Überschaubare Geländegewinne, isolierte Artillerieduelle und hohe materielle Verluste. Die Bilanz der ukrainischen Gegenoffensive fällt bescheiden aus. Vor allem vor dem Hintergrund ihrer Erwartungen. Warum das kein Zufall ist.
Mit seiner 1832 erschienenen Schrift „Vom Kriege“ hat Carl von Clausewitz ein zeitloses Werk hinterlassen. In dessen drittem Teil geht der preußische Militärtheoretiker dezidiert auf das Wesen der Strategie ein. Neben der List und der Kühnheit gehörte für Clausewitz vor allem die Überraschung zu den wichtigsten Elementen der strategischen Planung in der Kriegführung. In diesem Zusammenhang schrieb er:
„Sie [die Überraschung] liegt mehr oder weniger allen Unternehmungen zugrunde, denn ohne sie ist die Überlegenheit auf dem entscheidenden Punkte eigentlich nicht denkbar.“
Man kann feststellen, dass dieser Grundsatz bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren hat. Das zeigt auch der deutsche Westfeldzug von Mai 1940. In jenen Tagen erwarteten die Franzosen die Invasion der Wehrmacht an der Landesgrenze. Aus diesem Grund hatte Paris seine Streitkräfte entlang einer schwer befestigten Verteidigungslinie konzentriert. Diese war nach dem französischen Kriegsminister André Maginot (1877–1932) benannt und galt als unüberwindbar.
Dass ein Frontalangriff auf dieses Bollwerk kaum erfolgreich sein würde, war offenkundig; daher machte Erich von Manstein einen Vorschlag, der nicht nur aus französischer Sicht undenkbar erschien. Demnach sollten sieben der zehn deutschen Panzerdivisionen – immerhin 1.200 Kampfwagen und 40.000 Lastfahrzeuge – durch die unwegsame und kaum befestigte Berglandschaft der Ardennen geführt werden. Von hier aus würden sie dann dem Feind in den Rücken fallen.
Der deutsche Angriffsplan enthielt alle Elemente, die Clausewitz 108 Jahre zuvor für einen erfolgreichen Feldzug definiert hatte. Er basierte auf der List, den Gegner in dem trügerischen Glauben einer Offensive gegen seine Stellungen zu lassen; er war kühn, weil für seine Durchführung nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung stand; und er basierte auf dem Moment der Überraschung, was es dem Feind erschwerte, sich auf die taktische Disposition der Deutschen einzustellen.
Der Mythos vom Blitzkrieg
Viel zu spät erkannte der französische Generalstab die verhängnisvollen Folgen seines Zuwartens. Nachdem die Wehrmacht die Festungsanlagen von Sedan am 14. Mai 1940 genommen hatte, konnte sie ungehindert die Maas überschreiten und in die Tiefe des Hinterlandes vorstoßen. Der forcierte Durchbruch an die Kanalküste führte zur Isolierung der alliierten Truppen in Nordfrankreich. Zwar gelang in Dünkirchen die Evakuierung des britischen Expeditionskorps, am deutschen Sieg änderte dies jedoch nichts.
Nach nur sechs Wochen war alles vorbei – und mit dem Blitzkrieg ein militärischer Mythos geboren, der die Weltöffentlichkeit in Atem hielt. Das von ihm erzielte Ergebnis war geradezu unerhört. Trotz defensiver Ausgangslage und numerischer Überlegenheit war mit der Armée de Terre die modernste und am besten ausgerüstete Streitmacht auf dem europäischen Kontinent besiegt worden. Infolgedessen blieb Paris nichts anderes übrig, als am 22. Juni 1940 in Compiègne die Kapitulation Frankreichs zu unterschreiben.
Die Wehrmacht bewiesen, dass es möglich war, Defizite in Anzahl und Ausrüstung mit einer geeigneten Strategie zu kompensieren.
Überträgt man Clausewitz’ Überlegungen auf das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine, wird klar, warum Kiews Offensive bislang keine substanziellen Ergebnisse gebracht hat. Sie ist weder listig, noch ist sie kühn. Wohl aber in höchstem Maße berechenbar. Und genau das dürfte für die Ukraine zu einem Problem werden.
