Quentin Quencher / 16.02.2022 / 14:00 / Foto: Achgut.com / 23 / Seite ausdrucken

Rebellischer Egoismus

Gerne habe ich erzählt, wie ich mich zum Oppositionellen in der DDR entwickelt habe und vom Ringen um die Freiheit. Womöglich habe ich meine Sehnsucht nach Freiheit moralisch überhöht, um selbstlos zu wirken.

Fast beginne ich mich zu schämen dafür, dass ich mich, meine Mitmenschen und Freunde, ja auch die Öffentlichkeit getäuscht habe. Gerne habe ich erzählt, wie ich mich zum Oppositionellen in der DDR entwickelt habe; wie ich meine entwickelten Überzeugungen und den Kampf für die Freiheit dann moralisch begründete. Doch es mehren sich die Zweifel in mir, ob diese Darstellung wirklich so stimmt. Womöglich bin ich einem Irrtum aufgesessen und habe meine Sehnsucht nach Freiheit moralisch überhöht, wollte mich ein bisschen so sehen wie der Selbstlose, der sich opfert, um für das Gute zu kämpfen.

Doch das war eine Selbstlüge, mir ging es hauptsächlich um mich selbst und meine Familie. Viel zu kritisch stand ich meinen Mitmenschen gegenüber – deren Opportunismus ich verachtete – als dass ich Hoffnung gehabt hätte, in diesem Land DDR ließe sich etwas grundlegend Richtung Freiheit ändern. „Ja, aber die Montagsdemos!“ werden nun sicher viele einwenden „die haben doch gezeigt, dass der Ruf nach Freiheit eben doch Systeme stürzen und verändern können.“ Diesbezüglich möchte ich nicht widersprechen, allerdings zweifle ich eben an, dass diese Widerstandsbewegung aus selbstlosen Motiven gespeist wurde, sondern, die Sehnsucht nach Freiheit in allererster Linie vom Egoismus getragen wurde. Erste Andeutungen machte ich hier schon mal darüber.

Was passiert, wenn man sein Ziel erreicht hat

Warum dieser Rückblick? Nun, weil es aktuell wieder viele Demos gibt, bei denen nach Freiheit gerufen wird und es damals wie heute der Zorn ist, der die Menschen auf die Straße treibt. Es geht und ging ganz egoistisch ums „Freiheit haben wollen“ und nicht um eine Utopie oder Moral, auch nicht ums Grundgesetz. Deswegen geht keiner auf die Straße, jedenfalls nicht in Deutschland. Gut, vielleicht ist eine kleine Minderheit von Idealisten auch dabei, die sind ganz nützlich, weil sie doch gute Argumente liefern, die dem Zorn eine höhere Bedeutung geben. Wer gibt schon gerne zu, dass der Ursprung der eigenen Wut hauptsächlich auf egoistische Motive zurückzuführen ist. Damals war es die Reisefreiheit und die D-Mark, nach der die Masse hauptsächlich begehrte, heute die Freiheit, über den eigenen Körper selbst zu entscheiden oder ein Fest feiern zu dürfen. Eine Idee davon, was Freiheit ist, die theoretische Beschreibung und Formulierung, steht dabei nicht im Vordergrund, es wird nur so getan, als ob das so wäre, wie bei mir damals, als ich aus der DDR wegwollte.

Einleitend schrieb ich über meine Scham und die Selbsttäuschung, hehre Motive für mein Tun gehabt zu haben, wo es aber doch mehr mein Egoismus war, der mich dazu trieb, das zu tun, was ich tat. Der Schrei nach Freiheit ist immer der des Gefangenen, der seine (!) Freiheit einfordert. Was der Schreiende dann tut, wenn er es tatsächlich geschafft hat, seine Freiheit wieder zu erlangen, muss hier jetzt auch angesprochen werden, denn mit dem Eintritt des Erfolges löst sich die Masse auf. Dann trennen sich die Egoisten ab und leben ihr Leben, sie haben ihr Ziel erreicht. Genau das tat ich, als ich 1983 mit meiner damaligen Familie in Stuttgart heimisch wurde, und vermutlich wird dies bei den späteren Montagsdemonstranten nicht viel anders gewesen sein. Die Mauer war gefallen, die D-Mark gekommen, die Wiedervereinigung geschafft. Jetzt ging es darum, das Erreichte auszuleben, neue Ziele zu finden, die Möglichkeiten auszukosten, welche die neue Freiheit bot.

