkeit. Doch dann springt der Funke über zu reichweitenstarken Accounts, die  sich dem rechten Spektrum zuordnen lassen.“

Der „Spiegel“ weiter: „Die Account-Analyse von Luca Hammer zeigt noch mehr: zwei große Empörungs-Cluster, die sich kaum berühren – sich aber untereinander retweeten und verbreiten. Der Empörung der eher rechten Szene folgt eine Gegenwelle aus dem eher linken politischen Spektrum – bis zum Morgen des 30. Dezember ist die Gesamtzahl der Tweets mit Hashtags wie #Umweltsau oder #Nazisau auf rund 210.000 gestiegen.“

Upps, die Aktivsten waren links

Diese 210.000 Kurzbotschaften wurden laut „Spiegel“ von rund 44.000 Nutzerkonten abgesetzt: „23 Prozent der Accounts lassen sich Luca Hammers Auswertung zufolge einem eher rechten Cluster zuordnen (hier grün dargestellt), 46 Prozent einem eher linken Cluster. Beide berühren sich kaum. Bei 31 Prozent der Accounts war eine Zuordnung zu den Clustern nicht möglich. Auffällig dabei: 52 Prozent der Tweets kamen aus dem grünen Cluster, nur 38 Prozent aus dem pinken. Nur 10 Prozent konnten keinem der beiden Cluster zugeordnet werden. Das bedeutet: Im grünen Cluster gab es einige sehr aktive Accounts.“

Zur Visualisierung der beiden Empörungshaufen gibt es eine hübsche Grafik, die zwei Farbkleckse zeigt, einer grün, einer pink. Der grüne Klecks steht für „die rechte Szene“, der größere pinke soll „das linke Spektrum“ abbilden. Innerhalb der Kleckse stehen Nutzernamen in unterschiedlichen Schriftgrößen. Je größer die Typo, desto aktiver der Nutzer, soll diese Art der Darstellung für gewöhnlich vermitteln.

An der Grafik fällt zweierlei auf. Erstens: Die Nutzernamen mit der deutlich größten Typo finden sich auf der pink-linken Seite und nicht in der „rechten Szene“. Halten wir also in Ergänzung der „Spiegel“-Behauptung „Im grünen Cluster gab es einige sehr aktive Accounts“ zunächst fest: Im pinken Bereich gab es einige noch sehr viel aktivere Nutzer. 

Upps, die Auswertung war falsch

Zweite Auffälligkeit: Der „Spiegel“ stellte seine Cluster-Kleckse in so geringer Auflösung ins Netz, dass kaum Nutzernamen lesbar sind. Beim grünen Haufen lassen sich mit Mühe Bezeichnungen wie „nikitheblogger“, ShakRiet“, „BlondJedi“, „lawyerberlin“ und – sehr klein und unscharf – „RolandTichy“ entziffern. Auf pink-linker Seite sind es Accounts wie „Volksverpetzer“, „dergazetteur“, „IngmarStadelmann“, „martinhoffmann“, „_nasir_ahmad_“ und „janboehm“. Von Zigtausenden „rechten“ und „linken“ Nutzern offenbart der „Spiegel“ kaum zwei Dutzend. 

Für die Mangelauflösung der Grafik gibt es womöglich einen guten Grund. Anscheinend hatte man beim „Spiegel“ kein Interesse, die Zuordnung von Userkonten in großem Umfang kenntlich und damit nachprüfbar zu machen. Die einzigen zwei Nutzer auf „rechter“ Seite, die in einer ersten Textfassung beispielhaft genannt waren, mussten nämlich kurz drauf wieder gelöscht werden. Sie waren zu Unrecht verdächtigt worden, wie eine „Anmerkung“ unter dem Artikel erläutert: 

„In einer früheren Version dieses Textes hatten wir zwei Twitter-Accounts aus dem rechten Spektrum explizit genannt, die an der Verbreitung der Empörung über das Video beteiligt gewesen sein sollten. Beide waren aber in der Anfangsphase nicht ausschlaggebend für die Verbreitung; taugten also nicht als Beispiele. Die Nennung beruhte auf einem anfänglichen Auswertungsfehler, den wir nachträglich korrigiert haben. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Upps, der „Spiegel“ findet keinen Ersatz

Entschuldigung angenommen. Klar, ist ein bisschen peinlich, kommt aber in den besten Familien vor. Seien wir also nicht allzu streng. Sehr viel peinlicher ist, dass es der „Spiegel“ nach Korrektur des „anfänglichen Auswertungsfehlers“ nicht mehr wagte, Ersatz für die gestrichenen „zwei Twitter-Accounts aus dem rechten Spektrum“ zu liefern. Im Artikeltext wird nun kein einziger Beispiel-User mehr namentlich aufgeführt, der in der „rechten Empörungsmaschine“ gegen WDR und Oma Umweltsau eine angeblich führende Rolle spielte. 