Heute hat das russische Heer alle klassischen Vorteile des Verteidigers einer Stellung auf seiner Seite. In diesem Zusammenhang hat Wladimir Putin jüngst in Sotschi konstatiert, dass ein Angreifer mindestens eine numerische Überlegenheit von 3 zu 1 benötigt. Ebenso gilt, dass der Verteidiger dem Gegner seine Art der Kriegführung aufzwingen kann. Noch bedeutender jedoch ist, dass Moskau die ukrainischen Angriffsschwerpunkte längst antizipiert hat.
Seit der Inbesitznahme der südlichen ukrainischen Provinzen durch das russische Militär war offensichtlich, dass es für Kiews Streitkräfte unter strategischen Gesichtspunkten eigentlich nur eine sinnvolle Stoßrichtung geben kann. Gemeint ist der direkte Weg zur Küste des Asowschen Meers.
Ein Durchbruch zu dieser Linie würde die russischen Truppen nicht nur spalten, sondern auch die seit 2014 besetzte Krim isolieren. Ihre Versorgung wäre dann nur noch über die von Kertsch nach Taman führende Krimbrücke möglich. Nach dem Raketenangriff vom 8. Oktober 2022 ist ihre Verwundbarkeit jedoch offenkundig. Von der Küste aus wäre es der ukrainischen Artillerie ein Leichtes, sie unwiderruflich zu vernichten.
Weder kühn noch listig, aber vielleicht vernünftig
Im Hinblick auf diese operativen Erfolgsaussichten steht zu erwarten, dass Kiew sein begrenztes Offensivpotenzial für ein Ausgreifen nach Süden nutzen wird. Demnach scheint es von Orichiw auf Melitopol und von Welyka Nowosilka auf Mariupol vorstoßen zu wollen. Allem Anschein nach sollen dabei zunächst Schwachstellen identifiziert werden, um anschließend mit aller Kraft den Durchbruch zu forcieren.
Obwohl sich dieser Plan nicht als kühn oder listig erweist, ist seine Strategie doch insofern vernünftig, als sie den Einsatz der vorhandenen Ressourcen auf einen maximalen Nutzen lenkt. Allerdings steht zu befürchten, dass sie womöglich nie umgesetzt werden wird.
Das liegt zunächst an den gut ausgebauten Verteidigungsanlagen, die die Russen monatelang angelegt haben. Sie umfassen drei Abwehrlinien, verfügen über weitverzweigte Grabensysteme und werden durch dichte Minenfelder geschützt. Das Gros der eigenen Truppen einen Frontalangriff auf diese Strukturen durchführen zu lassen, könnte für Kiew zu einem Himmelfahrtskommando werden.
Ich treffe diese Aussage, weil sich seit Beginn der ukrainischen Offensivbemühungen klar abgezeichnet hat, dass ein Vorankommen in diesem Gebiet nur schwer möglich ist. Während das ukrainische Militär in Richtung Mariupol bislang nur sieben Kilometer vorgestoßen ist, sind es in Richtung Melitopol lediglich vier. Die Entfernung von Orichiw und Welyka Nowosilka zur Küste beträgt allerdings 100 Kilometer.
Hinzu kommt, dass sich die Kämpfe bislang vielfach nur in der Grauzone vor der ersten Abwehrlinie ereignet haben. Trotzdem hat die Ukraine bereits zahlreiche gepanzerte Fahrzeuge verloren, darunter neben amerikanischen Bradleys auch mehrere Kampfpanzer des Typs Leopard 2. Zwar konnten die Besatzungen in der Mehrheit der Fälle gerettet werden, der Verlust westlichen Kriegsgeräts wiegt jedoch schwer.
Dieser Befund führt nachgerade zum zweiten Einflussfaktor: nämlich den Defiziten im Umgang mit westlichen Waffensystemen.
Hierzu spreche ich mit Oberst i. R. Hans-Hennig Taatzen (*Nachname geändert). Bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst war Taatzen Oberst im Generalstabsdienst. Zuvor hatte Taatzen sowohl als Chef einer Panzerkompanie als auch als Kommandeur eines Panzerbataillons gedient. Mitte der 1990er Jahre schied er aus der Bundeswehr aus. Seine Expertise stammt somit aus der Zeit des Kalten Krieges, als die militärische Führung der NATO noch in den Dimensionen großer Panzerschlachten dachte.
