Michael Miersch / 15.06.2007 / 18:45 / 0 / Seite ausdrucken

Reden wir mal über unsere Gefühle

Kolumne von Maxeiner & Miersch erschienen in DIE WELT am 15.06.2007:

Jeder kennt aus dem Wetterbericht die „gefühlte Temperatur“. Starker Wind oder hohe Luftfeuchtigkeit lassen Kälte frostiger erscheinen, als sie tatsächlich ist. Die „gefühlte Temperatur“ ist somit keine objektive, sondern eine subjektive Angelegenheit. Diese Kälte kann man nicht messen - nur fühlen. Und so darf jeder behaupten, dass er ganz besonders schlimm friert. So funktioniert das auch in den Talkshows der Nation, wo häufig von „gefühlten“ Umständen die Rede ist.  Da geht es dann beispielsweise um „gefühlte Diskriminierung“ und „gefühlte soziale Kälte“. Auch „gefühlte Bedrohung“ durch Chemikalien, Heuschrecken oder Sittenverfall ist weit verbreitet. Wenn die jeweilige Beweis- oder Gesetzeslage keinen eindeutigen Schuldspruch zulässt, dann tritt das „gefühlte Unrecht“ an die Stelle kleinlicher Paragraphen.  Und die reicht zumindest auf dem Boulevard für eine glasklare Verurteilung des Missetäters, gegen die obendrein keine Revision möglich ist.

Im Jahr 2005 wurde gar der „gefühlte eindeutige Wille des Volkes“ zu Neuwahlen verspürt, und zwar von allen Parteien. Wozu also eine Verfassung mit Paragrafen und Artikeln? Eine „gefühlte Verfassung“ wäre eigentlich viel praktischer. Ferner könnte man fragen: Warum noch wählen, wenn im Volk doch ein „gefühlter eindeutiger Wille“ vorhanden ist? Das ganze ergäbe dann ein gefühltes Parlament. Ach ja, nach der Wahl gab es sogar einen gefühlten Gewinner, Gerhard Schröder, der es dann aber doch nicht war. Unser Idol Robert Gernhardt formulierte einmal einen wunderbaren Kalauer: „Was ist der Unterschied zwischen einer Bierflasche und Gefühlen? Die Bierflasche muss man aufmachen, und Gefühle muss man zulassen.“

Gernhardt möge uns auf seiner himmlischen Wolke verzeihen, aber wir wollen jetzt auch mal über unsere Gefühle reden. Die vergangenen zwei Wochen ist ja allerhand los gewesen. Die Pfingstferien und das schöne Wetter in Bayern führten zu zahlreichen Grillpartys in der Nachbarschaft. Der gefühlte Kohlendioxidausstoß lag dabei in der Größenordnung von drei chinesischen Kohlekraftwerken. Der gefühlte Prozentsatz von Männern, die zu diesem Anlass kurze Hosen und lächerliche Schürzen bevorzugt, betrug 95 Prozent. Die gefühlte Anzahl derer, die das besser sein lassen sollten, sogar hundert Prozent. Mitgefühlt haben wir hingegen mit Paris Hilton, die gefühlt lebenslänglich hinter Gittern sitzt.

Bei Gewitter saßen wir vor dem heimischen TV-Lagerfeuer. Immer mal wieder flimmerten die Indianerfestspiele in Heiligendamm oder der evangelische Klimagipfel in Köln über den Bildschirm. Die Dialogbereitschaft mit kampflustigen Autonomen näherte sich dabei einer gefühlten Sättigungsgrenze. Gefühlte 20 000 mal fielen die Worte „friedliche Demonstranten“ und „berechtigtes Anliegen“. In diesem Gefühlsüberschwang fühlte sich Kirchentagspräsident Höppner gleich noch in die verletzten Seelen der Taliban ein.