Die Idealisten bleiben übrig, halten Sonntagsreden, sammeln sich in Vereinen oder Parteien und verwalten die von den Egoisten erkämpfte Freiheit, während diese nun die Freiheit leben und erleben. Nein, dafür will ich mich nicht mehr schämen, und sollte mich in Zukunft mal wieder jemand als Egoist beschimpfen wollen, werde ich antworten: „Danke für das Kompliment! Ja, ich bin ein rebellischer Egoist!“

Der Beitrag ist ebenfalls auf Glitzerwasser erschienen.

Foto: Achgut.com

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

M. Quadermüller / 16.02.2022

Natürlich ist es Egoismus. Mir ist es vollkommen egal, ob sich irgendein hysterischer Propagandafolger einen Lappen ins Gesicht steckt. Ich bin da ziemlich tolerant. Ja, ich lache ihn/sie/es auf der Straße dafür aus. Aber letztlich ist es sein Problem und ich schließe Maulkorbträger von der Kommunikation mit mir kategorisch aus. Es ist mir genauso egal, wenn derselbe Hysteriker sich oder seine Kinder per Hauftungsausschlußerklärung mit einer oder vielen Spritzungen keulen läßt. Es ist sein Problem, es bleibt sein Problem und er darf es auch gerne behalten, solange er/sie/es nicht von mir erwartet, daß ich mir sein Problem zueigen mache.

Christian Feider / 16.02.2022

Ich sehe es so,das das GG Abwehrrechte gegen den staatlichen Übergriff definiert,die NICHT verhandelbar sind.(Ausser durch Gerichtsbeschluss im Individualfall nach Kriminalität) Insofern mögen viele Spaziergänger egoistische Ziele haben,es geht aber im Grossen darum,das diese “Republik” sich in die falsche Richtung entwickelt,weg vom GG und hin zum chinesischen “SocialCredit” System und deshalb Widerstand durch Protest vollkommen legitim ist. Ob das jetzt der eine oder andere von Malle träumt oder von der Kneipe,ist vollkommen wurscht und egal

T. Schneegaß / 16.02.2022

Wenn Freiheit leben und erleben ein egoistisches Ansinnen darstellt, bin ich gern ein bekennender Egoist und wünschte, es gäbe mehr, die in Zeiten eines sich einschleichenden Faschismus zu rebellische Egoisten würden. Übrigens nebenbei: es ist jetzt Mittwoch 19 Uhr Moskauer Zeit und noch immer hat Russland die Ukraine nicht überfallen. Olaf wird doch gestern Putin nicht mit der Bundeswehr gedroht haben?

Bernhard Maxara / 16.02.2022

Bei genauer Überlegung werden auch Sie, Herr Quencher, mir beistimmen, wenn ich behaupte, daß uns Denkende von heute mit Ihnen und vielen anderen damals in der DDR eines verbindet: Das Verlangen nach der Freiheit, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen!!! Grundlegendster und notwendigster “Egoismus” für ein wirklich rechtsstaatliches Gemeinwesen. Das nämlich war es, was vom Pankower “System” seinerzeit mit “staatsfeindlichem Individualismus”  wirklich gemeint war. An diesem Punkt haargenau sollte der “sozialistische Mensch” sich definieren. Und darum und nichts anderes geht es im Prinzip auch heute.

Steffen Leitgeb / 16.02.2022

Egoismus ist der Motor der echten Demokratie - warum? Man muss seine Interessen wirklich erkennen und dementsprechend wählen. Diejenigen, die sich heute medial und propagandistisch leiten lassen, wählen nicht mehr im eigenen Interesse! Letztlich müsste man sie unter Aufsicht stellen, da sie nicht für sich sorgen können und sich (womöglich) schaden ;-) Und genau das wollen die Propagandisten unserer Zeit ja auch. Die Leute wählen also ihren Vormund ... irgendwie passend ironisch. Aber Egoismus ist gesund und erhält die bürgerliche Freiheit. Und diese ist seit etwa 25 Jahren massiv unter Beschuss von NGOs, Philantropen, Politikern, Parteien und den üblichen Internationalsozialisten. Also ist man nur als Egoist unter den Kollektivierern und Vormündern ein echter Demokrat mit dem auch die Demokratie funktionieren würde.

