Von Alexander Peukert.
Seit mehr als zweieinhalb Jahren steht die deutsche Grenze offiziell jedem offen, der ein Asylbegehren äußert. Was im ersten Moment als Ausnahme präsentiert worden war, ist längst zum Normalfall, ja zum Teil des Regierungsprogramms geworden. Waren es in den Monaten nach der Grenzöffnung vom 4./5. September 2015 Tausende täglich, sollen es in der laufenden Legislaturperiode planmäßig immer noch bis zu 500-600 Menschen (180.000-220.000 ÷ 365) täglich sein, die einreisen dürfen, obwohl sie oftmals über kein gültiges Ausweisdokument und jedenfalls über kein Schengen-Visum verfügen. Erforderlich und ausreichend ist allein, dass um Schutz nachgesucht wird. Nicht verwunderlich ist, dass eine solche Politik der allenfalls grobmaschig quantitativ kontrollierten Zuwanderung unverändert die Öffentlichkeit bewegt. Schon eher erstaunlich ist, wie unpräzise, widersprüchlich und regelrecht irreführend über diese Situation debattiert wird:
Ein AfD-Antrag und seine Ablehnung
Die AfD-Fraktion im Bundestag stellte im November 2017 den Antrag, der Deutsche Bundestag möge die Bundesregierung auffordern, sofort einen vollständigen und effektiven Schutz der deutschen Grenze – einschließlich der grünen Grenze – zu gewährleisten und diese umfassenden Grenzkontrollen so durchzuführen, dass eine Zurückweisung von Personen ohne ausreichende Einreisedokumente auch dann erfolgt, wenn diese an der Grenze einen Asylantrag stellen. Dieser Antrag ist am 16. März mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt worden. Zur Begründung hieß es in der Debatte unter anderem, der Antrag der AfD sei mit dem Grundsatz der Freizügigkeit in der EU unvereinbar und daher „rechtlich unmöglich“.
Diese Kritik ist insoweit berechtigt, als Artikel 22 Schengener Grenzkodex bestimmt, dass die Binnengrenzen zwischen Schengen-Mitgliedern, also zwischen Deutschland und allen seinen Nachbarn, „unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden“ dürfen. Kontrollen dürfen an diesen Binnengrenzen nur nach Maßgabe eng begrenzter Ausnahmevorschriften stattfinden und dabei „in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung [der öffentlichen Ordnung oder … inneren Sicherheit] unbedingt erforderlich ist“. Die Wiedereinführung unbefristeter und umfassender Kontrollen auf den Land-, Luft- und Seewegen oder gar die flankierende Errichtung eines Zauns entlang der grünen Grenze ist vom geltenden EU-Recht nicht vorgesehen. Das wäre das Ende des Schengener „Raums ohne Kontrolle an den Binnengrenzen“.
Allerdings sieht es mit den juristisch nachvollziehbaren Argumenten der Verteidiger der Politik offener Grenzen keinesfalls besser aus. Denn die gegenwärtige, durch die Ablehnung des AfD-Antrags perpetuierte Praxis steht weder mit den Schengen- noch mit den Dublin-Regeln des EU-Rechts in Einklang:
Doppelzüngigkeit und Souveränität
Was erstens Schengen, also die grundsätzliche Abwesenheit von Kontrollen an den Binnengrenzen angeht, so argumentieren die Fraktionen von CDU/CSU und SPD zunächst offensichtlich widersprüchlich. Sie lehnen Grenzkontrollen ab, die die von ihnen gestellte Bundesregierung seit dem 13. September 2015 an der deutsch-österreichischen Grenze bis zum heutigen Tage aus genau denjenigen Gründen durchführt, auf die die AfD ihren Antrag stützte, nämlich eine erhebliche illegale Migration nach Deutschland und die hiermit verbundene terroristische Bedrohungslage. Nur zwei Tage, nachdem sich CDU- und CSU-Abgeordnete im Bundestag über den AfD-Antrag echauffiert hatten, forderten Bundesinnenminister Seehofer (CSU) und der sächsische Innenminister Wöller (CDU) die Fortsetzung und ggf. sogar den Ausbau der Kontrollen an deutschen Grenzen.