Beim „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ lassen sich die Namen der beiden angeprangerten rechtsspektralen Twitterer übrigens noch finden: „@hartes_geld“ und „@exgruene“. Das „RND“ hatte nämlich frühzeitig und erfolgreich beim „Spiegel“ abgeschrieben, war dann allerdings weniger erfolgreich bei der Korrektur. 

Das Vorgehen des „Spiegels“ wirft die Frage auf, wie weit man dort der artikeltragenden „Datenauswertung“ des „Social-Media-Analysten“ Luca Hammer überhaupt noch traute. Der Rückzieher bei der „expliziten“ Nennung „Rechter und Rechtsextremer“ und die extra-unscharfe Cluster-Grafik legen nahe, dass man lieber nicht so genau hinschauen wollte. Schon gar nicht wollte man andere genau hinschauen lassen.

Man kann eine Geschichte schließlich auch kaputtrecherchieren – ein journalistischer Fachbegriff, der auf Klardeutsch heißt: Wenn das eigene Vorurteil oder die Ansage des Ressortleiters dooferweise unzureichend durch Fakten gestützt wird, gräbt man besser nicht zu tief. Entgegen landläufiger Meinung gilt im Medienbusiness die goldene Regel: Zu viel Recherche kann schnell die Story killen.

Upps, kein Wort zu Seriosität, Methodik und Kriterien

Bei den, sagen wir mal, nicht ganz so ideal von Fakten getragenen Stücken ist es also angeraten, im Ungefähren zu bleiben. So hielt es der „Spiegel“ auch bei seinen Angaben zum Hintergrund von Analyse und Analytiker. Es gab nämlich keine Angaben – ein absolutes No-go bei einem Artikel, der mit wissenschaftlichem Anstrich daherkommt und dessen gesamte Aussage an der Glaubwürdigkeit einer einzigen Untersuchung hängt.

Nicht ein Wort verlor der „Spiegel“ darüber, wer eigentlich Luca Hammer ist, und wie er bei seiner „Datenanalyse“ vorging. Dabei liegen einige Fragen auf der Hand, die die Seriosität des gesamten Unterfangens berühren: Mit welcher Methodik und nach welchen Kriterien nahm Hammer die Rechts-links-Einteilung der 44.000 Twitter-Nutzer vor? Welche Art von Qualitätskontrolle erfolgte? Wie hoch ist die Fehlerquote? Und vor allem: Wie lautet die Definition von „rechts“ und „links“, die all dem zugrunde lag?

Aber, die gute Nachricht: Ist eh egal. Ob die Sortierung ins rechte und linke Töpfchen auch nur halbwegs korrekt – oder besser: einigermaßen nachvollziehbar – war, kann dahingestellt bleiben. Lucas Hammer-Analyse ist aus einem ganz anderen Grund irrelevant. Der „Social-Media-Analyst“ wertete nämlich nicht „Social Media“ aus, sondern einzig Twitter. Das ist ungefähr so, als würde ein „Verkehrsexperte“ anhand von Volvo-Zahlen Aussagen über die globale Automobilindustrie treffen. 

Upps, nicht einmal Oma Datensau wurde ausgewertet

Falls Sie sich im Sozialen nicht so gut auskennen, hier – mit freundlichen Grüßen aus dem Achse-Service-Ressort – ein kurzer Wegweiser durch den Plattform-Dschungel. Facebook nutzen Menschen über 30, also alte Menschen. Das liegt nahe, denn die Zuckerberg-Erfindung ist die Urahnin „sozialer Medien“. Oma Datensau, sozusagen. Junge Menschen tummeln sich auf Instagram. Das ist in erster Linie für die Verbreitung von Bildern (= „Selfies“) gedacht, eignet sich also ideal für den schreibschwachen Nachwuchs. Auf Twitter wiederum kommunizieren Politiker, Medienleute und ein paar andere Wichtigtuer. Daneben gibt es WhatsApp, Snapchat und Tinder. 

WhatsApp hat viele Opfer und einen User, nämlich Facebook. Oma Datensau nutzt den Messengerdienst, um damit die Adressen aller Menschen außer Chinesen zusammenzutragen. Snapchat ist ähnlich wie WhatsApp.  Der Unterschied ist, dass es sich nicht von Facebook kaufen ließ und Messages nur für kurze Zeit sichtbar sind. Tinder schließlich ist der Zuhälter unter den sozialen Medien. Hier bringt man Leute zusammen, die nicht reden, sondern schnackseln wollen.

