In Spanien fliegen die Fetzen. Weil sich die „autonome“ Region Katalonien als eine unabhängige Republik konstituieren will, eröffnete Madrid am vergangenen Sonntag mit Gummigeschossen das Feuer auf die Abtrünnigen. Schon vorab hatte die Zentralregierung das Referendum, in dem sich die Katalanen für oder gegen die Loslösung entscheiden sollten, verboten und für „unrechtmäßig“ erklären lassen. Nachdem sich die Regionalregierung davon nicht einschüchtern ließ, wurden Hunderte von Wahllokalen polizeilich abgeriegelt, teilweise zerstört. Extra entsandte Sicherheitskräfte konfiszierten Wahlurnen und Wahlunterlagen.
Die 42,3 Prozent (2,26 von 5,3 Millionen Wahlberechtigten), die trotz allem abstimmten, votierten zu 92,3 Prozent für einen eigenen Weg ihres Landes in die Zukunft. Sie durften dabei von Glück sagen, wenn sie, zumal in Barcelona, davon kamen, ohne Prügel bezogen zu haben oder von einem Gummigeschoss getroffen worden zu sein. Am Ende des Tages gab es nahezu 900 Verletzte, darunter 33 Polizisten.
Und die EU, die Spanien zu ihrem „inner circle“ zählt, was tat sie danach? Sie duckte sich weg, drohte Rajoy vorsichtig mit dem Finger und ermahnte die katalanische Regierung, die spanische Verfassung in Ehren zu halten. Davon, dass er, wie von verschiedenen Seiten gefordert, als Vermittler zwischen den Fronten tätig werden könnte, sollte, vielleicht sogar müsste, wollte Jean Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, nichts wissen. Es handele sich um eine „innere Angelegenheit“ Spaniens, ließ er tags darauf über einen Sprecher ausrichten. Denn: „Unter der spanischen Verfassung war die gestrige Abstimmung nicht legal.“ Sollten die Katalanen es dennoch wagen, einen eigenen Staat auszurufen, würden sie sich „außerhalb der Europäischen Union wiederfinden“. Punktum; kein Grund, sich weiter mit dem Thema zu befassen.
In Brüssel gehen die Zugbrücken hoch
Sobald es um mehr geht als um die Begradigung der Gurken nach europäischen Gardemaß, werden in Brüssel die Zugbrücken hochgezogen. Das „Friedensprojekt Europa“ scheitert, wo sich eine ernsthafte Bedrohung des Friedens abzeichnet. Und wer wollte bestreiten, dass das in Spanien, in Katalonien eben, der Fall ist? Zu wenig spricht dafür, dass die Zerstrittenen wieder aufeinander zugehen könnten. Weder will Mariano Rajoy den Goldesel des Landes ziehen lassen noch gibt es Anzeichen für einen Canossa-Gang der selbstbewussten, wirtschaftlich prosperierenden Provinz. Schrieb doch die spanische Zeitung „El Mundo“, ein konservatives Blatt, bereits am Montag, die katalanische Regierung unter Carles Puigdemont werde „in wenigen Tagen die Unabhängigkeit“ proklamieren.
Was aber kann, was wird der spanische Regierungschef unternehmen, sollte es so weit kommen? Wird er klein beigeben? Oder wird er Katalonien kurzerhand besetzen? Wird er den „Separatisten“ den Guerillakrieg erklären wie Putin der Ukraine? Wird er die Provinz annektieren wie Putin die Krim? Alles ist möglich und das Schlimmste zu befürchten.
Jedenfalls hat sich abermals gezeigt, was schon beim Votum der Engländer für den Brexit offenbar wurde: Die Bürger sind es leid, nach der Pfeife irgendeiner Zentralregierung zu tanzen. Sie machen sich Hoffnung, wieder die Gestaltung ihres Lebens in einem politisch überschaubaren Rahmen selbst in die Hand nehmen zu können, gestützt auf ihre historisch gewachsene Identität, auf die kulturelle sowie auf die ethnische.