Schwerer als diese Doppelzüngigkeit wiegt der bisher kaum beachtete Umstand, dass höchst zweifelhaft ist, ob die derzeit durchgeführten Kontrollen rechtmäßig sind. Zwar erteilte die Europäische Kommission im Oktober 2015 grünes Licht, und der Rat der EU empfahl sogar drei Mal die Fortsetzung der von Dänemark, Deutschland, Österreich, Schweden und Norwegen aufgrund der Migrationskrise wieder eingeführten Grenzkontrollen. Allerdings sind die hierfür in den Artikeln 25-29 Schengener Grenzkodex vorgesehenen Höchstfristen nach zwei Jahren und zwei Monaten mit dem 12. November 2017 endgültig abgelaufen. Deshalb hatte der EU-Rat die Grenzkontrollen auch nur letztmalig bis zu diesem Zeitpunkt akzeptiert. Die Europäische Kommission hat zwar die Verlängerung der zulässigen Höchstfristen auf insgesamt vier Jahre vorgeschlagen, das betreffende Gesetzgebungsverfahren ist aber noch anhängig. Deshalb bleibt der Kommission nichts anderes übrig, als die Mitgliedstaaten geradezu anzuflehen, von förmlichen Grenzkontrollen zu Schengen-konformen Hinterlandkontrollen überzugehen.
Worauf die genannten Mitgliedstaaten einschließlich Deutschland ihre Maßnahmen an den Binnengrenzen seither stützen, ist unklar. In einer Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums zu den gegenwärtigen Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze ist nebulös von Maßnahmen „im Rahmen des Schengenrechts in nationaler Souveränität“ die Rede. Was die Bundesregierung hier zieht, ist offenbar der Joker des Art. 72 AEUV. Demnach berührt die Bildung eines EU-weit einheitlichen Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen (Art. 67 AEUV) „nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.“ Unter Berufung auf dieses Residuum nationaler Souveränität könnte letztlich auch der AfD-Antrag für sich in Anspruch nehmen, im Einklang mit dem Unionsrecht zu stehen.
Doch reichen die Probleme der gegenwärtigen Grenzkontrollpraxis tiefer. Die am 13.9.2015 eingeführten Grenzkontrollen kranken seit jeher an einem fundamentalen Widerspruch, der sie prinzipiell disqualifiziert. Dieser Widerspruch besteht darin, dass die Grenzkontrollen mit einem großen, unkontrollierten Zustrom irregulärer Migranten gerechtfertigt werden, dass sie gerade insoweit aber nicht wirksam sind und auch nicht sein sollen. Denn eine Einreise in das Bundesgebiet wird auch ohne gültige Einreisepapiere und damit ohne Identitätsfeststellung gestattet, wenn ein Schutzbegehren geäußert wird. Weil es so schön ist, das Paradox nochmals in anderen Worten: Kontrolle an der Grenze, aber nicht für die, die kontrolliert werden sollen. Zurückgewiesen wird nur, wer nicht rein will. Grenze ohne Begrenzung. Ein solcher Wahnsinn (Wolfgang Streeck) ist mit dem geltenden Schengen-Recht zu keinem Zeitpunkt vereinbar gewesen. Denn die Kontrollen tragen „zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung“ (Art. 25 Schengener Grenzkodex), auf die sie angeblich reagieren, nichts bei.
Es gibt keine Pflicht, jeden an der Grenze aufzunehmen
Aber, so die Redner, die dem AfD-Antrag entgegentraten: Diesen fundamentalen Widerspruch können wir nicht beseitigen, weil uns das EU-Asylrecht daran hindert. Deutschland darf Antragsteller an seinen Grenzen nicht zurückweisen. Das Schutzbegehren verpflichtet die Grenzbehörden, die Einreise zu erlauben.
Die in der Plenardebatte am 16. März 2018 hierfür vorgebrachten Argumente tragen allerdings nicht. Auf die häufig vorgebrachte „Freizügigkeit“, also das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten zu dürfen, können sich nach EU-Recht nur Unionsbürger und ihre Familienangehörigen berufen, nicht aber Drittstaatsangehörige. Ein von einem FDP-Abgeordneten mit sichtlicher Genugtuung referiertes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu § 26a Abs. 2 AsylG, der im AfD-Antrag in der Tat prominent genannt wird, hat mit der Frage von Zurückweisungen an der Grenze ebenfalls nichts zu tun. Das Urteil betrifft vielmehr die nachgelagerte Frage, ob ein im Inland gestellter Asylantrag als unzulässig abgelehnt werden darf, weil die Einreise über einen sogenannten sicheren Drittstaat erfolgte (angeblich nein). Mit § 18 AsylG, der die Aufgaben der Grenzbehörden in Asylsachen regelt, befasst sich die Entscheidung nicht.