Von all diesen (und weiteren) Medien hat der „Social-Media-Analyst“ Luca Hammer einzig Twitter untersucht. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die anderen lassen sich nicht so einfach in die Karten schauen. Facebook behält seine Auswertungen lieber für sich oder vertickt sie gegen harte Münze an Werbetreibende.

Upps, die Analyse ist irrelevant – sagt der Analyst

Twitter, wie gesagt, verhält sich zu den anderen Messenger- und Begegnungsplattformen ungefähr so wie Volvo zur Autoindustrie. Man rangiert erstens unter ferner liefen und ist zweitens weder bei Angebot noch Kundschaft repräsentativ für die Gesamtheit. Nach der „ARD/ZDF-Onlinestudie 2019“ nutzen in Deutschland nur 2 Prozent täglich Twitter (und das erscheint bereits ziemlich hoch gegriffen). Zum Vergleich: Bei WhatsApp sind es 63, bei Facebook 21, bei Instagram 13 und beim weithin unbekannten Snapchat immerhin noch 5 Prozent.

Außerdem weichen Sozialstruktur und Interessenlage der Twitter-User erheblich vom Durchschnitt der Allgemeinheit ab. Namhafte Institute – nicht nur hierzulande, sondern zum Beispiel auch in den USA – kommen daher zu dem Schluss, dass eine Auswertung von Twitter-Verkehr wenig bis keine Aussagekraft im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung hat. Ebenso repräsentiert das, was sich auf Twitter abspielt, nicht die Vorgänge bei digitalen Begegnungsstätten insgesamt.

Falls Sie skeptisch sind, weil Ihnen schon häufig scheinbar wichtige Twitter-Auswertungen in den Medien begegnet sind, müssen Sie mir das nicht glauben. Es genügt, wenn Sie den Auswertern glauben. Zum Beispiel Luca Hammer („I collect, analyze and visualize social media data. You can hire me.“). Ausgerechnet der geschäftsbereite „Spiegel“-Zeuge bestätigte nämlich bereits 2017 höchstselbst die begrenzte Relevanz seines Tuns„Analysiert nicht Twitter, um unsere Gesellschaft zu erklären. In Deutschland nutzen mehr Menschen ebay-Kleinanzeigen als Twitter.“

Upps, die Linken mobilisieren besser

All dies beweist, dass der „Spiegel“ nichts bewiesen hat. Wenn er sich traditionellen journalistischen Ansprüchen verpflichtet fühlen würde, hätte er seine Geschichte vor Veröffentlichung in die Tonne treten müssen. Nun mögen Sie einwenden, das Gegenteil sei aber auch nicht bewiesen. Ein Freispruch zweiter Klasse heißt nicht zwangsläufig, dass der Angeklagte unschuldig ist. Könnte also sein, dass Luca Hammer und andere trotzdem recht haben mit ihrer Behauptung, die braune Pampe in Deutschland habe gewaltigere Mobilisierungskräfte als das „linke Spektrum“

Gut, gehen wir einen Schritt weiter. Werfen wir nach Betrachtung der virtuellen einen Blick auf die reale Realität. Am Sonntag, 29.12.2019, in der heißen „Mobilisierungsphase“ nach Veröffentlichung des Oma-Schmähliedchens, versammelten sich einige Empörte vor dem WDR-Tower zu Köln, um gegen den öffentlich-rechtlichen Riesen und sein Li-La-Laune-Liedchen zu protestieren. Darunter waren offenbar auch ein paar Rechtsextreme, wie der „Spiegel“ in seinem Stück unter Berufung auf die Kölner Polizei mitteilt: „Etwa 200 Personen haben an der Versammlung teilgenommen, davon wurden etwa 25 Personen der ,Bruderschaft Deutschland‘ zugeordnet.“

Am Wochenende darauf, nachdem alle Beteiligten ausreichend Gelegenheit zu Empörung und Gegenempörung hatten, zeigte sich in der Kölner Innenstadt folgendes Bild, wie der WDR berichtete: Nach Aufruf durch „rechte Gruppierungen“ erscheinen ganze 50 „Rechte“ und 1000 „Gegendemonstranten“. Erlauben wir uns, letztere – in gleicher Pauschalität wie „Spiegel“ und WDR – der Einfachheit halber „Linke“ zu nennen. Ergibt ein Rechts-links-Verhältnis von 1:20. Schlagen wir der „rechten“ Seite zum Spaß auch die 200 Hansel der Vorwoche zu, bleibt immer noch eine Quote von 1:4, also vierfache Überlegenheit auf „linker“ Seite – Quoten, die sich so oder ähnlich regelmäßig auch bei anderen Rechts-links-Aufmärschen ergeben.