Rainer Niersberger / 16.02.2022

Der Artikel duerfte im Wesentlichen zutreffend das menschliche Verhalten und die Motivlage wiedergeben. Deutlich wird dies bereits daran, dass hier sicher nicht wenige auf die Strasse gehen und bei der naechsten Wahl wieder exakt die (groessten) Freiheitsberauber waehlen. Es geht ihnen tatsaechlich nur um eine konkrete Maßnahme, womoeglich nicht einmal um die Maskenpflicht u. a., sondern eine andere, spezifische Betroffenheit. Da sie weder abstrahieren, zutreffend kausalieren, noch politisieren, wird sich nichts Grundlegendes aendern, was im Zweifel auch nicht gewollt ist. Die einen wollen mehr Partys, die anderen reisen und wieder andere etwas mehr Ruhe vor ihrem Nachwuchs. Alles verständlich, aber leider zu kurz gesprungen, denn das Politsystem und das Regime bleiben und solange die Macht bei bestimmten Taetern bleibt, werden allenfalls Narrative gewechselt oder “gelockert”, gerade soviel, wie noetig ist, um etwas Druck vom Kessel zu nehmen. Die menschliche Beduerfnisrangreihenfolge ist bekannt, die maßgeblichen Steuerungssysteme auch und gewisse psychokulturelle Entwicklungen haben daran nicht nur nichts in Richtung Kognition (“langsames Denken” nach Kahneman) verbessert, sondern diese “Anleitung” zum alleinigen,  politischen und sozialen Prinzip erklaert. Die Gruende dafuer koennten uns die Machthaber nennen. So, und durch das Fehlen wichtiger spiritueller Angebote, erklärt sich, dass Phaenomene in der Postmoderne ihre fröhlichen Urstaend feiern, die man eher in ganz anderen (heidnische) Zeiten verorten wuerde. Die neuen Schamanen, Prediger, Erlöser und Heilsversprecher “arbeiten” mit “Modellen” via PC. Dann muss es natuerlich stimmen. Man waehnte sich “zivilisatorisch” oder “geistig” schon mal weiter.  Die “alten” Mechanismen funktionieren fuer Regimes “besser” (man vergleiche nur Pest und Corona) denn je. Maslow laesst gruessen und Denken ist sowieso schlicht zu anstrengend. Es behindert ohnehin nur die minuetlich neu zu bestimmende Homoeostase.

Arne Ausländer / 16.02.2022

“Gemeinnutz geht vor Eigennutz” - wie hatte ich mich gewundert, als ich diese Worte als Schüler auf alten Münzen der 1930er Jahre las. Das paßte nicht zum Bild der Nazi-Zeit, wie es uns vermittelt wurde. Inzwischen weiß ich, daß dieser Spruch eine zentrale Losung der Nazis war, beschlossen auf Parteitagen der NSDAP. Und im Laufe der Jahre verstand ich auch, wie damals Menschen glauben konnten, es ginge um eine gute Sache. Parallelen zu heute sind umstritten. Aber die heutigen Propagandisten kopieren die Propaganda von Hitler, Stalin und Mao so originalgetreu, daß man sie Plagiatoren nennen sollte: aus Maos “Großem Sprung” wurde der “Great Reset”, wer Opfer der Cancer, nein Cancel Culture wird, darf sich keineswegs verteidigen, sondern muß sich für die absurdesten Anschuldigungen selbst kritisieren - Stalins “Kritik und Selbstkritik” in Reinform. Und wenn zum “Impfen” aus Solidarität aufgefordert wird, steht dahinter der Gedanke “Gemeinnutz geht vor Eigennutz”. Wie damals droht verbalem Unheil das physische zu folgen.—Das Problem ist ja: Wer stellt denn fest, welche persönlichen Opfer der Allgemeinheit guttäten. Denn es gibt ja tatsächlich Situationen, wo es angebracht ist, sich selbst zurückzustellen. Und es gibt engstirnigen, destruktiven Egoismus - der letztlich dem jeweiligen Menschen auch nicht nützt. Eine perfekte Lösung dafür kenne ich nicht, wohl aber eine Formel, die halbwegs tauglich ist: Die Priorität hat der Einzelne, denn auch die Gemeinschaft setzt sich aus Einzelnen zusammen. Ein abstraktes Gemeinwohl ist nicht real. Daher entscheidet der Einzelne darüber, ob er im Einzelfall seine persönlichen Interessen zurückstellt - oder nicht. Wo danach gelebt wird, pendelt sich meistens ein vernünftiges Gleichgewicht ein. (Wie m.E. in der DDR-Opposition der 1980er, die der Autor dann größtenteils verpaßt hatte. Seine legitime Entscheidung.)