Hemmnisse für die Wirkung westlicher Kampfpanzer
Oberst Taatzen hält die Bedeutung der westlichen Kampfpanzer aufgrund ihrer geringen Anzahl für gering. In diesem Zusammenhang konstatiert er: „Sie sind sehr verschieden und können daher nur begrenzt zusammenwirken. Die englischen Panzer sind stark gepanzert, haben eine gute Feuerkraft, sind aber nicht sehr beweglich. Die Leoparden sind dagegen schnell im Gelände, und die Bradleys können nicht mithalten.“
Hinzu kommt ein weiterer Faktor, den Taatzen mit dem Stichwort „Beweglichkeit“ umschreibt. Demnach können die Kampfpanzer ihr Potenzial nur entfalten, wenn sie in koordinierter Bewegung eingesetzt werden. Zudem sei eine größere Anzahl erforderlich als die verfügbare. Taatzen kritisiert auch, dass die Panzer zu statisch eingesetzt würden und bislang vor allem als Panzerabwehrkanonen fungierten. Der größte Kritikpunkt ist für Taatzen allerdings die Unfähigkeit der Ukrainer, die westlichen Systeme organisch einzusetzen.
„Nur im Kampf der verbundenen Waffen entwickeln Kampfpanzer ihre volle Wirkung. Das wichtigste Element ist die gepanzerte Infanterie, die mit Schützenpanzern dem Panzer folgen und ihm die feindliche Infanterie vom Leibe halten kann. Pioniere kann man im Prinzip nicht genug haben. Eine starke Artillerie kann einen Angriff vorbereiten und den Feind niederhalten. Die gleiche Wirkung erzielt die Luftwaffe, wenn sie zum Beispiel mit speziellen Flugzeugen wie der Fairchild-Republic A-10 angreift, die speziell für den Bodenkampf entwickelt wurde.“
Taatzen weist darauf hin, dass der bewegliche Einsatz ein sehr hohes Ausbildungsniveau erfordere, wofür die Offiziere umfassend geschult werden müssten. „Den Kampf der verbundenen Waffen kann man nur nach jahrelanger Übung erlernen. Im Übrigen muss das ganze Heer darin geschult sein, nicht nur die Panzerkräfte.“
Der Mangel an Soldaten
Der dritte Einflussfaktor für das Stocken der ukrainischen Offensive ist bislang nur gestreift worden. Er besteht in den begrenzten Ressourcen, die Kiew zur Verfügung stehen. Seit Beginn des Krieges hat die Ukraine mit westlicher Hilfe zwölf Kampfbrigaden aufgestellt. Diese umfassen 40.000 Mann und können auf Waffensysteme der NATO zurückgreifen. Bislang hat die Ukraine nur vier dieser Brigaden eingesetzt, während sich acht in der Etappe befinden.
Die Frage ist nun, ob diese strategische Reserve dazu in der Lage ist, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen. Hierzu müsste sie zunächst einen passierbaren, d.h. minenfreien Korridor schaffen, um mit ihren gepanzerten Fahrzeugen vorzustoßen. Ebenso müsste sie drei russische Verteidigungslinien durchbrechen, um dann so schnell wie möglich an die Küste zu gelangen. In jeder dieser Phasen wäre sie feindlichem Feuer ausgesetzt.
Aus meiner Sicht sind vor dem Hintergrund der bisherigen Entwicklungen am Erfolg einer solchen Operation ganz erhebliche Zweifel angebracht.
So zeichnet sich ab, dass die Ukraine nicht genug Soldaten hat. Wie schnell es bei Vorstößen zu Verlusten kommt, haben die letzten Tage gezeigt. Das liegt vor allem auch an der russischen Luftüberlegenheit. Diese versetzt die Verteidiger in die Lage, feindliche Panzer aus einer Distanz von bis zu 8 Kilometer zu bekämpfen. Moderne Kampfhubschrauber wie der Ka-52 und das bewährte Erdkampfflugzeug Suchoi Su-25 sind Waffensysteme, denen das ukrainische Militär an der Front nur wenig entgegensetzen kann.
Die westlichen Luftabwehrsysteme vom Typ Iris-T und Patriot werden derzeit zur Verteidigung der Großstädte gebraucht. Um ihren Einsatz an der Front zu verhindern, hat Russland den Beschuss urbaner Ziele zuletzt erheblich verstärkt. Aber auch tausende Drohnen tragen zum Leidwesen der ukrainischen Soldaten bei, die die russische Artillerie mit Aufklärungsdaten versorgen.
