Thilo Sarrazin / 23.01.2020 / 06:25 / Foto: Achgut.com / 91 / Seite ausdrucken

Reiches Deutschland, armes Deutschland

Es gibt viele gute Gründe, beim Blick auf deutsche Zustände schlechte Laune zu bekommen. Das gilt insbesondere für die politischen Fehler und die mangelhafte Vorausschau in der Klimapolitik und der Migrationspolitik, wie immer man sie im Einzelnen bewertet.

Dagegen bereitet der Blick auf den Arbeitsmarkt und die öffentlichen Finanzen fast uneingeschränkte Freude:

Im Jahr 2019 gingen von den 82 Mio. Deutschen 45,1 Mio. einer bezahlten Arbeit nach. Auch das Arbeitsvolumen stieg auf ein Allzeithoch von 62,8 Mrd. Stunden. Die Zahl der Arbeitslosen hat einen historischen Tiefstand erreicht, und die deutsche Arbeitslosenquote lag 2019 mit 3,1% nur bei einem Drittel des Niveaus im übrigen Euroraum.

Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss hält sich auf einem Rekordniveau von 7,1% des BIP. Auch 2019 exportierten die Deutschen für 245 Mrd. € mehr an Waren und Dienstleistungen ins Ausland, als sie ihrerseits von dort in Anspruch nahmen. Das geht schon seit vielen Jahren so, und alle Wutanfälle von Donald Trump haben daran bislang nichts geändert.

Vom Defizit zum Überschuss

Gleichzeitig hat sich in den öffentlichen Haushalten Deutschlands ein Stabilisierungswunder vollzogen: 2005, als Gerhard Schröder das Kanzleramt an Angela Merkel verlor, betrug das öffentliche Defizit (inkl. Sozialversicherung) 79 Mrd. Euro, daraus ist bis 2019 ein Überschuss von rd. 50 Mrd. geworden. 2019 lag das staatliche Steueraufkommen bei 786 Mrd. Euro. Damit hat es sich in den 14 Jahren von Angela Merkels Regentschaft um 344 Mrd. Euro oder um 76% erhöht.

Allerdings greift der Staat dem Bürger weitaus tiefer in die Taschen als je zuvor. Die staatliche Abgabenquote ist während Angela Merkels Regentschaft von 36,1 auf 39,2% des BIP gestiegen. Die Wirkung dieser Mehrbelastung der Bürger für die öffentlichen Haushalte lag 2019 bei 104 Mrd. Euro. Gleichzeitig ist die Zinsbelastung des Staates dramatisch gesunken. Im Verhältnis zum BIP liegt die staatliche Zinsbelastung heute um 62 Mrd. Euro niedriger als noch im Jahr 2005. 

Höhere Steuerquote und niedrigere Zinsbelastung schlugen sich 2019 mit einer Gesamtwirkung von 166 Mrd. € in den öffentlichen Haushalten nieder. Wegen der zinsbedingten Ersparnisse und des Anstiegs der Steuerquote fiel es bis jetzt gar nicht weiter auf, dass die Zuwanderungswelle seit 2015 die staatlichen Haushalte und die Sozialversicherung jedes Jahr direkt und indirekt 30 bis 40 Mrd. Euro kostet.

Die wundersame Vermehrung der Bahn-Manager

Dagegen gerät mehr und mehr in den Fokus, dass viele öffentliche Ausgaben immer schlechter erfüllt werden:

Der Breitbandausbau geht nur im Schneckentempo voran. Selbst in Ballungszentren sind die Standards löchrig wie ein Schweizer Käse.

Die Staus auf Bundesstraßen, Autobahnen und den Einfallstraßen in die Städte werden immer länger. Die alternde Straßeninfrastruktur bröckelt vielerorts für sich hin.

Bei der jetzt auch schon 25 Jahre alten Bahnreform hat nur die Vermehrung der Manager und deren bessere Bezahlung funktioniert. Aber die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der ehemaligen Behördenbahn bleiben bis heute unerreicht. Wichtige Ausbauvorhaben, beispielsweise der Zulauf im Rheintal für die Schweizer Alpentransversalen, verzögern sich um Jahre und Jahrzehnte. Der Anteil der Güter auf der Schiene ist niedriger als vor 40 Jahren.

In der Bildungsleistung seiner Schüler fällt Deutschland immer weiter zurück. In den Schulen wird das Misslingen von Integration besonders augenfällig. In Ballungszentren wie Berlin oder Hamburg breitet sich ein bedrohlicher Lehrermangel aus. Die Kultusbehörden reagieren hilflos. Zehntausende von Quereinsteigern ohne fachliche Kompetenz sollen es jetzt richten.

Immer mehr Kliniken und Pflegeeinrichtungen haben Schwierigkeiten, genügend Ärzte und Pflegekräfte zu finden und dauerhaft zu binden. Junge Ärzte merken, dass sie in der Schweiz oder in Schottland deutlich besser verdienen und verlassen das Land in Scharen.