Fazit: Nichts als heiße Luft

Das Narrativ von der übermächtigen „rechten Empörungsmaschine“ lässt sich weder per Twitter-Analyse noch nach Reality Check, also unter Berücksichtigung zählbarer Straßenmobilisierung, aufrechterhalten. Von der „Spiegel“-Story bleibt nichts als heiße Luft. Die Hamburger machen unbeirrt da weiter, wo Märchenerzähler Relotius vor einem Jahr aufhörte. Man verbreitet Geschichten ohne Substanz, haltungsstark und faktenfrei. Und der Rest der Meute folgt, glaubensstark und zweifelsfrei.

Die Einzigen, die sich scheinbar um Recherche bemühten, waren die NDR-Medienbeobachter von „Zapp“. Die ergoogelten sich nämlich ihren eigenen Twitter-Fuzzi. Das lag daran, dass man nach dem „Spiegel“-Stück ein bisschen spät dran war und man das „Nachdrehen“ (TV-Fachbegriff fürs Klonen von Print-Stücken) verschleiern musste. Und so hieß Luca Hammer bei „Zapp“ Philip Kreißler. Ansonsten war alles gleich: keine Auskunft zu Methodik und Hintergrund von Analyse und Analyst, keine Einordnung des erforschten Mediums, keine sonstigen Nachweise. Aber, immerhin, etwas Neues steuerte „Zapp“ dann doch noch bei: Aus „Rechten“ wurde haltungssteigernd ein „rechter Mob“.

Bleibt als Letztes die Frage, warum die Nullnummer vom Rechts-Mobilisierungsnarrativ niemandem außer uns aufstieß. Das könnte natürlich daran liegen, dass alle Oberschlauen auf der Achse versammelt sind. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass im Rest des Medienuniversums gewisse Behinderungen vorliegen. Zum einen extrem gestiegener Zeitdruck und damit einhergehende mangelnde Sorgfalt. Zum zweiten menschliche Schwäche. Es ist schließlich weder karrierefördernd noch sozialkompatibel, wenn man perfekt ins Schema passende Narrative infrage stellt. Und was sind schon Fakten gegen Haltung? Eben. Hauptsache, man ist sich einig. Dann klappt’s auch mit der Volkserziehung.

PS: WDR-Autoren fordern, der Sender möge den Umweltsau-Song unverzüglich wieder online stellen. Wir hätten da einen Vorschlag zur Güte. Es gibt eine Zielgruppe, die sich nachweislich ideal dafür eignet, „satirisch“ aufs Korn genommen zu werden. Nämlich Umwelt-Aktivist*innen, die zu Weihnachten fröhlich vom Wanderurlaub in Patagonien grüßen. Warum also die pauschale Seniorenbeleidigung nicht einfach umdichten: „Die Rackete ist ’ne junge Umweltsau!“ Darüber könnte sich niemand beschweren, oder?

Foto: D. Rogge

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H.Roth / 27.01.2020

Den Begriff “Wahrheits-Designer” halte ich für zutreffend, wenn es um die Autoren von Spiegel und Co.  geht.