Ein CDU-Abgeordneter behauptete im Gegensatz zur früheren Einschätzung seines Parteifreundes und ehemaligen Bundesinnenministers de Maizière, die Bundesrepublik sei ohnehin für viele Antragsteller zuständig, weil sich hier bereits Familienmitglieder befänden oder der Ersteinreisestaat wegen systemischer Mängel in seinem Asylsystem ausfalle. Diese Auffassung läuft jedoch der Dublin-III-Verordnung diametral zuwider, deren Zuständigkeitsregeln auf zwei einfachen Prinzipien beruhen: Erstens dürfen sich die Antragsteller ihr Ziel nicht aussuchen. De iure reisen sie nicht, sie fliehen. Demgemäß müssen sie ihren Asylantrag im ersten Mitgliedstaat stellen, den sie betreten. Denn dort sind sie in Sicherheit vor Verfolgung und Krieg. Reisen sie dennoch weiter, handelt es sich im EU-Jargon um „irreguläre“, und das heißt im Klartext: rechtswidrige Migration. Zweitens und hiermit korrespondierend liegt die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen grundsätzlich bei demjenigen Staat, in dem sich ein Drittstaatsangehöriger jeweils aufhält. Denn, so der EU-Gerichtshof, dieser Ersteinreise- oder Transitstaat ist für die Einreise und den momentanen Aufenthalt des Ausländers verantwortlich. Stellt sich bei der dort vorzunehmenden Prüfung heraus, dass ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, muss ein förmliches Aufnahmeverfahren durchgeführt werden. Dieses System war, wie der EUGH mehrfach betont hat, zu jedem Zeitpunkt sowohl von den Migranten als auch von den Mitgliedstaaten zu achten. Selbst auf dem Höhepunkt der Migrationskrise hat das Recht seinen Anspruch, zu ordnen, nicht aufgegeben.
Zwar steht es der Bundesrepublik – wohlgemerkt im Rahmen des Unions- und des nationalen Verfassungsrechts – frei, sich irregulären Migranten anzunehmen. Doch ist sie nach einem weiteren Urteil des EUGH zu einem solchen Selbsteintritt nicht verpflichtet. Der damalige Justizminister Maas tat überdies im Januar 2016 in der Presse kund, die Bundesregierung habe den Selbsteintritt bereits im November 2015 beendet. In der Tat trägt der einschlägige Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung nur Entscheidungen in begrenzten Ausnahmefällen, nicht hingegen eine unbefristete Politik der offenen Grenze.
Und so ist bis heute unklar, worauf die Bundesregierung ihre diesbezügliche Praxis stützt. Die Fraktion DIE LINKE und nochmals die Abgeordnete Dağdelen hatten bereits in der abgelaufenen Legislaturperiode entsprechende kleine Anfragen gestellt und die Antwort erhalten, eine Zurückweisung sei zwar „im Rechtsrahmen der Dublin-III Verordnung und des § 18 AsylG zulässig“, „Maßnahmen der Zurückweisung an der Grenze mit Bezug auf um Schutz nachsuchende Drittstaatsangehörige“ kämen aber „derzeit nicht zur Anwendung“ (hier und hier). Zwei AfD-Anfragen haben in der Zwischenzeit nur noch zutage gefördert, dass die Anweisung, bei den Grenzkontrollen Asylantragsteller nicht zurückzuweisen, „im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung getroffen“ und dem Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums von Thomas de Maizière am 13.9.2015 „mündlich“ überbracht worden sei (hier und hier). Weitere Aufklärung ist zumindest vorläufig nicht zu erwarten. Denn die überwältigende Mehrheit des Bundestages, darunter die geschlossene Fraktion DIE LINKE, möchte von der Bundesregierung keine weitere Auskunft, „auf welcher Rechtsgrundlage sie die Praxis, auf die Möglichkeiten der Zurückweisung zu verzichten, zugelassen hat und weiter zulässt.“ Eine entsprechende Aufforderung im AfD-Antrag zur Grenzkontrolle und zur Zurückweisung von Asylantragstellern wurde am 16. März ebenfalls abgelehnt.