Zu all diesen Problemen fällt der deutschen Politik wenig oder nichts ein. Am Geld liegt es nicht. Deutschlands öffentliche Haushalte baden unter einer warmen Steuerdusche. Es fehlt dagegen an verantwortungsbewussten, weitblickenden Politikern in Bund, Ländern und Gemeinden, die für die öffentlichen Aufgaben ausreichendes Interesse aufbringen. Außerdem fehlt es an tüchtigen Verwaltungsleitern und Ministerialbeamten, die stolz darauf sind, für das öffentliche Wohl zu wirken. 

Die Reichen sollen es richten

Politik und Verwaltung befinden sich in Deutschland in einem gefährlichen Prozess geistiger und moralischer Austrocknung. Gestaltende Intelligenz, Ethos, Phantasie und Tatkraft sind dort Mangelware geworden. Vor 210 Jahren hatten starke Persönlichkeiten wie Wilhelm von Humboldt oder Freiherr vom Stein die preußische Niederlage gegen Napoleon in einen geistigen Sieg bei der Staatsreform verwandelt. Wo sind solche Geistesriesen heute? Sie sitzen jedenfalls nicht in deutschen Amtsstuben oder an Kabinettstischen, sondern haben wohl eher bei Amazon, Google oder Apple angeheuert. 

Nur eines wissen viele Politiker genau: Die reichen Leute unter den Bürgern – oder wen sie dafür halten – sollen irgendwie mehr bezahlen. Ihnen gegenüber darf man sogar wortbrüchig werden: Bei der Einführung des Solidaritätszuschlags im Jahr 1994 hatte die Bundesregierung ausdrücklich zugesichert, dass er nur zur Finanzierung des Solidarpakts für Ostdeutschland diene und zeitlich befristet sei. Jetzt ist der Solidarpakt ausgelaufen, aber für die obersten 10 Prozent der Einkommensteuerzahler, die 50 Prozent des jährlichen Aufkommens von 20 Mrd. Euro erbringen, soll der Solidarzuschlag unbefristet weiter erhoben werden. So war es der Wunsch der SPD, und die CDU/CSU hat sich dem gefügt.

Angesichts der Einnahmeflut in den öffentlichen Kassen sind finanzielle Gründe für diesen politischen Wortbruch weit und breit nicht in Sicht. Der neuen SPD-Führung ist dies aber nicht genug, darum fordert sie für "die Reichen" zusätzlich eine Vermögensteuer. Gerechtigkeitswahn siegt über den gesunden Menschenverstand, und die Lösung der wirklichen Probleme, die Deutschland drücken, gerät dabei aus dem Gesichtsfeld.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

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Jürgen Dannenberg / 23.01.2020

Derb Kommentar hat nur indirekt mit dem Artikel von Herrn Sarrazin zu tun. Also bitte Nachsicht. Herr Sarrazin, man hat sie gerade aus der SPD geschmissen. Den einigen rationalen Kopf den der Verein noch hat. Die SPD ist auf strammen Kommunisten Kurs. Also nicht betroffen sein, der Clement ist wegen vergleichbarer Positionen schon gegangen worden.

Johannes Schuster / 23.01.2020

Gerechtigkeit ist etwas Definiertes, und von der SPD wird sie langsam stalinistisch definiert. Gerecht ist es nicht die Reichen zu plündern und alles unter irgendwelchen Gender - Tanten - Migranten und für eine manisch - wahnhafte Klimajugend zu verteilen, bis die Einlagen - und damit meine ich nicht die in den Schuhen - weg sind und die totale ökonomische Krise endlich wie bestellt im Hause steht. Das ist nicht gerecht, das ist dämlich. Gerecht ist es die Leute gut verdienen zu lassen, die Körperschaften mal etwas über die Löhne am Gewicht des Goldes in den Taschen zu erleichtern und damit ist nicht die Privatkasse des Vorstandes gemeint. Daß VW seine Abgastricksereien über Abschreibungen zahlt ist weit aus schlimmer als 100 Milliardäre, deren Geld immerhin “arbeitet”. Billiglohn, Aufstockung und Hartz 4 als Reichsprogramm, die Unternehmen mit Überschüssen und der Vorstand enteignet, das ist purer Sozialismus, weil diese Konstellation unterstellt, daß die Unternehmen “Reichssache” sind - und wenn auch strukturiert wie die Organisation Todt “privatwirtschaftlich” erscheinen. Die Debatte über die “Gerechtigkeit” gleicht dem Aufbau des Nationalsazialismus mit anderen Mitteln. Am Ende bedarf es einer großen Krise, einer Forderung nach Verstaatlichung und der Aufbau wird rumpelfrei in das überführt, was vor 1945 bestand. Willkommen in Deutschland und seinen tausend Wegen zu sich zurück.

