Kolumne von Maxeiner & Miersch erschienen in DIE WELT am 15.06.2007:
Jeder kennt aus dem Wetterbericht die „gefühlte Temperatur“. Starker Wind oder hohe Luftfeuchtigkeit lassen Kälte frostiger erscheinen, als sie tatsächlich ist. Die „gefühlte Temperatur“ ist somit keine objektive, sondern eine subjektive Angelegenheit. Diese Kälte kann man nicht messen - nur fühlen. Und so darf jeder behaupten, dass er ganz besonders schlimm friert. So funktioniert das auch in den Talkshows der Nation, wo häufig von „gefühlten“ Umständen die Rede ist. Da geht es dann beispielsweise um „gefühlte Diskriminierung“ und „gefühlte soziale Kälte“. Auch „gefühlte Bedrohung“ durch Chemikalien, Heuschrecken oder Sittenverfall ist weit verbreitet. Wenn die jeweilige Beweis- oder Gesetzeslage keinen eindeutigen Schuldspruch zulässt, dann tritt das „gefühlte Unrecht“ an die Stelle kleinlicher Paragraphen. Und die reicht zumindest auf dem Boulevard für eine glasklare Verurteilung des Missetäters, gegen die obendrein keine Revision möglich ist.
Im Jahr 2005 wurde gar der „gefühlte eindeutige Wille des Volkes“ zu Neuwahlen verspürt, und zwar von allen Parteien. Wozu also eine Verfassung mit Paragrafen und Artikeln? Eine „gefühlte Verfassung“ wäre eigentlich viel praktischer. Ferner könnte man fragen: Warum noch wählen, wenn im Volk doch ein „gefühlter eindeutiger Wille“ vorhanden ist? Das ganze ergäbe dann ein gefühltes Parlament. Ach ja, nach der Wahl gab es sogar einen gefühlten Gewinner, Gerhard Schröder, der es dann aber doch nicht war. Unser Idol Robert Gernhardt formulierte einmal einen wunderbaren Kalauer: „Was ist der Unterschied zwischen einer Bierflasche und Gefühlen? Die Bierflasche muss man aufmachen, und Gefühle muss man zulassen.“
Gernhardt möge uns auf seiner himmlischen Wolke verzeihen, aber wir wollen jetzt auch mal über unsere Gefühle reden. Die vergangenen zwei Wochen ist ja allerhand los gewesen. Die Pfingstferien und das schöne Wetter in Bayern führten zu zahlreichen Grillpartys in der Nachbarschaft. Der gefühlte Kohlendioxidausstoß lag dabei in der Größenordnung von drei chinesischen Kohlekraftwerken. Der gefühlte Prozentsatz von Männern, die zu diesem Anlass kurze Hosen und lächerliche Schürzen bevorzugt, betrug 95 Prozent. Die gefühlte Anzahl derer, die das besser sein lassen sollten, sogar hundert Prozent. Mitgefühlt haben wir hingegen mit Paris Hilton, die gefühlt lebenslänglich hinter Gittern sitzt.
Bei Gewitter saßen wir vor dem heimischen TV-Lagerfeuer. Immer mal wieder flimmerten die Indianerfestspiele in Heiligendamm oder der evangelische Klimagipfel in Köln über den Bildschirm. Die Dialogbereitschaft mit kampflustigen Autonomen näherte sich dabei einer gefühlten Sättigungsgrenze. Gefühlte 20 000 mal fielen die Worte „friedliche Demonstranten“ und „berechtigtes Anliegen“. In diesem Gefühlsüberschwang fühlte sich Kirchentagspräsident Höppner gleich noch in die verletzten Seelen der Taliban ein.
Die gefühlten afrikanischen Regierungschefs hießen Geldof und Bono, die gefühlten Häuptlinge von Attac Heiner Geißler und Herbert Grönemeyer. Die Anzahl von Fernseh-Kommentatoren, die dazu kritische Nachfragen stellten, lag bei gefühlten drei Prozent. Der Zusammenprall der europäischen Klimaschutz-Vorstellungen mit der Realität erfolgte mit der gefühlten Wucht der Kollision des Rennfahrers Robert Kubika in Montreal. Bemerkt haben es aber nur gefühlte fünf Prozent der Beobachter.
Eine gefühlte Allergie löst bei uns mittlerweile folgendes Magazin-Thema aus: „Das Klima kippt - was kann der Einzelne tun?“ Den Ratschlag man möge zwecks Weltrettung die Standby-Schaltung deaktivieren, hörten wir gefühlte 30 000 mal. Den gefühlten Höhepunkt dieser Woche lieferte uns jedoch die Schauspielerin Lisa Fitz während einer Diskussionsrunde bei RTL: „Ich habe vor der globalen Erwärmung viel weniger Angst als vor der globalen Verblödung.“