Die gefühlten afrikanischen Regierungschefs hießen Geldof und Bono, die gefühlten Häuptlinge von Attac Heiner Geißler und Herbert Grönemeyer. Die Anzahl von Fernseh-Kommentatoren, die dazu kritische Nachfragen stellten, lag bei gefühlten drei Prozent. Der Zusammenprall der europäischen Klimaschutz-Vorstellungen mit der Realität erfolgte mit der gefühlten Wucht der Kollision des Rennfahrers Robert Kubika in Montreal. Bemerkt haben es aber nur gefühlte fünf Prozent der Beobachter.

Eine gefühlte Allergie löst bei uns mittlerweile folgendes Magazin-Thema aus: „Das Klima kippt - was kann der Einzelne tun?“  Den Ratschlag man möge zwecks Weltrettung die Standby-Schaltung deaktivieren, hörten wir gefühlte 30 000 mal. Den gefühlten Höhepunkt dieser Woche lieferte uns jedoch die Schauspielerin Lisa Fitz während einer Diskussionsrunde bei RTL: „Ich habe vor der globalen Erwärmung viel weniger Angst als vor der globalen Verblödung.“

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Michael Miersch / 06.01.2015 / 00:18 / 14

Wir sind das Völkchen

Mist, jetzt war Gideon Böss schneller (hach, diese jungen Leute). Ich stelle meinen Erlebnisaufsatz dennoch auf die Achse, weil ich ihn jetzt nicht wegschmeißen mag.…/ mehr

Michael Miersch / 17.12.2014 / 21:43 / 4

Pegida, Düwida, Hogesa… und jetzt auch noch DAS:

“16. Dezember 2014 - Victoria Milan – eine Dating-Webseite für verpartnerte Personen, die auf der Suche nach einer Affäre sind – befragte 3.256 der männlichen…/ mehr

Michael Miersch / 11.11.2014 / 19:21 / 4

Es war einmal ein Energiekonzern, der wollte gaaanz, gaaanz lieb sein…

…und das kam dabei heraus: Pressemitteilung 11. November 2014 Mit Kuscheln Geld sparen Deutschland ist eine Kuschel-Nation. Hierzulande kuscheln rund 70 Prozent mindestens einmal pro…/ mehr

Michael Miersch / 08.11.2014 / 23:12 / 10

Konstantin will auch mal

Der Kokser mit der Knödelstimme, dessen politischer Horizont am Isarufer endet, will auch mal vorm Bundestag singen. Auf Facebook schreibt er: “Liebe Freunde, Wolf Biermann…/ mehr

Michael Miersch / 31.12.2013 / 21:13 / 1

So gelingt auch Ihre Silvesterparty

Der Jahreswechsel ist die Zeit der Prognosen, des Zeichendeutens und Wahrsagens. Wer seinen Charakter und seine Zukunft wirklich erkennen will, gibt sich nicht mit Bleigießen…/ mehr

Michael Miersch / 22.06.2013 / 17:15 / 0

Der Mann, der uns das Meer öffnete

Für heutige Menschen sind Taucherflossen, Atemgeräte und das Schwimmen unter Wasser etwas völlig Normales. Filme über Korallenriffe oder Wale gehören zum Standard der TV-Naturdokumentationen. Doch…/ mehr

Michael Miersch / 12.06.2013 / 13:11 / 0

Augstein ist nicht allein - die führende Klima-Fachpublikation gibt ihm recht

Lesen Sie hier, was die renommierten Experten erforscht haben: http://www.achgut.com/dadgdx/images/uploads/BILD_de_12_06_2013-0800_Uhr_2.pdf / mehr

Michael Miersch / 01.06.2013 / 18:48 / 0

Mit was befassen sich eigentlich die großen Energieversorger?

Zum Beispiel mit “klimaneutralem Laufen”. Im Ernst, lesen Sie selbst: Einladung zum Pressegespräch Start frei zur ersten klimaneutralen Laufserie E.ON setzt neue Maßstäbe im Bereich…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com