Regierungslinie ohne tragfähige juristische Begründung
Dieser Verzicht auf weitere Aufklärung wird im Bundesinnenministerium für Erleichterung gesorgt haben. Denn die dortigen Beamten wären – wie hier auf der Achse ausführlich dargetan wurde – damit gescheitert, eine tragfähige juristische Begründung für die Regierungslinie zu formulieren. Weder das deutsche Recht noch das EU-Recht kennen eine Rechtsgrundlage für die informelle Anordnung vom 13. September 2015, Asylantragsteller ohne Rücksicht auf Identitätspapiere einreisen zu lassen, und ihre Durchführung in hunderttausenden Fällen seither.
Im Gegenteil. Die Dublin-III-Verordnung gebietet es sogar, Asylantragstellern die Einreise in das Bundesgebiet zu verweigern, wenn ein solcher Antrag bei Kontrollen an der Grenze gestellt wird, die genau auf diesen Sachverhalt zugeschnitten sind. Dies ergibt sich aus einer oftmals ignorierten und auch im AfD-Antrag nicht konsequent umgesetzten Vorschrift, auf die ich mit drei Kollegen im Frühjahr 2016 hinwies (hier und hier). Und zwar bestimmt Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung nach dem ausdrücklich erklärten Willen des historischen Unionsgesetzgebers, dass Personen, die ihren Asylantrag an der Binnengrenze zwischen zwei Mitgliedstaaten stellen, an den Ankunftsstaat zu verweisen sind. Wohlgemerkt zu verweisen, nicht pauschal und formlos zurückzuweisen. Denn der Asylantrag ist zu dokumentieren, die zuständigen Behörden des Ankunftsmitgliedstaats sind zu informieren, und der Antragsteller ist darüber zu unterrichten, dass dieser Transitstaat und nicht der gewünschte Zielstaat die Dublin-Zuständigkeitsprüfung durchzuführen hat. Diese Lösung steht im Einklang mit den Grundprinzipien des Dublin-Systems: Unter Wahrung der Rechte des Antragstellers wird irreguläre Sekundärmigration unterbunden und zugleich die Verantwortung des Mitgliedstaats aktiviert, über dessen Territorium der Migrant an die Binnengrenze gelangt ist.
Diese bisher noch nicht praktizierte Verweisungslösung ist mit einem bürokratischen Aufwand verbunden, der aber zu bewältigen sein sollte. Der EUGH hat bereits entschieden, dass die erste Asylantragstellung „im Wesentlichen eine Formalität darstellt“ und kein persönliches Gespräch geführt werden muss. Außerdem sind die deutschen Grenzbeamten nicht verpflichtet zu prüfen, ob Deutschland für den konkreten Antragsteller vielleicht doch zuständig ist. Diese Prüfung hat vielmehr im Transitstaat, also namentlich in Österreich, zu erfolgen. Würde die Verweisungsnorm des Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung konsequent beachtet und seine systematische Implementierung auch öffentlich bekanntgemacht, entfiele der von Deutschland ausgehende Pull-Faktor, der das Gemeinsame Europäische Asylsystem unverändert erheblich stört, weil er zu irregulärer Sekundärmigration beiträgt.
Außen und innen, innen und außen
Solange die Bundesregierung diese Rechtslage ignoriert und stattdessen die Anziehungskraft des deutschen Sozialstaats erstrahlen lässt, ist mit einer Rückkehr zum Schengener und Dubliner Normalzustand nicht zu rechnen. Zurückführen lassen sich die gegenwärtigen Verwerfungen auf diametral entgegengesetzte Ansätze des Schengen- und des Dublin-Systems, die den versprochenen „einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 67 Abs. 1 AEUV) auseinandertreiben:
Das Schengen-System ist nach außen geschlossen und nach innen offen. Das heißt, dass die Außengrenzen des Schengen-Raums nur von Unionsbürgern sowie von solchen Drittstaatsangehörigen überschritten werden dürfen, die die im Grenzkodex niedergelegten Einreisevoraussetzungen erfüllen, also insbesondere über ein gültiges Reisedokument und ggf. ein Visum verfügen. Allen anderen Personen „wird die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert“ (Art. 14 Abs. 1 Schengener Grenzkodex). Wem hingegen die Einreise gestattet wurde, der darf die Binnengrenzen der an Schengen beteiligten Staaten an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschreiten, und zwar unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit (Art. 22 Schengener Grenzkodex).