Wernher Kaul / 16.02.2022

So wie damals die Montagsdemonstranten von der herrschenden SED-Elite beschimpft wurde, werden heute die friedlichen “Spaziergänger” beschimpft. Allen voran der geliebte Bundespräsident Frank “Spalter”, der mit seinen feinen Formulierungen alle verurteilt, die nicht die Meinung der Regierung (oder sollte ich sagen Blockflöten ?) teilen. Oder Herr Söder, der seine Meinung schneller wechselt als Frau Merkel? Mit der Freiheit ist es so, wie bei “Timm Thaler und dem verkauften Lachen”. Man lernt sie erst wieder zu schätzen, wenn man sie verloren hat.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Quentin Quencher / 01.03.2024 / 16:00 / 6

Das Lächeln der Elizabeth

Ein Lächeln sagt viel über eine Person aus. Das Lächeln von Kindern ist besonders vielsagend und einprägsam, es spiegelt im Idealfall Unbeschwertheit, Sorglosigkeit und Offenheit…/ mehr

Quentin Quencher / 04.10.2023 / 16:00 / 10

Warum ich kein Antisemit wurde

Warum bin ich kein Antisemit geworden? Natürlich ist es verführerisch, diese Frage unter Verwendung von viel Moral und Ethik zu beantworten. In Wahrheit verdanke ich…/ mehr

Quentin Quencher / 09.09.2023 / 14:00 / 5

Auf dem Dach

Gemeinsam ist allen Unwohlfühlräumen, egal ob im Elternhaus oder in der Schule, dass in ihnen irgendwer Macht über mich hatte. Dort gab es keine Geheimnisse zu…/ mehr

Quentin Quencher / 06.03.2023 / 14:00 / 14

Warum sich die Gesellschaft wie mein altes Auto verhalten sollte

Mir war mein Auto im Sinne einer Botschaft nie wichtig, doch mittlerweile beginne ich regelrecht, es zu lieben. „Danke, mein liebes Auto, dass du mich…/ mehr

Quentin Quencher / 04.02.2023 / 16:00 / 17

Der Spinnentöter

Ich war in einer Küche gelandet, die schreiende junge Frau – sie war wohl nur wenig älter als ich – stand mit dem Rücken an…/ mehr

Quentin Quencher / 03.02.2023 / 14:00 / 65

Die CDU, eine Opportunistenpartei

Friedrich Merz will, dass Hans-Georg Maaßen die CDU freiwillig verlässt. So wie es aussieht, wird Maaßen in der Partei um seinen Verbleib kämpfen. Aussicht auf…/ mehr

Quentin Quencher / 10.09.2022 / 16:00 / 12

Mäandernde Gedanken

Mir ist bewusst, dass meine Art zu denken, im Prinzip, bei den heutigen „Woken“ ist. Das Gefühl wird zur Wahrheit, belastbare und stabile Herleitungen, wie…/ mehr

Quentin Quencher / 25.08.2022 / 14:00 / 12

Über das Erntedankgefühl

Das Erntedankfest ist das Fest der Fleißigen, die sich über ihre eingebrachte Ernte freuen dürfen. Welches Erntedankfest will die Politik feiern? Etwa die Inflation, die…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com