In der alten Bundesrepublik gab es den Ausdruck vom „Raumschiff Bonn“. Völlig losgelöst von der restlichen Erde spielte sich die bundesrepublikanische Politik in jenem kleinen, beschaulichen Städtchen am Rhein ab. Abgeordnete, Minister und Hauptstadtjournalisten lebten in intimer Symbiose miteinander und verloren dabei aber allzu oft das Gespür dafür, dass es auch noch eine Welt jenseits des Bundesdorfes gab.
Mir fiel das Bild vom abgehobenen Raumschiff in den letzten Tagen wieder ein. Es beschreibt nämlich ziemlich gut, wie viel oder besser wie wenig Bodenhaftung Politik oft hat. Auch in Großbritannien lebt die Politikkaste in ihrer eigenen Welt, und wo es in der BRD ein Bundesdorf gab, heißt dies im UK schlicht „The Westminster Village“. Hier wird Politik gespielt, deren Verästelungen außerhalb von London SW1 kaum nachzuvollziehen sind.
Seit Mittwochabend lief die Maschinerie des Raumschiffs Westminster wieder einmal auf vollen Touren. Die Regierung hatte ihr neues Anti-Terror-Gesetz dem Parlament vorgelegt. Damit sollte die Inhaftierung Terrorverdächtiger für 42 Tage ermöglicht werden, ohne dass dafür eine formelle Anklage erforderlich wäre. Für Großbritannien bedeutete dies einen Bruch mit beinahe 800 Jahren Verfassungstradition. Seit der Magna Carta von 1215 hatte es im englischen Recht Garantien gegeben, dass Inhaftierungen nur durch richterlichen Beschluss möglich sind. Der Habeas Corpus Act von 1679 hatte diesen Schutz vor willkürlicher Verhaftung noch einmal bekräftigt.
Wer nun aber erwartet hätte, dass ein solch fundamentales Prinzip der englischen Rechtsordnung wenn überhaupt, dann nur nach ernsthafter und eingehender Beratung geändert werden könnte, der wurde enttäuscht. Bei den großen Parteien herrschte strikter Fraktionszwang: Labour wollte die Verlängerung der Untersuchungshaft auf 42 Tage, Konservative und Liberaldemokraten lehnten sie ab. Doch trotz des Fraktionszwangs gab es immer noch Abgeordnete der regierenden Labour-Partei, die aus Gewissensgründen die Zustimmung zum Gesetz verweigerten. Es waren so viele Parlamentarier, dass die Regierung von Premierminister Brown für eines ihrer zentralen innenpolitischen Projekte keine eigene Mehrheit mehr hatte.
Da Gordon Brown – nach diversen Pannen, Querelen und Wahlniederlagen ohnehin angeschlagen – dringend ein Erfolgserlebnis benötigte, kam für ihn ein Scheitern bei dieser Abstimmung nicht infrage. Er musste also Wege finden, sich eine parlamentarische Mehrheit zu sichern. Dabei war ihm jedes Mittel recht. Die nordirische Regionalpartei DUP wurde mit Fördermitteln von angeblich 200 Millionen Pfund für die Region gefügig gemacht. Zweifelnden Labour-Abgeordneten wurden Nachbesserungen an einem Sozialfonds für Bergarbeiter versprochen. Für die Parteilinke gab es die Aussicht auf eine Lockerung der Sanktionen gegen Kuba. Ein Labour-Rebell witzelte, er hätte auch den Bau von zwei Brücken über die Themse in seinem Wahlkreis verlangen können und hätte sie wohl gegen seine Stimme für das Gesetz bekommen.
Am Ende stand das Ergebnis, das Premierminister Brown erhofft und wohl auch erkauft hatte. Das uralte Habeas Corpus wurde bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, die 42 Tage währende Untersuchungshaft wird eingeführt. Es war ein knappes Abstimmungsergebnis im Parlament, aber der angeschlagene Regierungschef konnte nach langer Zeit wieder einmal einen Erfolg für sich verbuchen.
Ob die 42 Tage-Regel am Ende tatsächlich in Kraft treten wird, ist zweifelhaft. Vom House of Lords wird erwartet, dass es das Gesetz noch kippen wird. Doch selbst wenn es am Ende verabschiedet würde, könnte es immer noch gegen europäisches Recht verstoßen und damit unwirksam sein.
Doch auf solche vagen Hoffnungen wollte sich ein Abgeordneter nicht verlassen: David Davis, der innenpolitische Sprecher der oppositionellen Konservativen. Für Davis war mit dem parlamentarischen Geschachere um ein Justizgrundrecht das Fass zum Überlaufen gebracht. Seit Jahren beobachte er mit Sorge, sagte Davis, dass Großbritannien nach und nach seine überlieferten und bewährten Freiheitsrechte aufgebe. Da würden DNA-Dateien aufgebaut, die Einführung biometrischer Personalausweise vorbereitet und an jeder Ecke Überwachungskameras installiert. Die Aufgabe von Habeas Corpus nach einem beispiellosen parlamentarischen Prozess sei für ihn der Anlass gewesen, öffentlich gegen den schleichenden Verlust der bürgerlichen Freiheiten zu protestieren. Er werde daher sein Abgeordnetenmandat niederlegen und die Nachwahl mit dem Ziel bestreiten, die Regierung zu einer Art „Mini-Volksabstimmung“ über die Verteidigung urbritischer Verfassungsprinzipien herauszufordern. Von der Labour-Partei erwarte er, mit ihm in aller Öffentlichkeit über die englischen Grundrechte zu diskutieren, wenn dies im Parlament offenbar kaum noch möglich sei.
