Cora Stephan / 08.10.2009 / 11:45 / 0 / Seite ausdrucken

Rechtsruck? Aber wo?

Man kann sie alle beruhigen, die nun vor einem Rechtsruck der Republik zittern – da ja doch „die Rechte“ die Wahl gewonnen habe.
Aber woher denn. Angela Merkel hat die Wahl gewonnen, jene Frau, die es geschafft hat, die Christdemokratische Partei Deutschlands in eine aus tiefstem Herzen sozialdemokratische Kraft umzuformen.

Mit ihr an der Spitze wird all das Schreckliche nicht eintreten, was insbesondere die gutwilligen und künstlerisch schaffenden Kreise der Republik befürchten: „eine absolute Katastrophe für Bildung, Umwelt und Frieden“, soziale Kälte, verschärfte Armut und neoliberales Teufelszeugs wie Studiengebühren und und ein bißchen mehr Selbstverantwortung der Bürger.
Keine Sorge: Angela Merkel hat ihre Lektion gelernt. Nicht, weil sie dem realsozialistischen Paradies auch nur eine Träne nachweinte oder ihren Grundkurs in Marxismus-Leninismus nicht vergessen könnte. Nein: weil sie Realistin ist. Und die muß zur Kenntnis nehmen, daß der Geist in dieser Republik nunmal irgendwie links steht und weht. Ja, es war nicht alles schlecht in der DDR und wer will schon gegen Gerechtigkeit sein oder sich vorwerfen lassen, er sei unsozial.
Eben. Und so werden andere in der künftigen Regierungskoalition jene Farben abdecken müssen, die in der CDU nicht mehr geflaggt werden: Guido Westerwelle wird den konservativen Ordnungspolitiker geben, der er nicht ist, und zu Guttenberg ist zum Liberalsein verpflichtet, im Falle Opel hat er ja schon mal geübt.
Rechtsruck? Achwas. Das derzeitige Farbenspiel ist völlig quer und zugleich ganz und gar konsequent.
Der politische Mythos und die entsprechende Begrifflichkeit in diesem Land sind heute mehr denn je von linken Gleichheits- und Umverteilungsvorstellungen geprägt – und von einem Grundton, der in jedem Bürger den zuwendungsbedürftigen, armen oder doch wenigstens von Armut bedrohten Empfänger staatlicher Leistungen sieht. Der kleine Rest der deutschen Welt sind die Reichen, denen man nehmen muß, damit man geben kann.
Dieser Weltsicht kommt man weder mit Verweis auf die Realität noch mit Ideologiekritik bei. Denn sie entspricht der Wirklichkeit und den materiellen Interessen nicht aller, aber eines großen Teils der Bevölkerung, all jener nämlich, die in der einen oder anderen Weise vom Staat abhängig sind, und das sind nicht die Armen, das ist ein durchaus buntscheckiger Haufen: Angestellte und Beamte im öffentlichen Dienst, Menschen, die von Hartz-IV leben, Rentner und Pensionäre, Bezieher von Mutter- und Kindergeld, Parteifunktionäre undsoweiter undsofort. Und diese Empfänger von Transfereinkommen, von Geld also, das der Staat anderswo eingesammelt hat, stellen mittlerweile auch die Wählermehrheit.
Eine Partei wie die CDU, die Mehrheiten erzielen will, hat diese Interessen zu berücksichtigen – auch wenn sie damit ihr Profil und ihren Besitzstand gefährdet. Und deshalb haben wir eine sozialdemokratisierende Kanzlerin, die nicht mehr durchregieren, sondern soziale Wärme verbreiten will.
Nur eine Minderheit steht alleingelassen im Wind: die schrumpfende Gruppe all jener, die zum Produktivvermögen der Republik beitragen und mit ihren Steuern die staatliche Umverteilung erst ermöglichen. Sie sind schon seit Jahrzehnten die großen Unbekannten Deutschlands, graue Gestalten, mißtrauisch beäugt von allen berufenen Sachwaltern der sozialen Gerechtigkeit, schwer identifizierbar und kaum benennbar.
„Die Besserverdienenden“? Damit hat sich die FDP mal einen schweren Karriereknick eingehandelt, und zwar leider nicht deshalb, weil diese Bezeichnung gar nicht zutrifft. „Leistungsträger“? Erweckt entschieden weniger solidaritätsbereite Emotionen als „Hartz-IV-Empfänger“. „Mittelschicht“? Ist erst salonfähig, seit man vom drohenden Abstieg derselben weiß.
Nein, die großen Unbekannten sind Menschen wie du und ich, nicht arm, nicht reich, denen ihre Arbeit Spaß macht und die manchmal sogar verschämt zugeben, daß sie etwas leisten und etwas erreichen möchten und daß sie es schön finden, das Bruttosozialprodukt zu mehren. Zumal es ihr soziales Gewissen befriedigt, daß ihre Steuern allen helfen, die Hilfe benötigen. Nennen wir sie, die Produktiven, doch einfach – die Arbeiterklasse. Und diese sonst so Geduldigen können nur eins nicht leiden: wenn sie sich als ausgebeutete Minderheit fühlen müssen
Völker, hört die Signale!

DeutschlandRadio, Politisches Feuilleton, 7. Oktober 2009

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