Das Dublin-System ist genau umgekehrt nach außen offen und nach innen geschlossen. Wird an der Außengrenze ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt, ist dieser zu prüfen und zu diesem Zweck die Einreise zu gestatten. Denn die EU steht nach ihrem eigenen Anspruch „allen offen …, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen.“ Anders als Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Inhaber von Schengen-Visa dürfen sich diese Drittstaatsangehörigen in der Union aber gerade nicht frei bewegen. Ihre Weiterreise in andere Mitgliedstaaten stellt eine irreguläre Sekundärmigration dar, der das EU-Recht durch zahlreiche Regelungen, nicht zuletzt durch den Verweisungsmechanismus des Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung entgegenwirkt.
Es bedarf keiner großen Phantasie, um zu erkennen, dass die Kombination dieser Grenz- und Asylregime eine explosive Mischung ergibt. Sobald viele Personen Asylanträge an den Außengrenzen stellen, brechen die Asyl- und Sozialsysteme an der Peripherie zusammen. Die Antragsteller wandern dann „irregulär“ in andere Mitgliedstaaten weiter, in denen sie bessere Bedingungen vorfinden. Grenzen müssen sie hierfür nicht überwinden, denn die gibt es nicht mehr. Das Chaos breitet sich von der Peripherie in das Zentrum aus. Die Kraft dieser Bewegung ist zwar gedrosselt, aber keineswegs erloschen. Wie die Europäische Kommission im März mitteilte, stellt sich die Migrationssituation an vielen EU-Außengrenzen als prekär dar. Die verzweifelten Versuche, die Löcher in den Außengrenzen mit Geld zu stopfen, fruchten nur teilweise und sind durch die verfügbaren Haushaltsmittel limitiert.
Jenseits des Rechts
In dieser widersprüchlichen Ausgestaltung stößt das Recht der Staatsgrenze an seine Grenzen. Das gilt auch in prozessualer Hinsicht. Denn eine gerichtliche Überprüfung der gegenwärtigen Politik praktisch offener Grenzen aus Sicht der Kritiker steht kaum zu erwarten. Ein subjektives Recht des deutschen Staatsbürgers auf Einhaltung des Grenzregimes gibt es nicht. Zwar wären die Europäische Kommission und auch andere Mitgliedstaaten befugt, Deutschland wegen Missachtung der Dublin- und Schengen-Regeln in einem sog. Vertragsverletzungsverfahren vor den EUGH zu zitieren. Doch dürfte jedenfalls die Kommission kaum geneigt sein, einen Motor der Integration in dieser neuralgischen Frage an den Pranger zu stellen.
Wenn das Recht an seinen inneren Widersprüchen scheitert, treten andere Unterscheidungen an seine Stelle. Diese sind offenbar politischer Art. Je länger die im Unionsrecht angelegten Widersprüche herrschen, desto weiter werden sich die politischen und sozialen Konflikte um die unkontrollierte Einwanderung nach Europa zuspitzen. Der AfD-Antrag und seine Ablehnung durch alle anderen Parteien markiert insoweit die neue, in allen Ländern des Westens sichtbare Trennlinie: Auf der einen Seite das „progressive“ Lager derjenigen, die die hier beschriebenen Phänomene gar nicht, als normal oder als interessantes Experiment der Entgrenzung wahrnehmen, auf der anderen Seite das konservative Lager derjenigen, die in mittel- und langfristiger Perspektive um die Ordnung bangen, die ihnen der Rechtsstaat auf seinem Territorium verspricht. Wo die Staatsgrenzen fallen, werden neue Gräben gezogen.
Prof. Dr. Alexander Peukert ist Inhaber eines Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main