Das mag unter den Bedingungen einer globalisierten Welt nicht klug sein. Vielleicht stimmt sogar, was ihnen die Verfechter des Zentralismus, des spanischen wie des europäischen, vorhersagen, dass sie sich damit ins eigene Fleisch schneiden. Vielleicht stimmt das aber auch überhaupt nicht. Womöglich fürchten sich die Kassandra-Rufer nur vor dem Verlust der eigenen Vormachtstellung, dem Erstarken demokratischer Strukturen, die es ihnen nicht länger erlauben, auf den Willen der Völker zu pfeifen.
Berlin, Budapest, Prag, Barcelona
Denn nur in den größeren staatlichen Einheiten, die der einzelne nicht mehr zu überschauen vermag, erlangen die politischen Eliten unumschränkte Handlungsfreiheit. Nur da bedarf es ihrer, damit das Ganze nicht im Chaos versinkt. Deshalb hat Stalin ehedem die angrenzenden Länder Russlands in die Sowjetunion gezwungen, die Keimzelle eines kommunistischen Weltreiches, in dem dann jeder Versuch des Ausbruchs mit Panzern niedergewalzt wurde, 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 während des Prager Frühlings.
Nun ist Spanien keine Diktatur, Rajoy kein Stalin-Verschnitt, beileibe nicht. Diesen Vorwurf würde nicht einmal Wladimir Putin auf sich sitzen lassen. Da sei Gerhard Schröder vor. Allein dem Verdacht, nichts auf den Willen der Bürger zu geben, hat er sich ausgesetzt wie viele Politiker, die sich zur Führung berufen fühlen. Wie sonst sollte sich die Starrköpfigkeit erklären lassen, mit der der Ministerpräsident in Madrid den Katalanen über Jahre hin jegliches Entgegenkommen verweigerte, bis er gar nicht mehr auf den Gedanken kam, die erhobenen Forderungen ernst nehmen zu müssen.
Am Ende ist es immer die Hybris einer politischen Kaste, die die Demokratie auf den Kopf stellt. Dieser Elite gilt das Volk nicht mehr als Souverän, sondern als eine Masse, die es nach den jeweiligen Machtinteressen zu lenken gilt. Wer dagegen aufbegehrt, wird von heute auf morgen als „Separatist“ gebrandmarkt, verprügelt, seiner Meinungsfreiheit beraubt, mit Gummigeschossen vom Platz gefegt.
Volkes Wille kann Berge versetzen
Sicher, das Referendum der Katalanen war nicht durch die spanische Verfassung gedeckt, einerseits. Andererseits, wie hätte das möglich sein sollen. Ging es den Befürwortern der Unabhängigkeit doch gerade darum, sich aus dem Geltungsbereich dieser Verfassung zu verabschieden, um nicht weiter mit dem Gefühl als Untertan einer Zentralmacht leben zu müssen. Volkes Wille kann nun einmal, äußert er sich so massiv wie am letzten Sonntag in Katalonien, sogar Gesetze außer Kraft setzen.
Was von der Mehrheit als falsch empfunden wird, weil es der Demokratie nicht länger entspricht oder zu entsprechen scheint, hat keinen Anspruch auf ewige Gültigkeit. Auch in Leipzig, in Prag und in Bukarest handelten die Aufständischen nicht nach den verfügten Regeln, als sie 1989 auf die Straße gingen. Wo sich die Politiker hinter Paragraphen verschanzen, sind sie schon angezählt. Zum Schluß bleibt ihnen nur noch die Gewalt.
Das Recht zu achten, ist das eine, es zu nutzen, um die Opposition mundtot zu machen, ist etwas ganz anderes. Wozu das in Spanien führt, bleibt abzuwarten. Den Staatenlenkern Europas sollte es indes schon jetzt zu denken geben. Das katalanische Referendum geht sie mehr an als die Granden der EU bisher wahrhaben wollten. Wer nicht aus dem Sattel gestoßen werden will, tut gut daran, rechtzeitig vom hohen Roß abzusteigen, wieder mit den Leuten zu reden.
Weitere Achgut-Beiträge zum gleichen Thema:
Eine neue Mauer in Europa? Verteidigt Spanien! (1)
Der katalanische Wirtschaftsmythos – Verteidigt Spanien! (2)