Christian Fuchs / 23.01.2020

Der Herr Sarrazin ist in der SPD wirklich gut aufgehoben. Im allgemeinen gehen Menschen wegen eines Einkommens und nicht mangels Arbeit einer Einkommenssituation nach. Ersteres braucht der Normalmensch zum zahlen seiner Rechnungen, zweiteres versuchen die Menschen ,die ich kenne, wenn möglich zu vermeiden. Wenn mangels geringer Kaufkraft die erzeugten Güter ins Ausland verfrachtet werden (im schlimmsten falle noch von deutschen Arbeitenden über Bürgschaften/Kredite bezahlt) gibt es einen Aussenhandelsüberschuss. Soviel Pech beim denken, da sollte er die Glücksuchenden in Ruhe lassen, bei unseren Eliten sind die auch Wurst, wenn Schland fertig, werden viele eh wieder gehen, das Wetter wird trotz Klimawandels nicht gut genug sein.

Bernd Feil / 23.01.2020

Ja, die Arbeitslosenzahlen sind im Zeitraum des Merkelismus drastisch gesunken. Das ist unstrittig. Unstrittig ist aber auch, dass im selben Zeitraum die prekären Jobs bei Zeitarbeit, und in anderen Sparten im Bereich des Niedriglohns dramatisch anstiegen. Nicht zu vergessen wären auch Hunderttausende, denen der Lohn für 160 Stunden reguläre Arbeit hinten und vorne nicht reicht und noch zusätzlich einem 450 Eurojob nachgehen müssen. Ständig erzählen unsere Politiker und die Merkelpresse, dass immer mehr Rentner arbeiten, weil es ihnen Freude bereitet. Von wegen, von 100 Rentnern arbeiten 80, weil die Rente nach 45 Berufsjahren nicht mehr ausreicht. Beispiel Mieten und Nebenkosten.

Stephan Bujnoch / 23.01.2020

Herr Sarrazin ist und bleibt ein scharfer Beobachter und Analyst. Auffällig, und das Problem der Medien in diesem Lande klar wiedergebend, ist jedoch, daß seine Beiträge zuerst in der Züricher Weltwoche erscheinen müssen. Offensichtlich ist keines unserer Qualitätsblätter in der Lage und willens, ihm eine Publikationsplattform zu bieten. Wahrscheinlich weil er als ein rechter Hetzer angesehen wird. So wie er aus der Außensicht einzuschätzen ist, kümmert ihn das herzlich wenig, Gott und ihm sei Dank!

Paul J. Meier / 23.01.2020

Und das wird noch dramatischer, die letzten Hemmungen scheinen über Bord geworfen, der Staat wird immer gieriger. Co2 Steuer und Negativ(straf)zinsen zeigen den Weg. Wobei ich Straf(!)zinsen als Begriff am unverschämtesten finde! Das zeigt die ganze unverschämte Aggressivität mit der an das Geld der Bürger gegangen wird, wenn man denen das hart erarbeitete und versteuerte Geld wegnimmt und das noch als Strafe bezeichnet!!! Und diese SPD meint mit diesen beiden Pfeifen an der Spitze zu alter Stärke zurückzufinden?! Seien sie froh Herr Sarrazin, dass sie von dieser Untergangspartei befreit sind. Auch wenn sie das anders sehen werden.

Hartmut Laun / 23.01.2020

++ ” Gerechtigkeitswahn siegt über den gesunden Menschenverstand “++ Herr Sarrazin fängt an zu schwächeln bei der genauen Verwendung der Begriffe: Herr Sararzin sagt: ” Gleicheitswahn siegt über den gesunden Menschenverstand “ Ein Forumsteilnehmer antwortet:  “Je mehr Gleichheit desto weniger Gerechtigkeit und umgekehrt.”

Jörg Themlitz / 23.01.2020

Natürlich auf einem anderem Niveau, aber so sah es in der DDR aus. Die großen, präsentierten Zahlen lasen sich sehr schön. Nur was der Bürger jeden Tag sah, fehlende Wohnungen, Straßen (z. B. Autobahnen) und Eisenbahn zerbröselt, Telekommunikation wie in den fünfziger Jahren, dringend renovierungsbedürftige Schulen und Kindergärten, Altersheime (in der DDR Feierabendheime genannt) die so alt und verfallen waren wie die Insassen, eine Forschung die am Boden lag, eine hohe, verdeckte Arbeitslosigkeit, also in jedem Betrieb, öffentliche Einrichtung etc. Leute die mit sich selbst beschäftigt waren. Und jeden der das kritisiert hat, nannte das DDR Fernsehen 1.0 Hass und Hetzer gegen den Sozialismus und den Weltfrieden. (Klima war noch nicht so.)

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