Gerhard Sauer / 27.01.2020

Herr Loewenstern, sie haben quasi im Vorbeigehen ein wichtiges Problem angesprochen, das immer wieder diskutiert, aber nie gelöst wird, selbst von den Parteien nicht, die seine Lösung explicit versprechen: Es ist die fehlende Gerechtigkeit. Ihrem Artikel entnehme ich, daß auch Ihnen die bei der Ausgabe von Morddrohungen herrschende Willkür aufgefallen ist. Gelegentlich liest man, daß derjenige oder diejenige eine Drohung erhalten hat, insgesamt sind es jedoch Einzelfälle. Ist das nicht eine schreiende Ungerechtigkeit, daß Einzelne mit diesem Orden ausgezeichnet werden, der normale, redliche Bundesbürger aber ausgeschlossen wird? Auch ich warte schon lange auf diese Auszeichnung, aber Pustekuchen, ich kann so oft ich will in meinen Briefkasten schauen, meine e-mails durchstöbern oder am Telefon sehnsüchtig warten, niemand will mich bedrohen. Ist das ein Symptom der allgemeinen Faulheit, die sich in unserer Gesellschaft immer weiter ausbreitet oder ist der Bildungsnotstand schon so groß, daß kaum noch jemand fähig ist, eine anständige Morddrohung in Worte zu fassen? Es kann natürlich auch an meiner unzureichenden Qualifikation für die Ankündigung eines letalen Angriffs auf mich liegen. Ich hätte gern gewußt, was ich dafür tun muß, wissen Sie es? Eine andere, elegantere Lösung möchte ich alternativ vorgeschlagen: Vom Bundespräsidenten sollte jährlich eine nicht unbeträchtliche Zahl von Orden der Morddrohung verliehen werden. Der gegenwärtige Präsident ist Sozialdemokrat und hat als solcher ein offenes Ohr für alle Vorschläge, die Ungerechtigkeit abbauen helfen. Ich sehe gute Chancen auf die Verwirklichung dieser Idee. An dieser Stelle möchte ich gleich erklären, daß ich auf das Bundverdienstkreuz verzichte und glücklich wäre, würde ich stattdessen mit dem Morddrohorden geehrt. Herr Loewenstern, könnten Sie die Einführung des neuen Ordens dem Bundepräsidenten ans Herz legen, Sie haben sicher bessere Beziehungen als ich. Danke.

Robert Bauer / 27.01.2020

@Gesine Keel. Verehrte Frau Keel, sind Sie ganz sicher, an der Sitzung des Rundfunkrats und nicht an der des Elferrats teilgenommen zu haben? Die beiden sind hier in Köln relativ schwierig zu unterscheiden.

Werner Arning / 27.01.2020

Wenn der Anspruch lautet, die Gesellschaft zu gestalten, kann man dem Anspruch eines guten und möglichst neutralen Journalismus nicht mehr gerecht werden. Beim Spiegel scheint die Wahl auf die „Gestaltung“ gefallen zu sein. In diesem Fall kommt es auf einen Wahrheitsgehalt nicht mehr an. Einseitigkeit und Beeinflussung wird dann zum Programm. Es geht schließlich um die Gesellschaft. Und in dieser gibt es Feinde, die es zu bekämpfen gilt. Bildet man sich zumindest ein. Hoch die Faust und auf in den Kampf. Gegen wen? Ist doch egal, wir finden schon einen Feind. Der gute alte Nazi lässt sich zur Not immer wieder reaktivieren. Und alte Nazisäue gibt es doch bis zum Abwinken.

Jürgen Fischer / 27.01.2020

Ist denn der “Spiegel” “besser” geworden, nachdem sie den Relotius rausgeschmissen haben? - Eben.

Anders Dairie / 27.01.2020

Es macht schon keinen Spaß mehr, dem DER SPIEGEL den “Relotius” vor die Füße oder hinterher zu werfen !  Ob die gemerkt haben, dass sie sich von der Nummer in 10 Jahren noch nicht erholen werden?  Kaufen die Besserverdiener das “Heft der Klügeren” nur noch aus Mitleid?  Weil sie nicht zu den Verlierern der Zeitungs-geschichte gehören wollen?  Schließlich haben sie sich von Relotius verscheis…. lassen, die ach so Klügeren. Ich habe seit 1998 kein Heft mehr gekauft, basta!  Damals hat der Jahrhundert-Journalist gegen Kohl gehetzt.  Bekommen haben wird dann Bogenpieseler und Amtsflüchter Lafo sowie den GazGerd Schröder.

Heiko Engel / 27.01.2020

@Johan Meyer. Werter Herr Mayer, das haben Sie schön formuliert. Strafen also wie im Mittelalter. Vermutlich würden sich einige dann lieber für die Guillotine auf dem Rathausmarkt entscheiden. Also den „Stürmer“ ...Verzeihung, die „SZ“ natürlich 12 x lesen ? Grauenhaft. Übrigens wurde die erste Ausgabe der „ SZ“ auf den eingeschmolzenen Bleiblatten von „Mein Kampf“, dem Werk eines Schwachsinnigen ( O - Ton Opa; Wehrmachtsoffizier ), 1946 gedruckt. Also wenn DAS nicht genug des vorherrschenden Geistes dieses Blattes zum Ausdruck bringt. An ihren Taten werdet ihr sie erkennen; sagte mal ein sehr kluger junger Mann.

Steffen Rascher / 27.01.2020

@Bernd Scheubert - Genau meine Meinung. Den Literaturnobelpreis bekommt man auf der Achse ohnehin nicht. Broder kann’s - es geht also -  deshalb Kurz und Knackig bitte.

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