Schließlich sind die Russen auch Experten in der elektromagnetischen Störung von feindlicher Kommunikation – eine Fähigkeit, die sich im Eifer hitziger Frontgefechte als entscheidend erweist.
Zu geringe Ressourcen?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die ukrainische Offensive auf einem zu durchschaubaren Kalkül basiert. Ihr Plan richtet sich gegen einen Gegner, der sich minutiös auf den erwarteten Angriff einstellen und das betreffende Terrain umfassend präparieren konnte. Und im Bereich der Luftwaffe bzw. Artillerie zudem eine massive Überlegenheit aufweist.
Diesem Bollwerk stehen Kampfbrigaden gegenüber, die nach NATO-Standards ausgerüstet sind. Zwar können ihre Angehörigen den einzelnen Panzer oder das jeweilige Geschütz bedienen. Den Kampf der verbundenen Waffen beherrschen sie jedoch nicht. Dies führt dazu, dass das gelieferte Material nie ihr volles Potenzial entfalten kann.
Letztlich wirken sich die zu geringen Ressourcen negativ aus. Um gut vorbereitete Verteidigungslagen zu bekämpfen, müsste das ukrainische Militär ganz andere Mittel einsetzen. Nicht mit zehn, sondern mit 250 HIMARS müssten einzelne Frontabschnitte bekämpft werden, um sodann mit massiven Panzerkräften unter dem Schutz von Grenadieren den Durchbruch zu wagen. Und selbst dann wären hohe Verluste keineswegs auszuschließen.
Wie schwer es ist, befestige Anlagen selbst mit großer Überlegenheit zu überwinden, zeigt die Schlacht der Seelower Höhen, die sich vom 16. bis 19. April 1945 ereignete. Obwohl die Rote Armee mit 77 Divisionen bzw. 1 Mio. Soldaten, 3155 Panzern und bis zu 20.000 Geschützen und Granatwerfern antrat, gelang es den nur unzureichend ausgerüsteten 120.000 deutschen Verteidigern, dem Feind empfindliche Verluste zuzufügen.
Als die Schlacht nach drei Tagen vorüber war, hatte die Rote Armee mehr als 70.000 Mann verloren, darunter 33.000 Gefallene. Auf der anderen Seite hatte die Wehrmacht, in deren Reihen damals kaum mehr erfahrene Soldaten kämpften, 700 sowjetische Panzer zerstört.
Natürlich kann man den Zweiten Weltkrieg nur bedingt mit dem Krieg in der Ukraine vergleichen. Nichtsdestoweniger bleiben die von Clausewitz definierten Elemente der strategischen Kriegführungen sowie die Gesetzmäßigkeiten von Angriff und Verteidigung gültig. Ihnen zufolge ist ein durchschlagender ukrainischer Offensiverfolg fraglich.
Hinzu kommt, dass die Anzahl der russischen Truppen in der Ukraine doppelt so hoch ist wie am 24. Februar 2022. Gerade erst hat Moskau frische Streitkräfte aus der Oblast Cherson abkommandiert. Sie gelten als besonders kampfstark und sollen den erwarteten ukrainischen Angriff abwehren.
Dass Russland in Zukunft weniger Soldaten zur Verfügung haben wird, ist zudem wenig wahrscheinlich. Am 13. Juni 2023 hat Wladimir Putin eine Änderung des Föderalgesetzes über das Verfahren der Aus- bzw. Einreise in die Russische Föderation unterzeichnet. Es zwingt Wehrpflichtige, ihren Reisepass innerhalb von 5 Tagen nach Erhalt des Einberufungsbescheid bei den Behörden abzugeben. Passiert das nicht, wird der Reisepass ungültig.
Wieder einmal zeichnet sich ab, dass das russische Militär die teils gravierenden Mängel in der strategischen Planung, der taktischen Führung und der Ausrüstung seiner Truppen mit der schieren Überlegenheit an Soldaten und Material kompensieren kann.
Inwieweit es der Ukraine gelingt, damit fertig zu werden, wird maßgeblich von der Ausdauer abhängen, die die westliche Staatengemeinschaft bei der Unterstützung Kiews an den Tag legt.