Außerhalb von Westminster wurde diese Handlung David Davis‘ überwiegend als mutig interpretiert. Indem er sein Mandat aufs Spiel setzt und seine politische Zukunft in der ersten Reihe der britischen Politik mit ziemlicher Sicherheit beendet, zeige Mr Davis, dass es ihm wirklich um die Sache und um seine Überzeugung geht. Wann hatte es das schon einmal gegeben: einen Politiker, der ohne jede Not seine Karriere wegen einer Sachfrage riskiert? Fernsehumfragen unter „Normal-Briten“ zeigten jedenfalls vor allem eine Reaktion auf David Davis’ Entscheidung: Respekt.
Nicht so im Raumschiff Westminster. Dort ging es vom ersten Moment an nur um die Frage, was Davis‘ Rücktritt im parteipolitischen Machtspiel bedeutete. Dass ein Spitzenpolitiker so etwas tatsächlich nur aus Gewissens- und Prinzipiengründen machen könnte, schien den Westminster Village People vollkommen undenkbar. Also wurde fleißig interpretiert. Davis sei doch nur auf dem Egotrip, er wolle endlich die Aufmerksamkeit erreichen, die er bislang vermisst hätte. Sein Rücktritt sei lediglich eine versteckte Herausforderung an seinen Parteichef.
Labour wiederum genoss die plötzliche Ablenkung von den eigenen Schwierigkeiten und behauptete fröhlich (wenn auch ohne jeden Anhaltspunkt), dass Davis aufgrund innerparteilicher Querelen zurückgetreten sei. Gleichzeitig bemühte man sich, seinen inhaltlichen Angriff auf die 42 Tage-Regel dadurch zu desavouieren, indem sich Labour weigerte, einen eigenen Kandidaten gegen Davis aufzustellen. So wollte man Davis die Möglichkeit nehmen, die Nachwahl zu einer Abstimmung über das Anti-Terror-Gesetz zu machen.
Wäre es dabei geblieben, so würde die Nachwahl in Davis’ Wahlkreis die wahrscheinlich langweiligste Nachwahl der britischen Geschichte. Da keine Partei einen Gegenkandidaten nominierte (Labour, weil sie sich nicht trauten; die Liberaldemokraten, weil sie Davis‘ Anliegen unterstützten), stände Davis als Sieger von vornherein fest. Aber dies wäre das Gegenteil der öffentlichen Debatte um die bürgerlichen Grundrechte, die er mit seinem Schritt eigentlich anstoßen wollte. Insofern kann Davis ausgerechnet dem Medienmogul Rupert Murdoch dankbar sein, denn dieser verspricht, den Wahlkampf doch noch etwas spannender zu machen.
Murdoch hatte stets eine harte Gangart im Anti-Terror-Kampf in seinen Zeitungen unterstützt – ohne Rücksicht auf irgendwelche bürgerliche Freiheiten. Wenig überraschend kritisierten Murdochs Zeitungen The Times und The Sun David Davis‘ Rücktritt mit ätzenden Worten. Murdoch selbst soll, wie man hört, den früheren Chefredakteur der Sun, Kelvin MacKenzie, überredet haben, sich als Gegenkandidat in Davis‘ Wahlkreis aufstellen zu lassen. MacKenzie begann seinen Wahlkampf prompt. Er habe mit den 42 Tagen Untersuchungshaft kein Problem – und er hätte es selbst mit 420 Tagen nicht, sagte er dem BBC Radio.
So dürfen wir einen Wahlkampf zwischen Mr Davis und dem Medien-Imperium von Rupert Murdoch erwarten. Letzterer hatte für die oppositionellen Konservativen ohnehin in letzter Zeit wenig Sympathien, so dass er die Gelegenheit nur zu gerne nutzen wird, die Nachwahl für seine eigenen politischen Ziele einzusetzen.
Halten wir fest: Da gibt es einen Abgeordneten, der aufgrund einer persönlichen Überzeugung einen für ihn unbequemen Schritt vollzieht. Doch ausnahmslos jede politische Seite kocht darauf ihre eigenen, parteipolitischen Süppchen. Die Murdoch-Zeitungen wiederum nutzen all dies, um Politik zu machen und ihre Auflagen zu steigern. Und um die Sache, ob es nämlich mit Großbritanniens Verfassungstraditionen vereinbar ist, Habeas Corpus einzuschränken, geht es in der Debatte so gut wie überhaupt nicht mehr.
Doch all dies sind Entwicklungen, die nur im Raumschiff Westminster diskutiert werden. Außerhalb des politischen Viertels der Hauptstadt bleibt vor allem ein Eindruck: Dass es wenigstens einen Abgeordneten gibt, der sich weder von Geld, Karriere noch Parteidisziplin gefangen nehmen ließ und – wenn auch auf ungewohnte Weise – gegen den schleichenden Verfall der britischen Kultur der Freiheit protestiert. Und es ist dieser David Davis, der damit vielen Briten als der Typ Parlamentarier erscheint, wie man ihn sich wünschen würde: Unabhängig, mutig und nur seinem Gewissen verpflichtet. Den Bewohnern des Westminster Village freilich erscheint er bestenfalls verrückt, eher jedoch wie ein egoistischer Selbstdarsteller.
So liegen zwischen dem Raumschiff Westminster und dem normalen Leben Welten. Aber dennoch – und gerade deshalb – wünsche ich mir, dass David Davis in seiner Nachwahl gegen Murdoch, Labour und den Rest des Establishments wieder zurück ins Parlament gewählt wird. Denn dort fehlen Abgeordnete wie er. Beam him up, Scotty.